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G. A. E. BOGENG * DIE GROSSEN BIBLIOPHILEN
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G. A. E. B O G E N G
DIE
GROSSEN BIBLIOPHILEN
GESCHICHTE DER BÜCHERSAMMLER
UND IHRER SAMMLUNGEN
/. BAND
LEIPZIG MCMXXII
VERLAG VON E. A. SE'EMANN
THE NEW yOHX
PUBLIC LIBRARY
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AST0R. LEt*#X AN©
iTlLDßN FOÜH BATIONS
Gopyrighl 1922 by E. A. SeemAnD, Lei|iug
Druck Ton Ernst Hediich Ntchfo^sr, G. m. b. iL, Leipng
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ERSTER BAND: DIE GESCHICHTE
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L ABENDLÄNDISCHE
BUCHHANDSCHRIFTENZEIT
Im Altertum waren Archive und Bibliotheken anfangs nicht unter-
schieden, weil der Begriff einer Bibliothek als der einer auf-
gestellten Buchersammlung, die Literatur ordnete, von dem einer
Literatur, als der Schrifttumsentwicklung, nicht zu trennen war.
Alltagsbedürfnissen diente die Anwendung einer Schrift zuerst; nach
und nach nur wurden die schriftlichen Aufzeichnungen zu Trägern
geistiger und seelischer Schöpfungen, die in einer Buchform ihre
dauerndere Verkörperung als Schrifttumswerke suchten. Die ägyp-
tischen Papyrusrollen in frühester Zeit waren Archive der Behörden,
vornehmlich der Steuerbehörden; sie bildeten die äußere Einrich-
tung der Bibliotheken vor, zumal da die äußere Form der Buch-
handschriften und Urkundenhandschriften sich nicht erheblich
unterschied. Vielleicht ist der ägyptische König Osymandyas,
von dem Diodorus Siculus [I, 49, 3] berichtet, er hätte, der älteste
benannte Bibliophile, seiner lepi ßiß^io&i^xiri die Aufschrift ifx^% laTpefov
gegeben, nur eine Sage. Aber Bedeutung und Bezeichnung der
Bibliothek, die aus dem Ägyptischen von den Griechen entlehnt
zu sein scheinen, haben höchstwahrscheinlich schon im Nillande
den Begriff einer Sammlung von Schriftwerken gewonnen, der
seit der hellenistischen Zeit allgemein üblich wurde und der sich
dann weiter auch auf die Buchtitel ausdehnte, die den Inbegriff
einer Schatzkammer des menschlichen Geistes mit einem einzigen
Worte nennen wollten. Doch bereits vor den Ägyptern und lange
vor den Griechen hatten andere morgenländische Völker Anlagen,
in denen ihre schriftlichen Aufzeichnungen bewahrt wurden. Ob
man mit den darüber erhaltenen Nachrichten und mit den diese
Archiv-Bibliotheken bezeugenden Resten, so mit den im Palast des
assyrischen Königs Assurbanipal [7. Jahrhundert v. Chr.] in
Ninive ausgegrabenen, in das British Museum gelangten, Keil-
«chrifttontäfelchen und mit den auf Kreta gemachten Tontafel-
funden, die, allerdings ohne daß sie bisher gelesen werden konnten,
die Bibliothek des Königs Minos genannt worden sind, auch den
BOOENO 1 1
ALTERTUM
Beginn der Bibliophiliegeschichte rechnen will, ist eine Frage, der
die Antwort zu finden der Phantasie überlassen bleiben muß. Reichen
doch auch die ersten Nachrichten über Altgriechenlands Bücher-
sammlungen kaum über einzelne Namen hinaus.
Allmählich erst war dem Altertum das Buch zu einem Kultur-
element und Kulturrepräsentanten geworden. Die Antike, auch im
Bereiche der klassischen Literatur, bedurfte für die Ausbreitung ihrer
Bildung weit weniger der Buchvermittlung als der des gesprochenen
Wortes. Von Anfang an wendeten sich die Dichter an die Hörer, nicht
an die Leser. , Selber die Muse lehrt sie den hohen Gesang und waltet
über die Sänger' (Homer). Der Notbehelf schriftlicher Aufzeichnungen
blieb jahrhundertelang nur ein solcher. Die Ausgestaltung des
Bühnenwesens, der Redekunst, des geselligen Vortrages, des wissen-
schaftlichen Zwiegespräches schuf die Formen einer Überlieferung,
die zum Schrifttum wurdgn, ol^ne daß deshalb die weitere Wir-
kung des Wortes aufgehört hätte. Und auch den Philosophen be*
wegten Zweifel, ob das Buch ein Geschenk der Götter sei. Man höre
Piatos Meinung: Durch Bücher werde, infolge der Vernachlässigung
des Gedächtnisses, in der Seele der Lernenden Vergessenheit her-
vorgerufen, da diese sich an die Schrift halten und sich mehr von
außen her durch fremde Zeichen als innerlich aus sich selbst erinnern
werden . . . Sie kommen so wohl zu Meinungen, aber nicht zur Wahr-
heit; denn vieles mögen sie aufnehmen und deshalb glauben, Viel-
wisser zu sein, während sie doch nichts gelernt hätten und Schein-
weise geworden seien, nicht Weise . . . Etwas Arges sei an Bild und
Schrift. Beider Hervorbringungen zeigten sich, als ob sie lebendig
wären. Frage man sie, so antworteten sie mit vornehmem Schwei-
gen . . . Sei das Wort niedergeschrieben, verbreite es sich überall
hin, unter die, die es verständen, ebenso wie unter die, an die es
nicht gerichtet wäre, und es habe dann keine Macht mehr darüber,
mit wem es sprechen wolle, mit wem nicht. Werde es mißbraucht
oder fälschlich gescholten, bedürfe es immer des Beistandes seines
Vaters, selbst sei es nicht fähig, sich zu wehren oder sich sonst zu
helfen. — Die Bedeutung des Buches und der Bücher, die das Ge-
dächtnis der Menschheit werden— in bibliothecis loquuntur de-
ALTERTUM
functorum immortales animae [Plinius maior] — erkannten nüch*
lernen, praktisch-realistischen Sinnes die Römer. Derart bezeich-
nete das Buch, die Bürgschaft menschlicher Unsterblichkeit, der
ältere Plinius [hist. nat. XIII. 70], den Papyrus einen Erhalter ins-
besondere der geschichtUchen Erinnerung nennend, so die Begriffe
Buch und Urkunde nicht mehr als etwas ganz und gar gleichartiges
verbindend. Derart erschien auch dem Diodorus Siculus das Auf-
bewahren des Aufgeschriebenen für den Menschen und die Menschheit
wichtig: „Wer wäre imstande, der Schreibkunst eine würdige Lob-
rede zu halten? Denn nur durch die Schrift erhalten sich die Toten
in dem Andenken der Lebenden und verkehren die Entfernten mit-
einander als ständen sie sich zur Seite. Nur das zuverlässige Zeugnis
des schriftUchen Wortes verbürgt den Bestand der im Krieg zwischen
Königen und Völkern geschlossenen Verträge. Nur die Schrift
allein bewahrt die köstlichen Ged§inkex\, der weisen Männer und die
Aussprüche der Götter, ja selbst alle Philosophie und Wissenschaft,
und übergibt sie immer von Jahrhundert zu Jahrhundert den kom-
menden Geschlechtern. Darum müssen wir wohl die Natur als die
Quelle unseres physischen Lebens anerkennen, aber als die Quelle
unseres edlen, unseres geistigen Lebens die Schrift." [Übersetzt von
L. Feuerbach.] In solchen Äußerungen von Autoren einer verhält*
nismäßig schon späteren Zeit läßt sich vielleicht am besten die
Stellung des antiken Menschen zum Buche erkenneif. Es war ein
Verständigungsmittel, ein geistiges Werkzeug geworden, das Raum
und Zeit überwinden ließ. Aber es blieb doch immer nur ein Ersatz
für den persönlichen Verkehr. Nirgends begegnet, selbst bei den
begeistersten alten Lobrednern des Buches, ein Ausspruch wie der
eines modernen Philosophen, der ihren Verfassern deren Werke
vorzieht, weil sie allein in diesen ihr bestes geleistet hätten, die
Früchte ihrer Lebensarbeit ihm anvertraut hätten, die höchsten
Leistungen ihrer Persönlichkeit. Das erst gibt dem Umgang mit
Büchern seine Vollendung, daß ein kurzes Menschenleben, aus-
genutzt, ausreicht, sich mit den größten Menschen aller Völker und
Zeiten, soweit sie Schrifttumswerke hinterließen, unterhalten zu
können. Dem Altertum war der Begriff des Buches weit weniger
ALTEBTUM
eng mit dem des Schrifttums verwachsen, weil beides, Buch und
Schrifttum in ihrem Gegenwartssinne, in ihm sich erst langsam aus-
bildeten.
Als ein Mittel der Politik zeigten sich die Anfänge griechi-
scher Bibliophilie und Bibliotheken. Ausbreitung der geistigen
Hegemonie, Glanz der Hofhaltung, Nationalbewußtsein mochten das
Bedürfnis der Tyrannen nach eigenen Büchersammlungen, die zu
Mittelpunkten geistigen Lebens wurden, geweckt haben. [Und die
Entwicklungsrichtung führte von diesem Ausgangspunkte weiter;
bis in die Neuzeit entstanden die großen Büchersammlungen zuerst
in den großen absolutistischen Monarchien, nicht in den Demo-
kratien.] Polykrates von Samos [Athenaeus I, 3 A] und der athe-
nische Herrscher Peisistratos [Gellius N. A. VII, 17; Isidor.VI, 3, 3]
sollen über BibUotheken verfügt haben. Die Verdienste, die sich
Peisistratos um das griechische Schrifttum erwarb, indem er die
epischen Dichtungen sammeln und damit vor der Rhapsodenwillkür
sichern ließ — auch die Herstellung eines Homertextes wird ihm
zugeschrieben — ließen ihn, mit seinen Söhnen Hippias und Hip-
parchos, die Begründung von Athens geistiger Vorherrschaft durch
Buchpflege gewinnen. Die Bedeutung seiner Büchersammlung er-
weist ihr Schicksal, sie soll von Xerxes nach Persien entführt, von
Seleukos Nikanor den Athenern zurückgegeben sein. Doch hat
sie nach der Pisistratidenzeit in der aufblühenden literarischen Pro-
duktion kaum noch ihren Rang einer beispielgebenden Sammel-
stelle behalten. Die literarischen Interessen vervielfachten sich in
dem unter atheniensischer Führung sich gestaltenden geistigen
Weltkampf der hellenischen Staaten; und im fünften Jahrhundert
V. Chr. war bereits der Buchhandel zu einem Geschäftszweig, die
Auslese der Bücher, die Bücherwahl des einzelnen, zu einer Ver-
feinerung der Sammlung aller vorhandenen Werke geworden. Die
Literaturkritik, schon vor Piaton sich regend, begann die festeren
wissenschaftlichen Formen einer Philosophie anzunehmen. Ja dieser
Philosoph selbst gilt manchen als derjenige Grieche, der als erster
griechische Handschriften planmäßig gesammelt hat. Indessen wird
der Anspruch des Aristoteles, der die Betriebsverfahren der Wissen-
ALTERTUM
Schäften konzentrierte und organisierte, auf den Ruhm begründeter
sein, zuerst mit bibliographischer Methodik in Griechenland eine
Handschriftensammlung zusammengestellt zu haben. Der Poly-
graph, der Polyhistor brauchte nicht allein die Bücher für die Ver-
folgung der von ihm bestimmten Zwecke. Ihm konnte auch ein um-
fangreicher Büchervorrat nicht genügen, wenn dessen Art, wenn
die Benutzung der aufgestellten Sammlung nicht seiner Systematik
entsprach. Und wie er den Bereich der eigenen Schriften über das
ganze Gebiet der Wissenschaften ausdehnte, so wird ihm die Biblio-
thek zur Enzyklopädie geworden sein. Die Anregungen, die auch
von seiner Bibliothekstechnik ausgingen, sind in den Einzelheiten
unbekannt. Es bleibt nur zu vermuten, was und wieviel die groß-
artigen Unternehmungen der Ptolemäer ihnen verdankten. Daß
er selbst von den Ägyptern gelernt hat, Bücher als Büchersammlung
zu verwenden, ist bei einem Denker, der die Vergleichungen hebte,
wahrscheinlich. Er war die Persönlichkeit, in der sich die alten,
orientalischen Traditionen mit den seinen Namen tragenden neuen
verbanden. Auch in dieser Beziehung ist Aristoteles im guten oder
im schlechten vielen kommenden Jahrhunderten Vorbild geworden.
Aristoteles, der Bibliognost, der Bibliophile, der Bibliothekar war ein
Bibliothekenschöpfer von so weitreichender Wirkung, daß an ihr
gemessen die [von Strabon im 13. Teile seiner Geographie erzählte]
Geschichte der Aristotelesbibliothek gleichgültig wird, obschon
diese Büchersammlung lange noch erhalten wurde. Ihr Erbe war
der Nachfolger in der Leitupg der von Aristoteles begründeten
Philosophenschule, Theophrast [Diogenes Laertios V, 52], der
sie vermehrt dem Neleus hinterließ. Dieser verkaufte die Biblio-
thek selbst nach Alexandreia an die Ptolemäer, die Aristoteles- und
Theophrast-Originale nahm er in seine Heimat nach Skepsis in
Troas mit und hier wurden die unersetzlichen Werke von seinen
Erben, denen ihr Wert unverständlich war, vergraben, um den
Schatz vor der Büchergier der Attaliden in Pergamon zu wahren.
Um 90/100 V. Chr. verkauften die Nachkommen des Neleus die
Bibliothek dem Apellikon von Teos, einem Büchersammler, der
nicht allein über reiche Mittel verfügte, sondern sich auch auf die
ALTERTUM
Behandlung der durch Feuchtigkeit und Wurmfraß stark heschädig-
ten Buchrollen verstand oder dafür doch die Sachkundigen heran-
zuziehen wußte ; ein Umstand, der auf die Ausbildung einer besonde-
ren Bibliatrik unter den Buchbinderkunstfertigkeiten schließen läßt.
Jedenfalls kam die Aristotelesbibliothek im Besitze dieses Biblio-
philen wieder in Ordnung. Aus seiner und des Anakreon lydischen
Vaterstadt nach Athen gekommen und hier Bürger geworden,
nutzte er seine wissenschatflichen Beziehungen, er war Peripatetiker,
mehr wohl noch die des Finanzmannes, er war auch zweimal erster
Münzmeister von Athen, um eine seiner Bücherlust würdige Bücher-
sammlung zusammenzubringen. Das war damals am Ende des
zweiten Jahrhunderts v. Chr., also in einer Zeit, in der die politische
Geltung der griechischen großen Stadtstaaten vorüber war und die
Bücherleidenschaft hellenistische Fürstenhöfe verfeindete, ein Wag-
nis, das nur jemand auf sich nehmen konnte, der der Machtentfal-
tung seines Geldes vertraute. Ihm verdankte auch ApelUkon die
Erfolge, die ihm zuteil wurden. Er war, wie die seit dem achtzehnten
ahrhundert sich von Frankreich über England nach den Vereinigten
Staaten von Amerika fortsetzenden Qualitäts-Quantitätssammler,
ein Aufkäufer im großen, ein Mann, dem das Sammeln zum Sport
wurde. Oder, wie das damals noch, als die Büchernutzung fast aus-
schUeßlich nach wissenschaftlicher Zweckarbeit strebte, sein Biograph
Strabon [XIII 1, 54] ausdrückte: ^^v 5k tpiXößißXog fifiX^ov 1^ (piXöoo^og, mehr
ein Bücher- als ein Weisheitsfreund. Aber er vertraute doch seinem
Golde zu viel. Die Diebstähle in den, kleineren griechischen Stadt-
archivbibliotheken hatte er mit dessen Hilfe wieder gut machen
können. Als ihn jedoch der mit solchen Erfahrungen gestärke Mut
seiner Bücherraubsucht antrieb, aus dem atheniensischen Heiligtum
der Göttermutter, dem Metroon, die alten Urkunden der Volks -
beschlüsse zu entwenden, zwang ihn die Entdeckung seiner Untat,
die er vielleicht selbst herbeiführte, weil er ohne den BibUophilen-
neid seiner Mitsammler nicht leben mochte, zur eiligen Flucht vor
der ihn bedrohenden Todesstrafe, einer Flucht, die sich ihm in aus-
gedehnte Bücherreisen wandelte. Auf ihnen entdeckte er den Ari-
ßtoteles-Theophrast-Nachlaß in seinem Versteck und rettete mit ihm
ALTERTUM
eine Reihe schon unbekannt gewordener Werke der beiden Philo-
sophen. Apellikon, dem die griechischen Unruhen die Rückkehr
nach Athen zu seiner berühmten alten Iliashandschrift und den
vielen anderen seiner Cimelien ermöglicht hatten, begnügte sich
nicht damit, durch Ausbesserungen die Werke des Stagiriten wieder-
herzustellen. Er begann selbst die fehlenden Stellen zu ergänzen, so
wenig galt damals noch bei einem Manne, der die authentischen
Texte in seiner Büchersammlung vereinen wollte, die feste Grenze
zwischen Interpolation und Restitution. Bedarf es eines besseren
Beispieles dafür, daß die alexandrinischen Bemühungen um den
überlieferten Wortlaut nicht überflüssig waren? Apellikon hatte
in Athen sich dem Athenion angeschlossen, der, Peripatetiker wie
er, ein großes Vermögen als volkstümlicher Wanderredner sich er-
worben hatte und nun, von dem König Mithridates VI. von Pontus
als Stadttyrann eingesetzt oder doch gehalten, ohne allzu große
Bedenklichkeiten die Nachkommen stolzester Bürger regierte. Von
ihm erhielt Apellikon den ihm jedenfalls nicht unerwünschten
Auftrag einer Brandschatzung des Tempels in Delos. Aber der aus-
gezeichnete Bankier bewährte sich nicht als Feldherr, er wurde von
den Römern unter Orbius geschlagen und kaum konnte er selbst
nach Athen zurückflüchten, wo er während der Belagerung der Stadt
durch Sulla [86 v. Chr.] inmitten seines Bücherschatzes starb. Als
Beute Sullas gelangte die Apellikon - BibUothek nach Rom. Hier
wurde sie von dem Lehrer Strabons, Tyrannion d. Ä., aufgestellt.
Ihre Benutzung, dank der dem Andronikos von Rhodos die Wieder-
herstellung der in ihr geborgenen Aristotelesschriften gelang, ver-
schaffte auch den Buchhändlern Roms die Gelegenheit, die Über-
lieferung klassischer Werke nach den echten Handschriften bei
ihren Vervielfältigungen zu verwerten. Freilich eine Gelegenheit,
die sie nicht gerade sorgfältig wahrnahmen. Denn die Abschriften,
die sie herstellen ließen, waren allzuoft nachlässig. Aber nicht
darin allein, daß die Aristotelesbibliothek ein Bindeglied literari-
scher Tradition geworden ist, liegt die Bedeutung ihres Begründers
für die Bibliophilen späterer Jahrhunderte, sondern vor allem darin,
daß die von ihm bestinmiten Denkrichtungen, das von ihm ge-
ALTERTUM
schaffene Gefüge der Wissenschaften grundlegend wurde für die
Bibliothekssystematik weit über die Epochen mittelalterlicher Scho-
lastik hinaus.
Als die Blüte der hellenischen Nationalliteratur mit der der
hellenischen Nationalpolitik zu verwelken begann, in einer Zeit,
in der die griechische Kultur sich über den ganzen Umfang des
von Alexander erträumten Weltreiches, das nach seinem Tode in die
hellenistischen Staaten zerfiel, verbreitet hatte, das Griechische Welt-
sprache wurde, ging auch das von des großen Königs großem Lehrer
noch allein beherrschte Reich der universalen Wissenschaft in Trüm-
mer. Aus den einzelnen Wissenschaften entwickelten sich Fach-
wissenschaften, die eine enzyklopädische Bildung verband, deren
Zentren die neuen Großstädte im Osten wurden. Die Enzyklopä-
disten dieser Epoche, die sogenannten Grammatiker, d. h. die Kri-
tiker, Literaten, Philologen, traten an die Stelle der Philosophen und
der Poeten, Fleiß und Gelehrsamkeit an die des Genies. Und da die
Wechselbeziehungen zwischen dem Leben und der Literatur auf-
hörten, begann ein Erstarren im Formenwesen, die Kritik artete in
die Krittelei, die Kunst in die Künstelei aus. Das alexandrinische
Zeitalter, in dem die literarhistorische Aufnahme des Bestandes der
klassischen griechischen Literatur sich vollzog, wurde zum Beispiel
einer Epoche, in der das Buch dem Werk, dem es dienen soll, voran-
gestellt wird. Allerdings auch zu einem von der undankbaren Nach-
welt verkannten Beispiel. Denn auf des Alexandrinertums Ver-
diensten beruhte die Erhaltung des griechischen Schrifttums, be-
ruhte der Humanismus, in dem sich Antike und Moderne ver-
banden. Die ägyptische Stadt Alexandreia, die Lieblingsgründung
Alexanders des Großen, die die geistige und politische Hauptstadt
seines sich über den Osten ausdehnenden neugriechischen Reiches
werden sollte, war durch ihre Lage der Mittelpunkt damaligen Welt-
verkehrs; ein Ort, an dem okzidentalische und orientalische Geistes-
strömungen zusammenflössen. Sie wurde die neue Pflegestätte
griechischer Künste und Wissenschaften, die beherrschende Literatur-
zentrale. Das Hauptverdienst hieran hatte das Mäzenatentum der
Ptolemäer, das in ihrer Stadt die größte öffentliche Büchersamm-
8
ALTERTUM
lung des Altertums entstehen ließ. Bereits der Gründer dieser ägyp-
tischen Königsdynastie, Ptolemaios Lagi, besaß eine Bücher-
sammlung. Doch erst Ptolemaios I. Soter [323—284/82] und vor
allem sein Sohn Ptolemaios II. Philadelphos [283—247 v. Chr.]
wurden die Stifter der alexandrinischen Bibliotheksanlagen, deren
hervorragende Bibliothekare die bibliographisch -philologische Ko-
difikation der griechischen Literatur vollendeten, in der deren Über-
lieferung fortan wurzelte. Hier entstanden die ersten auf Kritik und
Hermeneutik beruhenden Textrezensionen, die seit den Editiones
principes der Wiegendruckzeit in den Büchersammlungen euro-
päischer moderner Zivilisationen die antike Literatur repräsentieren.
Der Phalereer Demetrios, ein Aristotelesschüler, der zehn Jahre
lang [bis 307 v. Chr.] in Athen unter makedonischer Oberherrschaft
regiert und im Jahre 297 v. Chr. in Ägypten Aufnahme und Schutz
gefunden hatte, hatte für Ptolemaios I. Soter 50000 Buchrollen zu-
sammengebracht, die zum Grundstock der von Ptolemaios Phila-
delphos nach seinem Rat errichteten Bibliotheken wurden, die sich
an das in dessen Residenz Alexandreia erbaute Museion anschlössen.
Eine gelehrte Gesellschaft nach dem Muster der peripatetischen
Schule zu Athen, eine Anstalt, die Akademie der Wissenschaften,
Forschungsinstitut, Universität nach heutigem Sprachgebrauch in
sich vereinigte, gab den inneren Zusammenhang des Ganzen; die Be-
rufungen in ihre Mitgliederzahl erregten Aufsehen und Neid, wie ihn
die höhnenden Verse des Timon von Phlios bezeugen: „Viele werden
gefüttert im völkerreichen Ägypten, traurige Bücherschmierer, die
unaufhörlich verzankt sind, in dem Gehege der Musen.'* [Über-
setzung von A. Gercke.] Die eigentliche Bibliothek des Museion
wurde die in seiner Nähe, in einem an den königlichen Palast an-
stoßenden Gebäude im Quartier Brucheion, aufgestellte Bücher-
sammlung, die die gesamte ägyptische, griechische, orientalische,
römische Literatur aufnehmen sollte, die vollständige Weltliteratur-
sammlung, wie sie sich Demetrios Phalereos wünschte. Die kleinere,
zweite Bibliothek befand sich im Serapeion, das im Quartier Rhakotis
lag; sie war, aus den Dubletten der großen Bibliothek vermehrt, be-
sonders den Unterrichtszwecken dienstbar, die Universitätsbiblio-
9
ALTERTÜ M
thek neben der Zentralbibliothek. Das Bestreben des königlichen
Buchgönners war es, möglichst die alten, echten Originale selbst zu
erreichen. Er ließ abschreiben, begünstigt durch den neuen Be-
schreibestoff, den die Papyrusstaude lieferte, und aufkaufen, was er
erreichen konnte. Der Sammeleifer, der ihn trieb, verschmähte auch
nicht die Zwangsmaßregeln, die er durchsetzen konnte. Ein beliebtes
Mittel war es, die Originale zu entleihen und statt ihrer Kopien zurück-
zugeben. Die Schiffe, die im Hafen von Alexandreia ankerten, wurden
nach ihrem Büchergut durchsucht, um, wenn sich in ihm alte Stücke
fanden, deren Tausch gegen neue zu vollziehen. Die von den Athe-
nern, die sie notgedrungen hergeben mußten, gegen ein Pfand von
15 Talenten entliehenen Staatsexemplare der drei Tragiker gab der
König Ptolemaios Euergetes ebenfalls nicht zurück. Er überließ den
Athenern die Pfandsumme und das Begnügen mit den drei nach ihren
Originalen angefertigen Buchabschriften. Da häuften sich dann die
Cimelienreihen wie in dem Rollenschatz der in den entlegensten Orten
aufgespürten Homerhandschriften. Deshalb blieben jedoch die namen-
und ruhmlosen Schriften nicht unbeachtet. Auch sie, die im Buch-
handel nicht verbreitet waren, deren Vervielfältigungen, wie die
Nachschriften von Vorlesungen und Vorträgen, überhaupt nicht in
den Handel gelangten, fanden in Alexandreia Beachtung und Platz.
Dem methodischen Sammeln entsprach das methodische Sichten.
Der Begründer der Homerkritik, Zenodotos aus Ephesos, ein
Schüler des ersten Vorstandes der alexandrinischen Bibliothek, des
dichtenden Gelehrten Philitas aus Kos, der die unverständlichen
Worte [Glossen] alter Dichtungen zu erforschen sich bemüht hatte,
Alexander aus Pleuron in Aitolien und Lykophron aus Chalkis
besorgten die Vorarbeiten für die kritische Revision der Texte der
epischen, tragischen, komischen Dichtungen. Um 270/40 vollendete
man unter des Kallimachos aus Kyrene Teilnahme, der, ein Freund
Theokrits, ihn bei den Zeitgenossen an Dichterruhm überragte,
dessen größeres Verdienst aber doch wohl seine bibliographischen
Leistungen waren, die Aufnahme der Bestände, deren Zählung etwa
42800 Rollen in der Serapistempelbibliothek und 400000 gebündelte
Mischrollen, 90000 einfache Rollen in der großen Bibliothek ergab;
10
ALTERTUM
eine Zahl, die mit der Dubletteneinrechnung bis auf 700000 Rollen
gestiegen sein soll. Die Herausgabe des Kataloges [IlCvoexeg] machte
es dem Aristophanes aus Byzanz [f um 180 v. Chr.], einem Kalli-
machosschüler, möglich, aus der Übersicht, die das Verzeichnis bot,
in grundlegenden Untersuchungen eine ästhetisch-kritisch-Kterar-
historische Ordnung des griechischen Schrifttums vorzunehmen. Die
Dichter, deren gesammelte Werke, deren gesamter handschriftlicher
Nachlaß in Alexandreia zusammengestellt waren, wurden nach der
Art ihrer Dichtungen in Klassen getrennt und die hervorragendsten
von ihnen unter Ausschluß der noch lebenden zu besonderen Grup-
pen vereinigt. Die besten Bücher galten von nun an als die
Grundlage, als der Kanon literarischer Bildung. So entstand aus
dem kanonischen Ansehen, das bestimmte Dichter und Dichtungen
fortan genossen, der Begriff des Klassikers und mit ihm für die
Nachwelt der des klassischen Altertums. Den bibliographisch-
literarhistorischen Arbeiten der alexandrinischen Bibliothekswissen-
schaft mußte sich notwendigerweise die Dichtungserklärung und
Textbearbeitung verbinden. Sie wandte sich zunächst auf Homer,
den Klassiker xaV lE/oyfyf. Aus der Beschäftigung mit ihm erwuchs
die Philologie, der Dienst am Wort, die Gelehrsamkeit der Schrift-
tumsüberlieferung. Die Fassungen der Homertexte wurden ver-
glichen, Auslassungen ergänzt, Berichtigungen vorgenommen. Das
führte auf linguistische, metrische und andere Untersuchungen.
Die Auffassung und Erläuterung eines Schriftwerkes gestaltete sich
zu einer wissenschaftlichen Aufgabe, deren Lösung die Kommentare
unternahmen, von denen die Vorlesungen ausgingen. Alle Einzel-
leistungen faßte die Homerphilologie in den großen kritischen Text-
ausgaben zusammen, die von Zenodotos, Aristophanes und von dem
hervorragendsten Philologen des klassischen Altertums, Aristar-
chos aus Samothrake [t 145 v. Chr.], bearbeitet wurden. Von seiner
in je 24 Bücher eingeteilten, mit kritischen Zeichen erläuterten
Edition der Ilias und Odyssee erschien eine zweite verbesserte Auf-
lage, die weiterhin die maßgebende blieb. Die kritischen Ausgaben
erhielten ihre Benutzer nach den Ergebnissen der Forschung auf der
Höhe der Wissenschaft. Randschriften und sonstige Vermerke
11
ALTERTUM
fügten in kurzer, sich hierfür ausbildender Schreibweise, die zu einer
Editionstechnik wurde, allerlei Anmerkungen hinzu. Es entstanden
immer neue Ausgaben, von denen besonders diejenigen gesucht
wurden, deren anmerkende Erklärungen [Scholien] die Interpretation
den Lernenden und Lesenden erleichterten. Allmählich dehnte sich
der Kreis der derart erklärten und herausgegebenen Texte immer
weiter. Die Dramatiker, deren Metrik der Rezitation Schwierig-
keiten machte, die Prosaiker, deren Schriftmassen eine eingehendere
Gliederung verlangten, bedingten eine gesteigerte Sorgfalt. Die
diakritischen Zeichen, die Unterscheidungszeichen für die richtige
Aussprache der Wörter sowie zur Vermittlung des Verständnisses,
vor allem die Interpunktionszeichen, wurden ausgebildet, die mit
Buchstaben gesetzten Zahlzeichen wurden zu einem, allerdings ohne
Null bleibenden, dekadischen System. Damit hatte sich die Ent-
wicklung zum Buche im europäischen Gegenwartssinne vollzogen,
die innere Buchform eines Literaturwerkes erschien in einer ge-
festigten Tradition, deren Art zu beachten auch die neueren Schrift-
steller sich bemühten. Der äußeren Buchform war mit der Ent-
wicklung ihrer Ausstattung und gleichmäßigen Herstellungsweise
durch die Bedeutung der kritischen Rezensionen für den authenti-
schen Text auch die eines unterscheidenden Ausgabenwertes ge-
funden. Es gab nun nicht lediglich gute und schlechte, schöne und
unschöne Bücher, es gab jetzt auch sich unterscheidende gute und
schlechte Ausgaben, deren Werte die Kenner und Liebhaber zu
schätzen verstanden. Man war aus der archivalischen Epoche des
Aufbewahrens in die bibliothekarische des Ordnens gekommen.
Bibliographie und Literarhistorie übten ihren Einfluß auf Buch-
gewerbe und Buchhandel. Der Buchfreund aber, der Bücher sam-
melte, wählte nun die besten Bücher in ihren besten und schönsten
Ausgaben. Daß die alexandrinische Bibliothek nicht als ein dauern-
des Denkmal antiker Kultur erhalten blieb, gehört zu den großen
Schicksalsschlägen in der Geschichte der Menschheit. Es ist, als ob
die Ptolemäer in ihr von überallher die Reste der Vergangenheit ge-
borgen hätten, um den kostbarsten Scheiterhaufen aufzubauen, der
jemals errichtet worden ist. Nachdem die Hauptbibliothek im Mu-
12
ALTEKTUM
seion schon mehrfach durch Brände verwüstet war, verbrannte sie
im Jahre 47 bei den Straßenkämpfen, die unter JuUus Cäsar gegen die
Ägypter in Alexandreia geführt wurden. Allerdings soll Antonius
der Kleopatra zum Ersatz die 200000 Bände der Bibliothek in
Pergamon geschenkt haben und diese dürfte dann mit den Über-
resten der alten Bibliotheken untergegangen sein, als unter Aurelian
eine Feuersbrunst den größten Teil des Bibliotheksstadtviertels
eingeäschert hatte. Erhalten blieb als ein Hauptsitz griechisch-
römischer Gelehrsamkeit und Schrifttumsüberlieferung allein die
kleine Bibliothek im Serapistempel bis auf die Zeiten Theodosius
des Großen. Sie wurde im Jahre 390 n. Chr. von über die Serapis-
feier aufgebrachten Christen unter Führung des Patriarchen Theo-
philos von Antiocheia verheert und nicht erst bei der Eroberung
von Alexandreia durch die Araber unter Omar 640 n. Chr. zerstört.
Andere Königshöfe waren bald dem Beispiel der Ptolemäer
gefolgt. In Antiochien waren es die Seleuziden, in Pergamon
die Attaliden, die in ihren Hauptstädten Musensitze errichteten.
Eumenes I. und sein Nachfolger Attalos begründeten die Perga-
menische Bibliothek, für die Eumenes II. [197—159 v. Chr.] in
der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts auf der Burg im Nord-
westen des Athenatempels einen Prachtbau ausführen ließ [Strabon
13, 4, 2]. Unterstützt von Krates aus Mallos in Kilikien und
Athenodoros trat er mit Alexandreia in einen Wettbewerb, dessen
Formen nicht immer friedlich blieben. Als ein Ptolemäer [Phy-
skon] ein Ausfuhrverbot für den ägyptischen Papyros erließ, um
die Pergamenische Bibliothek von der Buchstoff zufuhr abzuschnei-
den, begann man in dieser, Beschreibstoffe aus Tierhäuten herzu-
stellen und erfand das Pergamen[t].
Neben den beiden berühmtesten Bibliotheksanlagen der helle-
nistischen Zeit werden auch sonst in den griechischen Städten größere
oder kleinere Büchersammlungen vorhanden gewesen sein. Die Nach-
richten, die über sie erhalten blieben, finden sich zumeist in den
Berichten über Kriegsbeute, die in die entstehende Hauptstadt des
Imperium Romanum gelangten; im Verlaufe einer Entwicklung, die
einen Vergleich mit dem ähnlichen Verhältnisse zwischen Europa
13
ALTERTUM
und den Vereinigten Staaten von Amerika im zwanzigsten Jahr-
hundert nahelegt. So brachte Aemilius Paulus [168 v. Chr.]
nach der Besiegung des Perseus die Bibliothek der mazedonischen
Könige nach Rom [Isidor, Orig.VI, 5, 1], während die bei der Einnahme
Karthagos dort gefundenen Büchersammlungen von den Römern
unter die einheimischen Fürsten verteilt wurden, [Plinius, Nat. bist.
XVIII, 5, 22]. Italiens Latinisierung war durch Siege und Gesetzgebung
im letzten Jahrhundert vor Christi Geburt von den Römern erreicht
worden; die lateinische Sprache, eine Komandosprache für Feld*
herren, eine Dekretalsprache für Administratoren, eine Lapidar-
sprache für das steinharte Römervolk, als welche sie Heinrich Heine
kennzeichnete, bürgerte sich auch in den italienischen Landstädten
ein, um dann die Verkehrssprache des Weltreiches zu werden und
noch viele Jahrhunderte nach dessen Untergang Literaturwelt-
sprache zu bleiben. Die Tiberstadt aber wurde zur Kosmopolis, für
deren geistiges Leben nach der Unterwerfung Griechenlands der
Hellenismus bestimmende Bedeutung gewann. Die Verschmelzung
der hellenischen mit der römischen B Idung vollzog sich aber nicht
nur durch Austausch und Wechselwirkung der Kulturideen; mit den
Vermittlern der hohen Werte griechischer Kultur kamen auch deren
Zeugen, Kunstwerke und Schriftrollen, in ungeheuerer Zahl nach
Rom, die als Einzelstücke, häufiger noch als ganze große Samm-
lungen hierher überführt wurden. Das rasch reichgewordene Rom
kaufte die Bildung Griechenlands mit allem ihrem Zubehör auf.
Und ihre Abhängigkeit von der griechischen Bildung ging der römi-
sehen nie verloren, mochte auch die edle Auffassung sie bestimmen,
die etwa Horatius vertrat: Du darfst uns reichen Hellas Edelsteine,
Doch sei die Fassung immerdar die Deine, Willst du in Wahrheit
treuer Dolmetsch sein, Mußt Du zuerst vom Wortdienst Dich be-
frein. [Übersetzt von C. Bardt.] Wie die Anfänge des römischen
Schrifttums in griechischen Werken bestanden, wie die Anlehnungen
an die griechischen Muster und die Übersetzungen oder Umarbei-
tungen griechischer Vorbilder in der lateinischen Literatur nicht auf-
hörten, so blieb auch dieser literarische Philhellenismus für die
römischen Buchfreunde maßgebend, deren Büchersammlungen vor-
14
ALTERTUM
wiegend griechische waren, die das lateinische Schrifttum mehr aus
Nationalstolz pflegten als aus der Überzeugung seines für die Privat-
bibliothek eines Römers höheren Wertes. Die Bibliophilen, die auch
die lateinischen Originale schätzten, blieben in der Minderzahl; die
Bevorzugung des Griechischen zeigte sich ebenso im Buchgewerbe,
soweit es sich mit seinen Erzeugnissen an die Liebhaber wendete.
Nicht allein die Erbin der Bücher Griechenlands, auch die seiner
Buchgelehrsamkeit wurde Rom, nachdem in Alexandreia der Autokrat
Ptolemaios Physkon, in Pergamon der Tod des III., letzten,
Attalos [t 133 V. Chr.] den Betrieb der Buchpflegestätten auf-
gehalten hatte. Krates, der in Pergamon den Alexandrinern auch
darin widerstrebte, daß er der grammatisch-philologischen Inter-
pretation das sachliche Erklärungsverfahren gegenüberstellte [das
allerdings rasch in Realitätenphantasien ausartete], vermittelte
die griechische Wissenschaft den Römern, als er [168 v. Chr.] im
amtlichen Auftrage in Rom befindlich, durch einen Beinbruch dort
zu längerem Aufenthalte gezwungen wurde. Der Aristarchgegner
versäumte nicht die Gelegenheit, in Vorlesungen für seine Lehre zu
werben und die Beziehungen zwischen Pergamon und Rom durch
geistige Gemeinsamkeit zu verstärken. Der Erfolg seiner Bemühun-
gen kam jedenfalls zunächst nicht darin zum Ausdruck, daß im
öffentlichen von der Kriegspolitik in Anspruch genommenen Leben
Roms das Bedürfnis hervortrat, eine Bibliothek als Kulturzentrum
zu erschaffen. Der praktische Sinn des römischen Volkes neigte
wenig zu einem verfeinerten Verlieren in der Theorie, als das ihm
das alexandrinische und auch das pergamenische Literaturwesen
erscheinen mußte. Die Beutebibliotheken, die die Feldherren unter
ihren Triumphstücken heimbrachten [wie die Lucullusbibliothek,
die Bücherei des Königs Mithridates, aus dem pontischen Raube]
blieben unter den anderen Schätzen, die Siegeszeichen waren, an
ihre Nutzung wurde nicht gedacht. Denn auch die Römer begannen
mit der Aneignung der Äußerlichkeiten jener Dinge, die sie in der
Fremde hochgeschätzt sahen. Der Besitz genügte ihnen vorerst,
und es dauerte eine Weile, bis sie das Feingold griechischer Kostbar-
keiten in gemeingültiges römisches Kleingeld umprägen lernten.
15
ALTERTUM
Die Besitzergreifung der geistigen Hinterlassenschaft blieb vorerst
den Privaten überlassen. Ein Gelehrter, wie der Polygraph und
Polyhistor M. Terentius Varro [116—26 v. Chr.], konnte ohne
ausreichende Büchersammlung gar nicht so viel schreiben oder ab-
schreibend übersetzen, daß seine unaufhörlich sich folgenden Werke
eine Bibliothek für sich wurden. Die Privatbibliothek Varros ist
während der Proskriptionen geplündert worden [Gellius N. A. III,
10, 17]. Daß ihr Ansehen auch in bibliothekstechnischer Hinsicht
nicht gering gewesen ist, beweist der Auftrag, den ihm Julius
Cäsar erteilte, die Begründung einer griechisch-römischen Bücher-
sammlung zu leiten. Vielleicht war diesem Unternehmen in den
cäsarischen Monarchieplänen eine Rolle zugedacht gewesen. Denn
daß Cäsar unter den gewaltigen Plänen, deren Verwirklichung er
nicht erleben sollte, auch den Gedanken einer allumfassenden, großen
öffentlichen Büchersammlung gehabt hat, er, der im alexandrinischen
Kriege die alexandrinische Bibliothek in den Flammen des Flotten-
brandes untergehen sah, brauchte nicht mit seiner eigenen schrift-
stellerischen Tätigkeit oder mit seiner persönlichen Vorliebe für die
Wissenschaften zusammenzuhängen, sondern konnte durchaus seinen
Gedanken, die das Gefüge eines Imperium Romanum überlegten,
•»ohl anstehen. Aber die Ermordung des Diktators vereitelte die
Ausführung, zu deren Vorbereitung jedenfalls das [nicht erhalten
gebliebene] Buch Varros „de bibliothecis'* geschrieben wurde, das
auch die Benutzung ähnlicher griechischer Bibliothekskunden durch
ihn vermuten läßt. Des Adoptivvaters Plan nahm nun zwar Au-
gust us sogleich auf, doch kam ihm Cäsars Freund, der angesehene
Kritiker und Schriftsteller C. AsiniusPollio [76 v. Chr. — 5 n. Chr.]
zuvor, aus der Beute des Dalmatinischen Feldzuges stiftete er im
Jahre 39 v. Chr. die erste öffentliche Bibliothek in Rom. Primus
ingenia hominum rem publicam fecit, ein Lob des Plinius [Nat. bist.
XXXV, 10], das die echt römische Auffassung dieser Tat bezeugt. Im
Atrium des Libertastempels auf dem Aventin, das er hatte errichten
lassen, fand die Sammlung ihre Unterkunft. Bildsäulen und Büsten
der hervorragendsten Schriftsteller schmückten die Räume, eine
bald für Bibliothekseinrichtungen vorbildlich werdende Mode, die
16
ALTERTUM
auch unter den Baukunstregeln des Vitruv nicht vergessen wurde.
Allein Varro war unter den Lebenden solcher Bildsäulenehrung für
würdig befunden — es wird der Dank an den geistigen Schöpfer dieser
Bibliotheksgründung gewesen sein — unter den Denkmälern der
großen Toten sein eigenes zu sehen. Die Anwendung einer griechi-
schen Ausstattungsgewohnheit auf einen, dem Gedankengange eines
Römers sehr genehmen, amtlichen Autor- Heroenkult in den Biblio-
thekstempeln kam jedoch nicht zu einer strengen Durchführung.
Schon ein Jahrhundert später durfte sich der Allerweltsschmeichler
Martial berühmen [9 prooem. 5], als Standbildchengönner den
Büchersammler Stertinius zu haben. Ihr akademischer Charakter
verblieb ihr indessen: am Ende des fünften Jahrhunderts noch
wird eine derartige Poetenproklamierung erwähnt, die des Bischofs
von Clermonty Sidonius ApoUinaris, dessen Statue unter denen der
Dichter in einer ' öffentlichen Bibliothek [in der bibliotheca Ulpia]
aufgestellt wurde. Aus dergleichen Beziehungen gaben auch wohl
die Bibliophilen dem Büstenschmuck ihrer Privatbibliotheken einen
eigenen Sinn [Cicero ad Attic. 4, 10]. Ihr Mäzenatentum erstreckte
sich nicht bloß darauf, daß sie den Verfassern die Dedikationen be-
zahlten und die Abschriften ihrer Werke von ihnen ankauften. Sie
stellten ihnen sogar die Bildsäule auf, die in einer berühmten Bücher-
sammlung urbi et orbi verkündete, welche Geistesgröße der Porträ-
tierte sei und welcher Gönner von Kunst und Wissenschaft der
Sammler selbst.
Der Bestand der Bibliothek im Atrium Libertatis scheint nicht
allzulange gedauert zu haben, wenigstens hören die Nachrichten
über sie nach der Zeit des Kaisers Vespasianus auf, sie verschwand
im Schatten der neuen großen Staatsbibliotheken, von denen zwei
noch Augustus gegründet hat, die beide die griechisch-römische
Literatur umfaßten: die im Jahre 28 v. Chr. im Apollotempel auf dem
Palatin eingeweihte [bibliotheca (templi) ApoUinis], in der unter der
Leitung des Pomp eins Macer, später des Hyginus, hauptsächlich
die Rechts- und die schönen Wissenschaften vertreten waren, und die
in dem zu Ehren seiner Schwester 23 v. Chr. errichteten porticus Octa-
viae auf dem Marsfelde befindliche, die von Melissus gesammelt war.
BOGENO 2 17
ALTERTUM
Die Palatinische Bibliothek scheint erst in der Feuersbrunst des Jahres
363 n. Chr. untergegangen zu sein, die Oetavische verbrannte be-
reits im Jahre 80 n. Chr., ist jedoch wiederhet'gestellt worden. Unter
Tiberius entstanden zwei neue Bibliotheken, die beim templum
Divi Augusti auf dem Palatin und die in der domus Tiberiana. [Wo-
fern die Nachrichten über diese beiden Büchersammlungen, die die
Feuersbrunst unter Commodus, 191 n. Chr., überdauert zu haben
scheinen, sich nicht auf eine einzige Sammlung beziehen.] Und auch
die folgenden Kaiser waren immer wieder bereit, die Bibliotheken, die
in den zahlreichen Bränden zerstört wurden, durch andere zu ersetzen.
Aber das, was sich in Alexandreia an einem Tage vollzog, der Unter-
gang der wertvollsten Originale der klassischen Literatur, konnten
oder wollten [denn der Plan, in gesicherter Lage der Stadt eine Zen-
tralbibliothek zu errichten, scheint niemals ernsthaft erwogen zu
sein] auch sie nicht verhindern. War Alexandreia ein Scheiterhaufen
gewesen, auf dem die griechische Literatur schnell verbrannte, so
war Rom der langsame Scheiterhaufen, in dem die Feuer Jahr-
hunderte hindurch die bisher geretteten Reste der Bücherschätze
vernichteten, soweit sie nicht noch in den ländlichen Privatbiblio-
theken geborgen waren, wo Bürgerkriege und Eroberungsfeldzüge
immer von neuem ihr Dasein bedrohten, bis auch sie zerbröckelten
und zerfielen. Und doch verdanken wir dem Element, das uns den
größten Teil der antiken Literatur geraubt hat, auch die Erhaltung
der einzigen Bibliothek des Altertums, die bisher unseren Tagen
dessen Bücher überlieferte: der im achtzehnten Jahrhundert im
Herculanum ausgegrabenen, teils nach Neapel, teils nach Oxford
gebrachten kleinen Privatbibliothek, die einst, eine bereits von
Winckelmann ausgesprochene Vermutung, dem epikureischen Philo-
sophen Philodemos, aus Gadara in Palästina, der schon um 55
V. Chr. als Dichter aufgetreten war, also einem Zeitgenossen Ciceros,
gehört hatte. Ihre Überreste, die in der Villa der Pisonen vorgefun-
den wurden, sind allerdings die einer bescheideneren, einseitig an-
gelegten Sammlung, sie lassen die Ausdehnung und Ausstattung der
großen Liebhaberbüchereien Roms nicht erkennen.
Achtundzwanzig Büchersammlungen sollen in der Zeit Con-
18
ALTEKTUM
stantins dem öffentlichen Gebrauche geöffnet gewesen sein, eine
Zahl, an der nicht zu zweifeln ist, da ja die öffentlichen Gebäude von
einiger Größe und Prachtentfaltung, die Tempel und Theater, die
Thermen und Torbauten, Büchersammlungen einzuschließen pflegten.
Doch selbst die Kunde, die von ihnen zurückblieb, besteht nur aus
Nachrichtentrümmern. Der Biograph Domitians, Sueton, erzählt,
der Kaiser habe in Alexandria durch Abschriften und Ankäufe den
Bücherschatz Roms vermehren lassen. In dem östlich vom Forum
des Augustus, hinter der Basilica Julia errichteten Prachtbau, dem
Denkmal des Sieges über Judäa, den der ältere Plinius als eine der
erhabensten Schöpfungen des Erdkreises pries, ließ Vespasian die
bibliotheca in templo Pacis verwahren, die bis in das dritte Jahr-
hundert eine der größten Büchersammlungen war. Wonach anzu-
nehmen ist, da der Friedenstempel und gleichzeitig mit ihm die
sonst unbekannte Bibliothek auf dem Kapitol abbrannte, daß auch
sie wie die meisten öffentlichen Bibliotheken Roms ihren Namen
verschiedene Büchersammlungen tragen ließ. Am längsten scheint
die von Trajan seinem Forum gestiftete bibliotheca Ulpiana sich
erhalten zu haben, deren Spuren sich im Dunkel des untergehenden
Rom verlieren. Nach der Beendigung des Bürgerkrieges hatte
Augustus den Tempel des Kriegsgottes geschlossen und mit den
von ihm begründeten Büchersammlungen die Tore zu den Tempeln
der Weisheit öffnen lassen; Diokletian und Konstantin, die im Be-
ginne des vierten Jahrhunderts das römische Weltreich vor dem
Zerfall zu retten suchten, konnten das Ende nur verzögern. Aber
obschon die politische Macht Roms zerstückelt wurde, obschon die
neuen Teilreiche im Westen von den andrängenden Germanen, im
Osten von den Arabern und Persern bedroht wurden, ihr kultureller
Zusammenhang löste sich niemals ganz und gar. Ihn band das Buch,
das einst die hauptstädtischen Paläste und die Villen der Vornehmen
zierte, auch diesmal im Überdauern von Völkern und Zeiten seine
Sendung erfüllend, ein Menschheitsmittler zu sein. Mochte auch der
Bücherprunk unter Trümmerhaufen begraben werden, die echte
Gesinnung, die ihn einst hervorrief, blieb und weckte in neuen Buch-
formen neues Leben.
2- 19
ALTERTUM
Als die Bibliophilie zu einer Bildungsmode wurde, entstand der
Luxus der griechisch-römischen Privatbibliotheken, der zum guten
Ton gehörte. Die Bibliothek durfte neben der Pinakothek im Hause
eines Vornehmen oder Vornehm-sein-woUenden nicht fehlen. Bau-
regeln bildeten sich dafür aus und die Bemerkungen des Yitruvius
[VII, pr. 4] geben ein Bild dieser antiken Privatbibliothekseinrichtung
nach dem Wohlanstande. An der Morgenseite des Hauses mußte die
Bücherei liegen, Oberlicht sollte sie erhellen, die Verzierung ihrer
Wände, beliebt waren Dekorationen orientalischer Ornamentik,
lenkte nicht ab von den Schränken, in denen, geschützt mit purpur-
farbigen Hüllen, die Rollen lagen. Büsten der Denker und Dichter
sahen, um im ciceronianischen Pathos weiterzureden, auf den Be-
sitzer dieser Herrlichkeiten herab, den tätigen und unterrichteten
Mann, dessen besten Freunde die Bücher waren und dem die Bücher-
sammlung ein Ort des Genusses, des Selbstvergessens und Sinnens,
ein Gedankenheiligtum schien. Da saß der antike Bibliophile in
seinem mit Elfenbein und Gold ausgelegten Sessel,* vor sich das
Zedernkästchen, das gegen Mottenfraß die Rolle schützen sollte,
die er eben entfaltet hatte, die neueste Erwerbung: ein altgriechi-
sches Stück bester Erhaltung oder eine Prachthandschrift. So kann
man sich den römischen Sammler vorstellen, wenn man nicht einigen
Kontrast zwischen der Raumkunst Vitruvs und der Wortkunst
Ciceros spüren möchte, Bibliophilie und Bibliothekenluxus nicht
ohne weiteres verwechseln will.
Die Beschaffung der Bücher durch Kauf und Tausch war für
den römischen wählerischen Büchersammler nicht allzu leicht. Be-
sonders gute Abschriften lateinischer Werke ließen sich nur schwer
auftreiben. Im Briefwechsel Ciceros wird das des öfteren beklagt.
Er rügt, in einem Schreiben an seinen Bruder Quintus, die fehler-
haften und schlechten Ausgaben gerade der lateinischen Bücher;
er ermahnt seinen Freund PomponiusAtticus, der selbst Bücher-
sammler war und ein großes buchhändlerisches Unternehmen, eine
Schreiberfabrik, also eine Verlagsanstalt, hatte, bei der Übersendung
einer ihm geschenkten Bibliothek ja die lateinischen Rollen gut zu
schützen. Die begehrten alten Stücke, die echten Abschriften ver-
20
* Abb. 2—4
ALTERTUM
lockten den Altbuchhandel zu Fälschungen. Liebhaberpreise wurden
bezahlt, prachtentfaltende Prunkstücke schmückten die Schränke
der reichen Sammler, in denen die beiden griechisch-römischen Buch-
formen, die Rolle und der Codex, nach und nach nebeneinander
ihren Platz suchten. Da die Aufnahme der griechischen Literatur
die römische ausgestaltete, das griechische Schrifttum auch weiter-
hin im höheren römischen Studiengange vorherrschend für die all-
gemeinwissenschaftliche Bildung blieb, waren die griechischen
Bücher, in den Privatbibliotheken wenigstens, vorherrschend. Hierin
machte sich auch der Einfluß geltend, den von Anfang an die nach
Rom gebrachten griechischen Büchersammlungen auf den Buch-
handel übten, in dem die Abschriften griechischer Werke sehr viel
zahlreicher waren. In der Aufstellung unterschied man jedoch die
griechische von der lateinischen Sammlung. Wer etwas auf sich
hielt, mußte daher zweierlei Privatbibliotheken haben, weshalb der
Protz Trimalchio [in des Petronius Romansatire] auf seine griechische
und lateinische Bücherei verweist. Und da jedes Landhaus, jeder
Palast mit seiner eigenen Privatbibliothek ausgestattet sein sollte,
besaßen die Bibliophilen, die sich einen solchen Aufwand gestatten
konnten wie Cicero oder der Dichter Silius Italiens [nach dem
Berichte des jüngeren Plinius] mehrere Privatbibliotheken.
Bibliophilennamen und Privatbibliotheken werden seit der
Ciceronianischen Zeit von den Schriftstellern nicht selten erwähnt.
Der äußere Umfang und der innere Wert mancher dieser Bücher-
sammlungen ist nicht gering gewesen — die des älteren Serenus
Sammonicus [um 200 n. Chr.], die sein Sohn dem jüngeren Gor-
dianus vermachte, zählte 62000 Rollen, die des Grammatikers
Epaphroditus [unter Nero und den Flaviern] 30000. Mehr noch
aber als dergleichen Erwähnungen, deren Kürze bei dem Mangel
weiterer Nachrichten nach zwei Jahrtausenden nicht mehr allzu viel
besagt, verraten die Schilderungen und Spottreden, die sich gegen
das Bibliophilenzerrbild, gegen den Bibliomanen, wenden, gegen den
Bildung und Gelehrsamkeit heuchelnden Emporkömmling, der kaum
die Büchertitel lesen kann; gegen den von der Büchersammelwut
ergriffenen, dem die Büchertitelnahrung die köstlichste Speise ist,
21
ALTERTUM
für die er seinen Geist und sein Vermögen verschwendet. Lucius
AnnaeusSeneca, der sein Leben nach seinem Wahlspruche : „Otiura
sine litteris mors est et hominis vivi sepultura'' lebte, hat, selbst ein
Bibliophile in der Gesinnung des Philosophen, die Bibliophilie als
die echte Freude am guten und schönen Buch immer von neuem in
seinen Schriften gepriesen. Er, der mit seinen Büchern die meisten
Gespräche führte, der erkannte, daß die Bücher des Weisen Lebens-
zeit weithin dehnen, pries den belebenden Umgang mit den Büchern :
,, Willst du täglich den Zeno, den Pythagoras, den Demokritus und
die übrigen Meister des edlen Wissens oder den Aristoteles mit Theo-
phrastus zu deinen vertrautesten Hausfreunden haben — da wird
keiner von ihnen für dich nicht Zeit haben ; keiner den Besucher nicht
glücklicher und ihm inniger zugetan entlassen; keiner irgendwen
mit leeren Händen von sich weggehen lassen. Bei Nacht wie bei
Tage gestatten sie jedem Sterblichen den Zutritt . . . Welches Glück
erwartet den, der sich in ihre Klientel begab . . . Sie zieht er tagtäglich
über sich zurate, von ihnen hört er die Wahrheit ohne Beschämung
und Lob, ohne Schmeichelei; ihnen ähnlich zu werden bildet er sich.
Seneca warnte auch den unverständigen Leser: ,, Etwas anderes ist
Auswendigwissen, etwas anderes ist Wissen"; wie er dem leicht-
herzigen riet: „Begrenzung des Lesens nützt, Abwechslung vergnügt
nur" und mit häufigen heftigen Worten den Bücherprunk derjenigen
tadelte, die allein Sammler waren, die inmitten so vieler tausend
Bücher gähnten, denen die Einbände und die Titel an ihren Büchern
am meisten gefielen. „Wozu unzählige Bücher und Büchersammlun-
gen, deren Besitzer in seinem ganzen Leben nicht einmal ihren Kata-
log durchliest? . . . Das ist ein wissenschaftlicher Luxus und nicht
einmal ein wissenschaftlicher, da er die Bücherei nicht aus Liebe zur
Wissenschaft, sondern um ein Schaustück zu haben zusammen-
gebracht hat . . . Bücher sind eine Auszierung der Speisesäle jener
Vielen, die nicht einmal soviel wissen wie manche ihrer Sklaven."
Ohne die Gravität des Moralphilosophen, der dem Buche nicht allein
im Bücherfache, sondern auch in der Lebensweisheit den richtigen
Platz auszufinden suchte, gab hundert Jahre später der syrische
Literat Lukianos [f 180 n. Chr.] der Bibliomanenfigur des Bücher-
22
ALTERTUM
protzen ihre klassische Typisierung. Nicht ohne die Gehässigkeit
eines persönliches Streites, immerhin aber in einer Verallgemeine-
rung, die in der satirisch verzerrten Gestalt des Büchernarren die
Gewohnheiten griechischer und römischer Büchersammler der Spät-
zeit treffend schildert; im Grunde alles das vorausnehmend, was
nach ihm über die Büchersucht, die ohne Sinn und Verstand den
Bücherreichtum mit dem Buchreichtum verwechselt, wiederholt wor-
den ist. Mit den Kunstgriffen ihrer Rhetorik, bald Beispiel auf Bei-
spiel häufend, bald die Methode des Sokrates probierend, ist Lucians
Spottschrift auf den bildungslosen Büchernarren trotzdem nicht
eine zufällige Zusammenstellung von Anekdoten und Invektiven.
Dadurch gerade beweist sie den amusischen Bibliomanen nicht als
die Einzelerscheinung eines Mannes, dem das Bedürfnis, Bücher zu
haben, zu krankhaftem oder verbrecherischem Verlangen wurde —
eine psychologische Vertiefung, in der der Bibliomanentyp erst sehr
viel später gesehen wurde — sondern als eine allgemeinere, gewöhn-
lichere Gestalt des gesellschaftlichen Lebens. Die Bücherprahlerei,
der Ehrgeiz der Gelehrsamkeit, die den Bibliomanen Lucians trei-
ben, finden sich auch bei anderen Liebhabern von Sammlungen
und von schönen Künsten. Er ist das Kehrbild der Bibliophilen, die
sich auf die Bücher und die Buchpflege verstehen, die, wenn sie selbst
nicht ausübend Wissenschaften treiben können, deshalb doch nicht
auf die Bücherlust verzichten wollen, die vielmehr in edler Selbst-
beschränkung aus ihr zu Förderern des geistigen Lebens werden.
Gerade in solcher Auffassung der sozialen Mißgestalt des Biblio-
manen Lucians liegt nicht nur eine Kennzeichnung der Zeit, deren
Kind dieser Schriftsteller war und in der das antik-klassische Ideal
des buchfreudigen, weil weisheitsfrohen Schriftgelehrten, des Biblio-
Philosophen, sich schon in das des erfolgreichen Sophisten gewandelt
hatte, sondern auch eine Erklärung der Ausartungen, in denen die
Bibliophilie von Griechenland und Rom selbst sich zu einem leeren
Überfluß wurde, aufhörte, Kulturelement und -träger zu bleiben,
nicht mehr als Mode einer verkümmernden Zivilisation war. Auch
im Buchwesen mußte sich ein ethischer Umschwung vollziehen, der
aus einer erneuerten Verinnerlichung des Wissens hervorging.
23
MITTELALTER
Wie es scheint, ist die Trajansbibliothek die letzte große Biblio-
theksgründung der Kaiserzeit in Rom gewesen. [Schon in Byzanz
entstand Julians Kaiserliche Sammlung.] Der bedeutendste Ge-
schichtsschreiber der späteren Kaiserzeit, Ammianus Marcellinus,
beklagt in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts, daß die
Bibliotheken Roms wie die Gräber geschlossen seien. Sie werden
damals größtenteils kaum noch dem Bedürfnis einer öffentlichen
Benutzung gedient haben. Das Christentum wurde über das Hei-
dentum im Kampf der Weltanschauungen Sieger und seine Buch-
pflegestätten, die Klosterbibliotheken, übernahmen und verbreiteten
die Werke der antiken Literatur. Freilich, jene hatten für deren
Geistesschätze keine alexandrinische Sorgfalt mehr, nicht mehr die
Mühewaltung eines alles bewahrenden und ordnenden antiken
Bibliothekars. Denn ihnen erschienen sie neben der ekklesiastischen
Literatur geringwertig. Die Bibel, ein einziges Buch, war der Grund-
stein einer anderen Literatur und ihrer neuen Sammlungen gewor-
den. Der letzte Römer Magnus Aurelius Cassiodorius Se-
nator [der chronologisch schon dem Mittelalter angehörte, u. 480 —
u. 575], hat die Entscheidung der Weltgeschichte anerkannt und er-
kannt. Als er, um die Mitte des sechsten Jahrhunderts, fUehend
vor dem Leben, auf seinen Besitzungen in Calabrien, das Kloster
Vivarium gründete, schrieb er für die Mönche eine Anleitung, das
Schrifttum zu verstehen und zu verwenden, die letzte antike Lite-
raturgeschichte: Institutiones divinarum et saecularium lectionum.
Bereits ihr Titel bezeugt es, daß die Bibel und die von dieser aus-
gehende theologische Bildung auch Herrscherin aller Bücher ge
worden ist. Die Absicht seiner Schrift, die das Vorwort erklärt,
war es gewesen, eine abendländische Hochschule, die zu errichten
ihn der Krieg verhindert hatte, vorerst wenigstens zu ersetzen. Was
er, der noch dem griechisch-römischen Altertum angehörte, dabei
an außerhalb der Bibel liegender Bildung zugestand, lehrt der zweite
Teil dieser seiner Unterweisungen in den kirchlichen und weltlichen
Schriften.
Ausgehend von der Geltung der , Heiligen Schrift' sind Bücher-
sammlungen der Christen schon in der Frühzeit ihrer Geschichte,
24
MITTELALTER
die noch der römischen zugehörte, entstanden. Waren doch
die Schriften des Alten Testamentes bereits eine Bibliothek für
sich. Dazu kam, daß die Christen, hierin den Juden folgend, eine
Verpflichtung anerkannten, diese Schriften allen Gläubigen zu-
gänglich zu machen. Die Erfüllung der Forderung gebot also den
Gemeinden eine Büchersammlung für ihren Kirchendienst. „Seit
dem Ende des zweiten Jahrhunderts traten die Bücher des Neuen
Testamentes hinzu und wir dürfen als sicher annehmen, daß im
Laufe des dritten Jahrhunderts so gut wie sämtliche Bischofs-
kirchen in den weiten Grenzen des römischen Reiches die mehr als
sechzig heiligen Schriften beider Testamente vollständig oder fast
vollständig besaßen. Zu ihnen kamen in der Mehrzahl der Gemeinden
noch die sogenannten alttestamentlichen Apokryphen und in man-
chen auch neutestamentliche Apokryphen, ferner aber auch in den
meisten noch diese oder jene wertvolle Schrift oder Briefsammlung,
so daß die Anzahl der Bücher auch in der kleinsten Bischofskirche
mindestens auf gegen hundert veranschlagt werden muß." [A. v.
Harnack.] Allmählich reihten sich die Bücher des Kirchendienstes
und der Kirchenlehre an. Zur Bibel kamen ihre Erläuterungen durch
die Kirchenväter, zu den Kommentaren deren Umarbeitungen für
Unterrichtszwecke. Aus der „bibliotheca sacra" entstand die
bibliotheca christiana im weiteren Wortsinne. Wo eine antike
Bibliothek — so diejenige des Claudian [Sidon. Apolloniar.
epist. 4, IL] — die christlichen Schriften aufnahm, ersetzte die
neue Dreiteilung in die Bibliotheca Romana, Attica, Christiana
die bis dahin übliche Zweiteilung; auch äußerlich bekundend, daß,
im Begriff, Europas geistige Herrschaft zu gewinnen, das Buch der
Bücher die Literatur selbst sei. Allerdings, im Gegensatz zu den
bisher gepflegten Nationalliteraturen, eine Universalliteratur, die
sich über die Sprachgrenzen hinweg an alle erdbewohnenden Völker
wenden wollte. Denn nicht in ihren Ursprachen vollzog die Bibel
die Eroberung Europas in dem Mittelalter genannten Zeiträume.
Mit der Autorität der auf sie das Dogma gründenden Kirche, deren
amtliche Sprache das Lateinische blieb, übte sie ihre Gewalt aus.
Nach des antiken Rom politischen Untergang noch viele Jahrhunderte
25
MITTELALTER
blieb das mehr und mehr zu einer internationalen Verkehrssprache
der Bildung und Gelehrsamkeit gewordene Lateinische der Schrift-
tumsträger und -wahrer des Abendlandes, als solcher auch dem
abendländischen Buchwesen maßgebend. [Eine klassische, tote
Sprache wurde es erst durch und für den Humanismus.] Die natio-
nalen Strömungen, die langsam neue Schrifttumsbildungen in den
verschiedenen Volkssprachen hervorbrachten, ließen diese zunächst
als geduldete Inseln in dem allumfassenden Bereiche der geistlichen
Gelehrsamkeit, die dadurch mit der weltlichen Gelehrsamkeit eins
wurde, daß sie alles in der göttlichen Lehre wurzeln ließ und überall
auf sie zurückführte. Und wie die Bibel als ,lex', als Richtschnur
des Lebens, in der lateinischen Vulgataversion die Buchverkörperung
der geistlichen Macht wurde, wurde das Corpus juris, das Rechts-
buch der Römer, diejenige der weltlichen. Die allmähliche Emanzi-
pation von diesen beiden Büchern in ihrer Auffassung durch das
, Mittelalter' äußerte sich in dem Ideenniederschlag langsamer
Literaturbewegungen, der nach den verschiedensten Richtungen
ausstrahlte. Ihn benennen literarhistorische Bezeichnungen, die
mehr einzelne Gegensätze hervorheben, als scharfe Trennungen von
Weltanschauungen, wie sie diejenige der antiken von der christlichen
Literatur bedeutete, vornehmen. Scholastik, Humanismus, Refor-
mation und sonstige Epochensysteme sind letzten Endes geschichts-
wissenschaftliche Schlagworte, um Änderungen anerkannter Denk-
richtungen chronologisch zu fixieren, an die die Anpassungen des
Schrifttums und der Wissenschaften sich nicht gleichmäßig schnell
vollzogen. Mit der Aufnahme der Bibel in den Grundstein der
abendländischen Büchersammlungen ist deren Entwicklungs-
geschichte auf lange Zeit hinaus festgelegt: sie ist der Magnetstein,
der anziehend und abstoßend die neue Bücherwelt ordnet, von der
die Bibliotheken zeugen.
Den Bemühungen um die Aufstellung einer bibliotheca sacra
verbanden sich, ähnlich wie einst in Alexandreia, solche um die Be-
schaffung der besten Texte. Ebenso wie die antiken Philologen unter-
schieden die christlichen Theologen schon am Ende des zweiten
Jahrhunderts zwischen alten und neuen, guten und schlechten
26
MITTELALTER
(Bibel)handschriften. Das setzte deren umfangreichere Verbreitung
und Vervielfältigung voraus. Nicht allein die Anstalten und Ein-
richtungen der Kirche besaßen die gelesensten Schriften mehrfach,
auch die Privatleute verfügten vielfach über eigene Exemplare.
[Wobei daran zu erinnern ist, daß die abgeschlossene Bandform der
Bibel, das dickleibige Buch in seiner seit dem Mittelalter selbst-
verständlichen Vollständigkeit, in der christlichen Frühzeit noch
dem literarischen Bewußtsein, nicht allein der äußeren Form der
Schriftrollen, fremd war.] Inwieweit in den Hauptstädten die Haupt-
werke der christlichen Literatur in eigenen, den Kirchenanstalten
eingegliederten, großen öffentlichen Sammlungen zusammengefaßt
waren, läßt sich im allgemeinen nur durch Rückschlüsse auf den
Büchervorrat, der den dort lebenden Kirchenvätern zur Verfügung
gestanden haben muß, mutmaßen. In Alexandreia ist eine Bibliothek
mit der christlichen Katechetenschule verbunden gewesen, die, dem
Muster der von der alexandrinischen Judenschaft unterhaltenen
hohen Schule nachgebildet, bereits in der Zeit des Commodus einen
beträchtlichen Umfang hatte. Allerdings beschränkte sie sich nicht
auf die engere christliche Literatur, sondern suchte derart auch die
antike ihr beizufügen und unterzuordnen, daß sie diesen profanen
Schriften den Charakter von Hilfswerken der Schrifterklärung und
Nutzung zusprach, sie also in ein Bibliothekssystem einbezog, das
das späterhin herrschende werden sollte. Die Einschätzung des
Wertes dieser alexandrinischen christlichen Bibliotheksanlage zeigte
Konstantins des Großen Fürsorge, der die älteren Papyrusrollen
auf Pergament umschreiben ließ. [Eusebius, vita Constantini 4, 36.]
Origines, der hervorragende Bibeltextkritiker [Eusebius , bist,
eccl. V, 28], in dessen Persönlichkeit sich die alexandrinische
Philologietradition mit der christlichen verband, hat, als er von
seinem neidischen Bischof aus Alexandreia ausgewiesen wurde, eine
nicht geringe Büchermenge nach seinem neuen Wohnort Cäsarea,
der Hauptstadt Palästinas, mitgenommen und sie hier reichlich
vermehrt. Nach seinem Tode [254] bildete diese Bibliothek mit der
großen Rezension des Alten Testamentes, der Hexapla, und den
eigenen Schriften des Origines, die Pamphilus [t309] abschrieb, um
27
MITT EL ALTER
sie seiner eigenen, der Kirche von Cäsarea vermachten Bücher-
sammlung von 30000 Rollen [Isidor, Orig. VI, 6, 1] einzuverleiben,
die christliche Zentralbibliothek. Das Ansehen, das Pamphilus als
Hanschriftenherausgeber, insbesondere bei der Überwachung von
Bibelhandschriften, genoß, übertrug sich auch auf die von ihm be-
sessenen Bücher. Der Bischof Eusebius von Cäsarea, auch dank
der Bücherschätze dieser Stadt zum Vater der Kirchengeschichte
geworden, hatte den Katalog der Pamphilus-Privatbibliothek [in
dessen verlorengegangener Lebensbeschreibung] errichtet. Acacius
und Euzoius hatten ihre in Verfall geratenen Bestände durch Auf-
frischungsarbeiten wiederhergestellt [Hironymus, Epist. 141], bis ins
sechste Jahrhundert blieb sie nachweisbar. Die Erinnerung an sie
und die ihr vorhergehende Originessammlung bleibt auch ein Gedenken
an die Bibliophilie der frühen Christenzeit. Augustinus, der
ebenso wie Tertullian zu den büchersammelnden Kirchenvätern
gehörte, hat deren Wirkungskreis mit seinen Worten: ,Lectio tunc
utilis est, cum facimus ea, quae legimus* und ,Scribendo multa
discimus\ umschrieben. Das Buch als der Heilquell der Seele, als
der Wegbereiter sittlicher Lebensführung, die von dieser in jene
Welt leiten sollte, verkörperte ihr die ethisch-religiösen Werte. Ein
Gebot des Glaubens, ein Gesetz seiner Moral war es, alle Buchpflege
in der Verbreitung des Buches gipfeln zu lassen, das gegen das
Heidentum die Waffe war. Die Bibel zu verbreiten und zu verviel-
fältigen brachte Gotteslohn, war ein von der Kirche anerkanntes
gutes Werk. Das ist die Anschauung, auf die sich bald auch die
Klosterschreibstuben gründen sollten. Das Lernen durch Schreiben
aber wurde zum Leseverfahren derjenigen Männer, die die ersten
modernen BibUophilen heißen müssen, weil ihnen die Entdeckung
der durch ein Buch verdrängten Bücher wieder gelang, der Huma-
nisten. [Sie suchten das antike Buchland, dessen verschüttete Zu-
gangsstraßen sie ausgruben, so wiederzusehen, wie es die letzten
antiken Bibliophilen verlassen hatten, deren Bücherreihen noch
nicht im Schatten eines einzigen, alle anderen überragenden Buches
verschwanden. Daß jedoch die Humanisten bis in diese ferne und
fremde Vergangenheit vordringen konnten, dafür hatten sie und hat
28
MITTELALTER
die Nachwelt denen Dank zu sagen, die in ihrer Art die Erhalter
nicht des griechisch-römischen Buches selbst, wohl aber des griechisch-
römischen Schrifttums gewesen sind ; in jener Auflösungszeit des römi-
schen Reiches, die keine Ubergangsepoche, sondern eine Umgestal-
tung der antiken Zivilisation war. Dabei ist die Überlieferung des
alten Bücherschatzes an das Mittelalter obschon nie ganz unter-
brochen, doch oft gehemmt und gelockert worden; nicht zum wenig-
sten auch deshalb, weil sie mit einer gänzlichen Umgestaltung der
antiken Bibliotechnik zeitlich zusammenfiel.
Das Buchwesen des Mittelalters* wurde durch die Ausbreitung der
neuen Buchform des Pergamentkodex zu einer Übergangszeit, die eine
nicht zu unterschätzende Zersplitterung der Schrifttumspflege ver-
anlaßte. Auch wenn man die Nebeneinander- Handhabung der beiden
Buchformen, der alten und der neuen, mit ihren buchgewerbhchen
Hemmungen nicht überschätzen möchte und in der Übertragung der
Schrifttumsmassen von den Papyrusrollen auf die Pergament-
codices, die doch mancherlei Änderungen auch der inneren Buch-
gestaltung hervorriefen, einen lediglich mechanischen Prozeß sehen
will, so darf trotzdem der daraus auf die Bücherverbreitung
und Büchervervielfältigung sich ergebende Einfluß nicht übersehen
werden. Die Betriebsformen des Buchhandels und der Buchher-
stellung im alten Rom hatten das Buch notwendigerweise verein-
heitlichen müssen, damit es allen seinen Käufern und Lesern ver-
ständlich blieb. Bildungsgemeinschaft war dafür eine notwendige
Voraussetzung gewesen. Mit deren Fortfall, mit dem gleichzeitigen
Verschwinden der billigen Bücher, denn den Papyrus hatte ja das
kostspielige Pergament verdrängt, die Buchwerkstätten mit Sklaven-
arbeit hatten aufgehört, mußte eine Stockung in der Bücherher-
stellung und -Verbreitung eintreten, die um so stärker werden sollte,
je mehr das Bedürfnis der Buchverwendung und mit ihm das Buch-
verständnis schwand, je weniger die Kunstfertigkeit des Lesens
und Schreibens im Alltagsleben vorhanden war. fSie blieb mit samt
dem Buche nun ein Bildungsvorrecht, das die kirchliche Macht aus-
zeichntee, die sich seiner in ihrem Sinne bediente. Die Einschrän-
kung auf die Gebrauchsbücher des Kirchendienstes konnten im
• Abb. 5— lo 29
MITTELALTER
niederen Klerus, die Entfernung von den Büchern auch in den
Kreisen der vornehmen und wohlhabenden Laien nicht das Buch
als das Element der Literatur erkennen lassen. Man hatte wohl
Bücher und man gebrauchte sie auch, um in ihnen zu lesen oder sich
aus ihnen vorlesen zu lassen. Aber selbst Ansammlungen von
Büchern blieben solange dem Zufalle anheimgestellt, bis das Buch
in den Klöstern wieder in den geregelten Kreislauf einer wissenschaft-
lichen Tätigkeit einbezogen wurde. Die Eigenbetriebe der Klöster
hatten indessen nur geringe gemeinwirtschaftliche Rücksichten,
ihre Schreibstuben arbeiteten für die Benutzung der Bücher in den
einzelnen Klöstern. Derart verfiel zunächst nicht allein die Buch-
kunst der Schönschriftbücher, an deren Stelle die lediglich dem
besonderen Gebrauchsweck dienenden Eilschriftbücher traten; es ent-
standen dazu rasch verschiedene Schriftprovinzen, denen der sie
einende, in dem Bewußtsein einer gemeinsamen historisch-natio-
nalen Tradition wurzelnde Zusammenhang fehlte. Eine Buch-
verschönerung, eng verbunden mit erneuerter Schriftverfeinerung,
weil deutliche Lesbarkeit wichtig ist für die Herstellung richtiger
Texte, kam um das erste Jahrtausend zu einer erfolgreichen Aus-
gestaltung des neuen Buches, auf dessen europäische Entwicklung
in dieser Hinsicht der Osten entscheidenden Einfluß übte. Der
beispielgebend von den Iren eingeführte Buchschmuck der Zier-
buchstaben verdankte manches den orientalischen Anregungen, er
bestimmte auch die festländische, der insularen folgende, Übung
um so mehr, als die Verschmelzung der germanischen und der in-
sularen Buchkunst in einer inneren Verwandtschaft Rückhalt fand.
Aus dem Osten kam dann der neue Beschreibestoff, das Papier, im
zwölften und dreizehnten Jahrhundert nach Byzanz, Spanien,
Frankreich, Italien, Deutschland. Mit der Anpassung des Schreibe-
verfahrens und der Schrift an ihn begann die Buchverbilligung und
damit eine Erleichterung der Buchverbreitung. Das alles wirkte
auf die Buchgestaltung und die Buchherstellungsverfahren zurück,
das neue Buch entstand in seinen endgültigen Formen. Noch einmal,
am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, bekam es aus dem Morgen-
lande die Mittel zu seiner Vollendung, als von dort her, über Byzanz,
30
MITTELALTER
die Levante und Spanien, die Vergoldungszierverfahren und die
Ziegenleder für den Bucheinband zur Einführung gelangten, die
dessen Erleichterung und Verfeinerung ermöglichten. Mit dem An-
bruch einer neuen Zeit um die Wende des zwölften und dreizehnten
Jahrhunderts, in der sich das politische Staatengefüge umgestaltete,
die Bildung sich laisierte, die Universitätsgründungen den Wissen-
schaften und mit ihnen dem Buchwesen neue Sammelstellen schufen,
die Macht der nationalen Strömungen im geistigen Leben anwuchs,
hatte sich das ästhetische Gefühl, dem seelischen Stimmungsum-
schwung entsprechend, geändert. Ein Ausdruck dieser Bewegungen
wurde das Buch der Gotik, deren Fortschritt gewaltsam von der
neuen Anschauung der Antike, die im vierzehnten und fünfzehnten
Jahrhundert aufkam, insofern unterbrochen wurde, als nun die
Altertumsmuster den Gegenwartsschöpfungen vorgezogen wurden.
Und wenn sich die Übernahme der Vorbilder des antiken Buches
für das moderne auch über deren Alter getäuscht hatte, insofern
irrte sie nicht, als antike Traditionen auch in den erreichbar gewesenen
Vorlagen, so denen der karolingischen Epoche, weitergewirkt hatten.
Der bewußt in den Dienst des Persönlichkeitsstrebens genommenen
Buchhandschrift kam indessen ein rachses Ende durch die Erfin-
dung Gutenbergs, durch den Buchdruck, das Massenvervielfältigungs-
verfahren, das mit geschäftlicher Geschicklichkeit beide Beispiele
in ihrer Art weiterbildete, das gotische und das humanistische Buch.
Die Verbindung zwischen dem ost- und dem weströmischen Reiche
hatte die scharfe Scheidung, die im Abendlande Altertum und Mittel-
alter trennte, im Osten sich in langsameren Übergängen vollziehen
lassen. Die antike Bildung fand in Byzanz festere Stützpunkte
ihrer Traditionen als in den Ländern des Westens, in denen eine
Auseinandersetzung mit den heidnischen Überlieferungen teilweise
auch darin bestand, daß man deren führende Sprache, die griechische,
vergaß; was wiederum die Gegensätze zum orthodoxen Orient ver-
tiefte, weil schroffer als Landesgrenzen Sprachengrenzen die sich
nicht mehr verstehenden Völker schieden. Die Idee einer literari-
schen war mit der einer politischen Universitas zugrunde gegangen;
in welcher Art sie nach alexandrinischem Beispiel von einer großen
31
MITTELALTER
Büchersammlung in Byzanz, die ihr Mittelpunkt hätte sein müssen,
noch aufrecht erhalten wurde, lassen die darüber erhaltenen Nach-
richten nicht ermitteln. Die kaiserUchen Sammlungen in Konstan-
tinopel, die von Constantin gegründet waren, sind von Flavius
Claudius Julianus Apostata [361—363] vermehrt worden. Er, der
von sich bekannt hat, daß ihn seit seinen Knabenjahren eine wunder-
same Begierde, Bücher zu erwerben und zu besitzen, erfüllt habe,
er, der durch das Christentum das Heidentum reformieren wollte,
der , Romantiker auf dem Throne der Cäsaren', hat sicherlich nichts
versäumt, um auch durch die Buchpflege eine Waffe im Kampfe
der Meinungen, vielleicht nicht einmal mehr der Weltanschauungen,
zu gewinnen. Aber welch einen Abstand von den Bemühungen
eines immerhin kleinen antiken Fürstenhofes, wie dem der Ptolemäer,
bezeichnet es doch, wenn ein Edikt von Valens [vom Jahre 372,
Codex Theodosianus 14, 9, 2 und nicht mehr vom Codex Justi-
nianus übernommen] bestimmte, daß sieben Antiquarii, vier für
die griechischen und drei für die lateinischen Handschriften ange-
stellt werden sollten, um die Bestände der Kaiserlichen Bibliothek
zu ergänzen und wiederherzustellen. Die Mittel, auch die geistigen
Mittel, reichten nicht mehr aus, um das Werk von Alexandreia zu
wiederholen. Inwieweit in Byzanz frühere und spätere kaiserliche
BibUotheken miteinander zusammenhingen, wohin deren bei der
Eroberung von Konstantinopel vorhanden gewesene Überreste ge-
langt sind, ist nicht einmal mit Vermutungen zu sagen. Und ebenso
sind bis auf einige wenige Handschriften und Nachrichten die Spuren
der alten byzantinischen geistlichen Bibliotheken, der des Patriar-
chats und der Mönchsklöster verweht. Konstantinopel, Alexandreia,
Jerusalem, Athos, Sinai als Vororte der griechischen Kirche, die
Klöster der koptischen Nationalkirche in Ägypten, die Basilianer-
Klöster in Unteritalien waren an Büchersammlungen nicht arm,
um die sich mancher Mönch als Bibliophile verdient gemacht haben
wird wie jener Scholarius, der [um 1100] die eigene Bibliothek
dem Erlöserkloster Bordonaro bei Messina vermacht hat. Ein
byzantinischer Büchersammler ist es vor allen, dessen Nachlaß,
teilweise noch in den großen europäischen Bibliotheken erhalten,
32
MITTELALTER
seinen Nachruhm wahrt: Arethas, der [um 900] Erzbischof in
Cäsarea, der Stadt des Origines und Pamphilus, eine außergewöhn-
liche Sammlung antiker und theologischer Autoren besaß, der an
Bedeutung nur die [im zwölften Jahrhundert entstandene, ähnlich
zusammengesetzte] des Erzbischofs von Athen, Michael Ako-
minates, gleichgekommen zu sein scheint. Man sollte auch den
Klang ihrer Namen nicht überhören. Denn wenn wir von dem
atheniensischen Buchfreunde lesen, er habe die Werke der alten
griechischen Klassiker abschreibend seinen Bücherschatz vermehrt,
erinnern wir uns daran, daß ebenso seine Geistesverwandten in
Italien verfuhren, um wieder zum alten Rom vorzudringen. Was
ihre Wege zum gleichen Ziele trennte, ist nicht der Unterschied
einiger Jahrzehnte gewesen, sondern die geistige innere Auflösung
des byzantinischen Staatswesens. Die hellenische Wiedergeburt,
die der Kampf des Attizismus gegen den Asianismus im zweiten
Jahrhundert und die in ihm hervortretende Führerpersönlichkeit
des Dio Chrysostomos zu gewinnen versucht hatten, gelang nicht
mehr. Kein Erinnerungswerk, nur ein Rettungswerk vollzogen die
Byzantiner, die jahrhundertelang vor dem endgültigen Türken-
siege die Bücherschätze griechischer Vergangenheit zu erhalten sich
bemühten.
Der Begründer der abendländischen christlichen Philologie, als
welchen man Cassiodorius Senator seiner vermittelnden Stellung
zwischen dem alten und neuen Schrifttum wegen ebenfalls bezeichnen
könnte, hat die Anstalten, die im Morgenlande, in Alexandreia und
anderen ihrer Hauptplätze der christlichen Wissenschaft dienten,
jedenfalls bei seinen Plänen nicht unberücksichtigt gelassen. Und
die Buchpflege im Kloster Vivarium bei Scyllacium in Bruttium
wurde ein Muster für das Handschriftensammeln und Handschriften-
sichten, dem sich vor allem der Benediktinerorden widmete. Es be-
gann ein gelehrtes Umschichten der Büchermassen in die Klöster,
die neuen Sammelstätten, in denen die antike Literatur ohne Unter-
brechung ihrer Verbindung von dem späten Altertum bis zum frühen
Mittelalter weiterlebte. Der einstigen Hellenisierung des Morgen-
landes entsprach nun die Romanisierung des Abendlandes, die in
BOGENG 8 33
MITTELALTER
ihrem Verlaufe, schon vor der Völkerwanderung begonnen, als ein
nicht leicht zu schildernder, da schwierig in seinen Verzweigungen
zu übersehender geschichtlicher Vorgang erscheint, der das Geistes-
leben von Rom und Südwestgermanien in einen unmittelbaren Zu-
sammenhang brachte. Aber Buchwesen und Schrifttum hatten hier-
bei ihre leitende Stellung immer mehr verloren, die Büchersamm-
lungen, ihre Festungen [Claustrum sine armario quasi castrum sine
armamentario], waren allzuklein und allzuwenig zahlreich. Der
Bestand an Büchern in den kirchlichen Schatzkammern oder den
klösterlichen Schreibstuben darf nicht überall und ohne weiteres
einer Büchersammlung gleichgeachtet werden. Nicht allein die kleine
Bücherzahl, die fehlende Ordnung, der mangelnde Plan wider-
sprechen dem. Auch die Bestimmung dieser Bücher hatte mit der,
einer Büchersammlung anzugehören, häufig nichts zu tun. Bald
dienten sie dem Kirchendienst und blieben unter dessen Kostbar-
keiten Wertanlagen, bald dem Erwerb durch Handschriftenher-
stellung. Die alten Handschriften waren mit den neu anzufertigen-
den meist im Skriptorium vereinigt. Lediglich die großen Klöster,
die reichen Stifte besaßen Büchersammlungen, die als solche gelten
konnten. Nicht nur deshalb, weil ihnen für deren kostspielige
Unterhaltung die Mittel zur Verfügung standen, sondern auch, weil
gerade sie den Gebildeten die Gelegenheit gelehrter Studien schufen.
Darauf deutet schon die Entwicklung des Klosteramtes eines Ar-
marius, eines Bücherverwalters, von der Stellung des auch die Ab-
schriftgüte und -richtigkeit beaufsichtigenden Leiters einer Schreib-
stube zu einer bibliothekarisch selbständigen Tätigkeit, die in den
Klosterregeln umgrenzt wurde. Die Beschränkungen des Kloster-
zwanges gestatteten indessen keineswegs überall eine freie Hingabe
an die Bücherlust. Auch das Lesebedürfnis war meist nicht so
stark, daß die Benutzung einer Büchersammlung deren Betrieb hätte
beschleunigen müssen. Die Regel der Schottenmönche in Wien
bestimmte, daß bei der alljährlichen, allgemeiner üblichen Bestands-
prüfung der Bücher diejenigen Mönche, die ein neues Buch erhalten
wollten, vor dem Abte eine Prüfung abzulegen hatten, ob sie das
zurückgegebene Buch nutzbringend studiert hatten. Bestanden
34
MITTEL ALTE R
sie diese Prüfung nicht, erhielten sie das abgegebene alte Buch
wieder.
Klangvolle Namen künden den Ruhm mancher mittelalter-
lichen Klosterbibliothek. Die Abtei von Montecassino in Unter-
italien, das von Alcuin gestiftete Martinskloster in Tours, die Abtei
von Corbie und die von St. Gallen erfreuten sich ihrer Bücherschätze
wegen des höchsten Ansehens, das durch die Jahrhunderte aufrecht
zu erhalten ihnen nicht gelang. Wir wissen durch Boccaccio, in
welche Verwahrlosung die Bücherei von Montecassino und durch
Poggio, in welche Verwilderung die von St. Gallen geraten war.
Eine eigene Entwicklung nahmen die KlosterbibUotheken der
britischen Inseln. Nirgends stand die Schreibkunst in so hohem
Ansehen als in Irland. Adamnan von Hi preist Columbans Beten,
Lesen und Schreiben als dessen drei große Tugenden, Gelehrter
und Schreiber waren eins. «Irland hatte ein anderes Verhältnis zur
antiken Kultur als das Festland, es stand ihr unabhängig, ja feindlich
gegenüber und zeigte diese Selbständigkeit auch in seinem Buchwesen.
Die Berührung mit Rom über Britannien war verloren gegangen;
neue Wechselbeziehungen knüpften sich über Südgallien weiter nach
den östlichen Ländern, als die Iren ihre Heimat verließen, um das
Christentum zu verbreiten, überall Klöster anlegend. Bald erstreckte
sich der irische Einfluß auf Britannien und Westeuropa. So war
England zu einer mächtigen neuen Provinz im europäischen Buch-
lande geworden. Damals bestanden in Deutschland nur wenige
Klöster, deren Reichtum ihnen die Anlage größerer Bücher-
sammlungen gestattete. Das Benediktinerkloster Lorsch besaß im
neunten Jahrhundert 600 Handschriften. Hersfeld, Fulda, Corvei,
St. Emmeran in Regensburg, St. Blasien, Murbach, Reichenau, Wein-
garten, Heilbronn, Konstanz, Chur, Melk, Klosterneuburg, Heiligen-
kreuz und andere Klöster und Stifter wetteiferten mit ihm in der
Buchpflege, der sich auch mancher deutsche Kirchenfürst widmete,
so der Erzbischof Lullus von Mainz [753—787]. Ähnlich wie der
Dom in Mainz hatten die bedeutenden Kathedralen ihre eigenen
Bibliotheken. Von Spanien bis Skandinavien standen Büchereien
in den Klöstern, ungleich an Wert, ungleich an Zahl, aber darin
»• 35
MITTELALTER
einander ähnlich, daß sie theologische Fachbibliotheken waren, wie
sie heute heißen würden, in denen die antike Literatur aufging, sich
der christlichen unterordnend und in ihr verschwindend. Immerhin
aber, wenn Hrabanus Maurus von der Büchersammlung in Fulda
zu melden wußte, sie enthalte alles, was Gott von der Feste des
Himmels in heiligen Worten verkündet, was die Weisheit der Welt
im Wechsel der Zeiten hervorgebracht habe, lag in des Lobspruches
Übertreibung doch auch eine nicht zu verleugnende Wahrheit, die
auf ein Bibliotheksideal wies. Damit in ihre Heimat die Klassiker
Roms von den sich über die Barbaren belustigenden italienischen
Humanisten zurückgeführt werden konnten, mußten diese kost-
baren Werke doch einmal erst von jenen geborgen gewesen sein. Das
ist ein bisweilen übersehener Umstand [ähnliches gilt ja auch für
die anderen nichtitalienischen Länder], der durchaus nicht auf ganz
und gar vereinzelte Sammlungen einos bücherfeindlichen Mittel-
alters verweist. Denn ebensowenig wie der Scholastizismus in seinem
Bemühen um die Vereinigung von Glauben und Wissen für seine
rationalistische Theologie darauf verzichtete, die antiken Klassiker
zu benutzen — gab er doch sogar dem Aristoteles die Stelle hinter
der Bibel und unterschied er sich darin doch von dem Humanismus
lediglich durch die Nüchternheit, mit der es ihm allein um den Sach-
inhalt der alten Werke zu tun war, während dieser die ästhetisch-
formalen-philologischen Prinzipien zum festen Ausgangspunkt nahm
— ebensowenig ist die antike Literatur überhaupt vergessen gewesen
in jenem Wortsinne, den das Bild von den geöffneten Gräbern der
Vergangenheit kennzeichnet. Anders nur als unwissend gewordene
Mönche lernten die Humanisten die alten Schriften wieder lesen.
Und anders auch als die Glaubenswissenschaft der klassischen Theo-
logie verstand die Gefühlswissenschaft, die Mystik, das Buch, für
dessen Erweckung sie in jener Umwertung des Denkens wirkte, in
der die Bücher wieder zu Führern geistigen Lebens werden sollten.
Das Buch, das lateinische Buch, hatte um das Jahr Eintausend,
seit der Epoche der sogenannten karolingischen Renaissance, eine
gefestigte Stellung neu erreicht. Der Abschluß des deutsch-römi-
schen Siedlungswerkes in den Völkerverschiebungen war teilweise
36
MITTELALTER
schon bis zu den Völkerverschmelzungen gediehen, in denen die
Behauptung der alten Bildung gegenüber den sich ihrer bemächti*
genden neuen Zivilisationen, die sie vorerst mit keinen gleich-
kräftigen Kulturwerten durchdringen konnten, gelang. Karl der
Große [742 — 814], der das Abendland beherrschte — dem Bereiche
des von ihm geschaffenen römischen Imperiums blieben auch geistig
nur die britischen Inseln, Spanien, Süditalien entzogen — konnte in
seinen Bemühungen die Bildung durch das Buchwesen zu fördern
und innerlich zu vereinheitlichen, sich noch nicht auf ein deutsches
Schrifttum stützen, das erst seit dem elften Jahrhundert Geschlossen-
heit gewann. Aber er dachte doch daran, daß dessen Anfänge vor-
handen seien und er ließ die alten Heldenlieder, die alten Volkslieder
aufzeichnen; bemühte sich um die Reform der Schrift ebenso wie
um die des Bibeltextes, für die er Mitarbeiter aus allen Teilen des
Reiches heranzog, auch Griechen und Syrer, die in dem von ver-
römerten Franken bewohnten Gallien in großer Zahl lebten. Die
Aachener Kaiserpfalz wurde der Mittelpunkt aller dieser Bestrebungen,
deren Fäden von hier ausliefen und sich hier wieder zusammenflochten.
An dem Hofe des Mannes, der sich Kaiser Konstantins Nachfolger
dünken durfte, lebten in seiner nächsten Umgebung Dichter, Ge-
lehrte, Gedichtschreiber, die in der antiken lateinischen Literatur
zu Hause waren. Wenn der in Bewegung gebrachte und auf feste
Ziele gelenkte Sammeltrieb bei der Bücherwahl den juristischen,
historischen, theologischen Werken den Vorrang einräumte, wenn
die ästhetischen Tendenzen noch zurücktraten, so lag das vielleicht
weniger an einer Unkenntnis oder Unterschätzung der antiken Lite-
ratur überhaupt als an dem für sie geänderten Wertmesser in den
neuen gesellschaftlichen Zuständen. Die Absicht des Kaisers, sich
die guten Texte guter Werke zu besorgen, tritt überall hervor. Alcuin
besorgt Bücher durch seine angelsächsischen Freunde; Handschriften-
geschenke, die aus Italien kamen, waren dem Kaiser wohlgefällig;
der Abschriftenbetrieb wurde geregelt, die an der kaiserlichen Pfalz
bestehende Schreibstube gab wenigstens den ostfränkischen Kirchen-
klöstern das Vorbild. Auch die Buchschönheit, die Handschrift in
ihrer Prachtentfaltung verstand der Kaiser zu schätzen. In der
^ -^^^ 37
MITTELALTER
Aachener Pfalz wurden Normaltexte zur allgemeinen Benutzung und
Vergleichung ausgelegt, deren Lesarten an den Rand der mit ihnen
verglichenen Manuskripte vermerkt wurden. Dauer entsprach solcher
Vielseitigkeit nicht. Die von Karl dem Großen in Aachen begründete
Bücherei hinterließ er den Armen, zu deren besten sie verkauft
werden sollte; eine andere schenkte oder vermachte er der von ihm
erbauten Abtei Isle le Barbe bei Lyon. Ein Brauch, den ebenso seine
Nachfolger, soweit sie über einen eigenen Büchervorrat verfügten,
übten. Die Bildung großer weltlicher Zentralbibliotheken gelang im
lateinischen Mittelalter nicht, da die festen Residenzen der Fürsten
noch fehlten und die allgemach sich ausbildenden hohen Schulen
noch keine Hauptstädte im internationalen Reich der Wissenschaften,
unabhängig von kirchlicher Vorherrschaft, sein konnten. Der Turm-
bau zu Babel hatte für die antike Welt und für die des Mittelalters
nicht die Bedeutung gehabt, in der er den Nationen einer neuen
Zeit erscheinen mußte, deren Bücher in allen Zungen zu reden an-
fingen, deren Büchermassen eine Welt für sich entstehen ließen,
die zu durchforschen und zu übersehen ein Menschenleben nicht aus-
reichte. Die alten Büchersammlungen, so hoch ihre Bücherzahl
gewachsen sein mochte, waren ein Kosmos gewesen. Nun aber be-
gann sich die Bücherwelt im Chaos aufzulösen, wenn nicht der Be-
griff des Buches und mit ihm der des Schrifttums einen eigenen
Mittelpunkt, einen selbständigen Sinn, erhielt. Ihn aufgefunden zu
haben, war das Verdienst derjenigen, die zuerst erkannten, daß die
Vertreter des geistigen Selbstbewußtseins aller Völker deren Bücher
sind.
38
II. ITALIEN
Das Erbe der antiken Literatur war zerstreut worden, weil die
Erben fehlten, die sich zu ihm als einem untrennbar verbun-
denen Ganzen bekannt hätten. In dem geschichtswissenschaftlich
mittleren, als dem Bindeglied zwischen dem alten und neuen, Zeitalter
europäischer Kultur waren deren antike Traditionen nicht verloren
aber zerrissen worden. Sie als die klassischen zu einem humanistischen
Ideal wieder zusammengefaßt zu haben war der Erfolg der nach
diesem Ideal benannten geistigen Bewegung gewesen, in derem Ver-
«
laufe die Entdeckungsreisen in die Vergangenheit mit ihren Ergeb-
nissen von neuem die Auffassung der beiden getrennten großen alten
Zivilisationen, der griechischen und der römischen, als eine Einheit
begründeten. Und damit die Durchdringung abendländischer, be-
reits von der morgenländischen befruchteten Bildung und Gesittung,
Dichtung und Forschung mit internationalen und nationalen Ele-
menten einleiteten. Die Auswirkungen des Humanismus folgten dem
geschichtlichen Verlaufe des Verlorenwerdens antiker Kultur. Sie
begannen, da im Abendlande allein die lateinische Sprache ihre Vor-
herrschaft gewahrt hatte, in Italien mit der Aufdeckung römischer
Schrifttumsdenkmäler; sie setzten sich fort mit der Bergung by-
zantinischer Bücherschätze vor den Osmanen. „Da stieg der schöne
Flüchtling aus dem Osten, der junge Tag im Westen neu empor und
auf Hesperiens Gefilden sproßten verjüngte Blüten loniens hervor."
Diese Verse Schillers vertreten noch die Ansicht eines dunklen
Mittelalters, die aufzuhellen seitdem die Geschichtswissenschaft sich
bemühte, so daß die Buchhandschriftenzeit Europas nicht mehr wie
in seinen Tagen als das Zeitalter verlorener Zivilisationen gilt.
In Italien mit seinen vielen Bildungsstätten, im Lande der heid-
nischen Überlieferungen und des Machtmittelpunktes der christ-
lichen Kirche, vollzog sich zum zweiten Male die Aufnahme des
Griechentums durch das Römertum im dreizehnten und vierzehnten
Jahrhundert. Wenn Weltanschauungen wechseln, wenn im Auf-
dämmern einer neuen Welt die alte sich auflöst, herrscht ein Zwielicht,
das alle klaren Umrisse verschleiert. Undeutlich nur ist der Ur-
39
ITALIEN
Sprung von Humanismus und Renaissance, von der Rückkehr zur
Antike, in den Sehnsuchtstrieben nach der geistigen Wiedergeburt
zu erkennen, die die Erlösung vom Dogma, der Christlichkeit von der
kirchlichen Christenheit, wollten. Und damit die Bande lösten, in
denen die Stellung des Einzelmenschen zum Gemeinschaftsgefühl und
zum Gesamtbewußtsein der Gesellschaft gehalten wurde. Die, von
der Autorität der Kirchenlehre befreiend, gegenüber der geschicht-
lichen Vergangenheit auch im Heidentum göttliche Vorsehung an-
erkennen mochten; eine angenommene Feindschaft zwischen Geist
und Natur versöhnen wollten. Das gab den mannigfachen nationalen
und religiösen gegenläufigen Strömungen ihre wilden Wirbel, aus
denen vor den anbetenden Augen, wie nach der Sage die Göttin der
Schönheit, die Antike emporstieg, das Altertum zur Gegenwart
machend. — ,,Wert und Sache der Renaissance erhält zweifache
Geltung, sei es, daß ein Volk sich auf die eigene Vergangenheit be-
zieht, sei es, daß sie auf die Vergangenheit eines anderen Volkes be-
zogen werden, dessen Rechtsnachfolge das erste anzutreten, dessen
Leben es noch einmal durchzuleben brennt." [J. Nadler.] Italiens
rinascita war ein Besinnen auf des Landes eigenes Leben. Im An-
fange des dreizehnten Jahrhunderts anhebend mit einer gewaltigen
ethisch-religiös gerichteten Reformation, deren Träger Franz von
Assisi wurde, der eine auf die geistige Weltherrschaft gerichtete innere
Wiedergeburt des Menschen wollte, sie in der von ihm erweckten
Sprache seines Volkes diesem predigte; sich weiter fortsetzend in
ethisch-politischen Strebungen, die die nationale Idee des alten
Italien, des alten Rom, wachriefen, weckte sie allgemach auch das
Bewußtsein für den geistigen und künstlerischen Gehalt der Antike,
den deren Bücher umschlossen. Zu diesen führte der Weg zurück
über die Klosterschreibstuben, zu Cassiodorius, den letzten Römer.
So war aus einem nationalen Bewußtsein die Bibliophilie der Huma-
nisten in der Frührenaissance hervorgerufen worden; so war auch sie
eine Gegenbewegung des lateinischen Volkes gegen das fremde
Wesen der Eroberer geworden: ein Kampf für die Einheit und Frei-
heit Italiens, für deren Ideen zu gewinnen die klassische Literatur
eine internationale Macht wurde. Daraus aber erklärt sich auch der
40
14. JAHRHUNDERT
die Barbaren abwehrende geistige Hochmut der italienischen Hu-
manisten, der unverständlich wäre, wenn sie nur die alten Bücher
hätten hervorholen wollen, um sie in neuen Bücherstuben zu ver-
wahren.
Dante, Petrarca, Boccaccio, die italienischen Dichter des
Quattrocento, wurden auch seine führenden Humanisten, die Be-
jaher einer neuen Lebensauffassung. In Italien wandte man sich
zuerst den antiken Buchdenkmälern wieder zu, hier kehrte man aus
den Gefilden des Jenseits in die Gegenwart des Menschentums
zurück, hier behauptete man kühn die Persönlichkeit, die sich jahr-
hundertelang zu eigenem Dasein emporgerungen hatte, gegen die
Gesellschaft. Damit aber kam auch ein neuer Stand aus allen anderen
Ständen wieder zu eigenem Recht im Gemeinschaftsleben, der der
Gebildeten. Und der Bildungsträger wurde das Buch, dem, als der
Hauptstrom des Humanismus in seinem Quellgebiete und in den
von ihm durchzogenen Ländern um die Mitte des fünfzehnten Jahr-
hunderts versiegte, der deutsche Gutenberg die neue Form einer
Geisteswaffe und eines Geisteswerkzeuges schuf. Der Gegensatz
zwischen Gelehrsamkeit und Unwissenheit, zwischen Laien- und
Pfaffentum, verringerte sich und verschwand; man lernte lesen, vom
Begreifen der Buchstaben bis zum Verstehen der Gedanken. Mächte
und Menschen änderten sich durch die Anschauungen, die die Ent-
deckungsreisen und die Erfinderwerkstätten brachten. Die Denk-
richtungen in den Geisteswissenschaften, die Erkenntnisse in den
Naturwissenschaften bedingten einander. Nicht allein die Erde er-
weiterte sich dem Gesichtskreise, auch das Gedächtnis der Mensch-
heit dehnte sich im Buche über Räume und Zeiten aus. Überall
berichtigte man mit kritischen Maßstäben den gewaltig gewaltsam
sich ausdehnenden Umblick. Die Fernen weiteten sich und ließen
die Heimat schätzen, der Verkehr näherte die Völker und trennte sie
auch wieder. Kosmopolität und Nationalität, Staatenstolz und Welt-
bürgertum wurden mit- und nebeneinander der Ausdruck des neuen
geistigen und seelischen Wesens, das ebenso in den Landessprachen
die Nationalpoesien weckte wie in den Wissenschaften das Ansehen
der Glieder einer internationalen Gelehrtenrepublik bestimmte;
41
ITALIEN
lange in dem einer akademischen Bildung als der vollendetsten nach-
wirkte. Mit dem Hervortreten der Persönlichkeit wuchsen die Ver-
fasser und ihre Werke, kam die Rangordnung im Schriftum wieder
zur Geltung. Es begann eine literarhistorische Neuordnung, die neben
die Bibel und die Kirchenväter die antiken Klassiker stellte. Das
Buch erhielt Eigenwert, weil sich in ihm Verfasser und V^erk ver-
körperten. Das beflügelt gewordene gedruckte Wort gewann eine
immer stärkere Stellung als ein Vermittler von Lehre und Zeitung;
der Begriff der Gedankenfreiheit verschmolz mit dem der Freiheit
der Presse. Die Philosophie, die als eine Emanzipation von der
Theologie begonnen hatte, verschärfte sich bis zur Gegnerschaft
gegen die Kirche, weil auch die Gegensätze zwischen antiker und
christlicher Gesinnung sich langsam wieder verschärften. Humanis-
mus und Renaissance wurden zur Reformation, zu der politisch-
sozialen Auseinandersetzung, die im europäischen Norden beginnt,
dessen Renaissance auf anderen Voraussetzungen beruhte als die
italienische.
Die ästhetisch-formalen Interessen, die anfangs den Humanis-
mus leiteten, machten auch die BibliophiUe und die klassischen Stu-
dien gleichwertig und gleichzeitig. Als die Geschichte der Hand-
schriftenrettung aus Klostergräbern und vor der Türkengefahr
beginnt der Humanismus, um durch Kritik der Texte und Methodik
des Sammeins ohne pädagogisch-theologische Tendenzen zur Philo-
logie, aus einer Weltanschauung zu einer Wissenschaft zu werden.
Dem entsprach es, daß nicht die Fakultäten in Bologna und Salerno
seine frühesten Pflegestätten geworden sind; daß er, von den Ver-
tretern der freien Künste verkündet, von den Sophisten vergleich-
baren Wanderrednern, sich allmählich erst dem staatlichen Uni-
versitätszwange unterwarf, wo dann das Ideal humanistischer Spät-
zeit, der Alleskönner und AUeswisser, der Universalist, über die
Polymathie in die Polyhistorie zurückgelangte.
Die Bücherei Petrarcas ist einmal [von Voigt] die erste moderne
Privatbibliothek genannt worden. Darin mag eine übertreibende
Verallgemeinerung gefunden werden. Soviel bleibt aber an diesem
Worte zu Recht bestehen, daß es den Bibliophilen- Humanisten
42
14. JAHRHUNDERT
rühmt, dessen Büchersammlung und dessen Persönlichkeit sich nicht
trennen lassen; der in seinen Büchern aufging wie sie in ihm; dem die
Bücher, die er erwarb, zu Büchern wurden, die er kennen lehrte,
nicht allein kennen lernte. Bewußt hat Petrarca in einer Biblio-
sophia, die sich überall in seinen gelehrten Werken zeigte, das Buch
dem Menschen näher gebracht, es erhöhend in seinen Lebenswerten,
nicht schreckend vor den Zweifeln, mit denen , Überlegung* die
, Zufriedenheit' in jenem Zwiegespräche der Abhandlung: ,,De re-
mediis utriusque fortunae" bedrängt, in der Petrarca, den aus der
neuen Buchverehrung seiner Seele entstandenen Zwiespalt auf-
deckend, die erste moderne Psychologie des Bibliophilen geschrieben
hat. — ^^Freunde habe ich, deren Gesellschaft mir sehr wert ist. Allen
Ländern und Zeiten entstammen sie, mit Ehren hat sie ihre Gelehr-
samkeit überhäuft. Dabei ist es leicht, mit ihnen zu verkehren,
denn sie stehen mir immer zu Diensten, immer sind sie willfährig,
mir Antworten auf die Fragen zu geben, die ich ihnen stelle. Die
einen berichten mir von den Geschehnissen vergangener Tage, die
andern entschleiern mir die Geheimnisse der Natur. Von diesen lerne
ich, wie ich zu leben, von jenen, wie ich zu sterben habe. Manche
erheitern meinen Geist durch Munterkeit und scheuchen meine Sor-
gen hinweg. Andere geben meinem Geiste Kraft und lehren mich
das Wichtigste, den Wünschen zu gebieten und auf eigenen Füßen
zu stehen. Kurz, sie öffnen mir die Tore zu allen Künsten und
Wissenschaften, auf ihre Belehrung kann ich mich immer verlassen.
Und als Gegenleistung für alles das, was sie mir bieten, verlangen sie
nichts weiter als einigen Raum in irgendeiner Ecke meines be-
scheidenen Hauses." — So bekannte sich Francesco Petrarca zu den
Büchern, in dem Jahrhundert der Entdeckung des Buches, und mit
ihm der europäischen ,, Literatur", einer seiner Entdecker, immer sein
Diener und sein Herr, ein Bibliophile und ein Humanist. Die Alten
waren ein Jahrtausend verstummt gewesen, nun begannen sie von
neuem zu reden. Nicht zu allen, vorerst nur zu wenigen, die aus
den Beschränkungen des Denkens unter theologischem Zwange zu
einer allgemeinen menschlichen Bildung den Ausgang suchten. In-
dem diese Pfadfinder auf neuen Gedankenwegen die Bibel, das Buch
43
ITALIEN
des ,Mittelaltcrs', in den Händen der Theologen ließen, bekamen sie
die eigenen Hände frei, um die heidnischen Schriften aus deren
Bücherverstecken herauszulesen. Das gab Bewegung der Sammeln-
den, ihrer Geister und Gemüter. Dadurch entstand aber auch ein
anderes Verhältnis zu den Büchern, das noch auf anderen Emp-
findungen und Einsichten beruhte als auf der Anschauung: ein Buch
sei nur Gedankenträger und Weiterträger; ein Notbehelf, um flüch-
tigen Worten Dauer und Zusammenhalt zu schaffen. Man begann,
das Buch als eine eigene Einheit, als die Verkörperung eines Werkes
zu betrachten; in seiner körperlichen Nähe die Persönlichkeit seines
Verfassers zu spüren. Immer, wenn sie über ihren Umgang mit den
Büchern reden, sprechen die Humanisten davon, daß sie ein freund-
schaftliches Verhältnis zu den Büchern haben. Und wenn sie sich
beugen vor der Autorität des Buches, wenn ihre Buchverehrung
sich ständig steigert, ist es die Ehrfurcht vor dem hohen Geiste, den
das Buch hüllt und vertritt. Darum verehren sie die Buchgestaltung
mehr als anderen Hausrat, mehr als andere den Menschen ge-
gebene Verständigungsmittel. Denn aus der Enge eines Menschen-
lebens trägt sie das Buch, der Genosse ihres Lernens, in die Weiten,
über die ihrem Dasein gezogenen Grenzen von Raum und Zeit. Es
ist das Machtempfinden des menschlichen Geistes, das mit diesem
Bundesgenossen sich den Sieg über das Universum träumend, zu
einem Universalismus wird, dessen Grundbau ein allumspannendes
Wissen in den Wissenschaften sein soll. Bis dann der Begründung
und Eroberung des humanistischen Europa durch das Buch die
Zweifel an der Möglichkeit eines solchen Wissens kamen, die den
Humanisten noch Zweifel an ihrer eigenen Persönlichkeit gewesen
waren und den Philosophen zu Zweifeln an der Ausdehnung der
Grenzen der Menschheit wurden. Francesco Petrarca [1304 —
1374]* ist in seinen unruhigen Wanderjahren kein Bibliotaph ge-
wesen, manches Büchergut mag ihm beim Verleihen und bei dem
ständigen Wechsel seines Aufenthaltsortes verlorengegangen sein
wie jene von ihm beklagte unbekannte Schrift Ciceros. Um 1337,
als er sich in die Einsamkeit von Vaucluse bei Avignon zurückzog,
um sich ganz den klassischen Studien zu widmen, dachte er daran,
44 * Abb. II, 13
14. JAHRHUNDERT
seines Bücherreichtums sich in gelehrter Muße zu erfreuen. Aber die
Dichterkrönung in Rom [1341], die er der gleichen ihm von der Pariser
Universität angebotenen Ehrung vorgezogen hatte, die Beziehungen,
die er zu Cola di Rienzo fand, der Tod Lauras trieben ihn in neue
Unrast. 1353 verließ er Vaucluse, um an den Hof der Visconti nach
Mailand zu gehen, von hier aus ein neues Wanderleben beginnend.
Vor dem Kriege und der Pest fliehend war Petrarca im Sommer
des Jahre 1362 von Mailand über Padua nach Venedig gekommen,
wo er sich einen neuen, sicheren Wohnsitz gründete. Daß er fortan
hier bleiben wollte, zeigte eine heute noch im Archiv von Venedig
aufbewahrte Urkunde, in der er durch Vermittlung seines Freundes
Benintendi, des Kanzlers der Republik, dieser das Angebot machte,
seinen Bücherschatz der Markuskirche zu hinterlassen, unter der
Bedingung, daß ihm eine ihm genehme Behausung zur Verfügung
gestellt werde. Zwar entsprach der Große Rat dem Verlangen des
Dichters, der in den Jahren 1362 bis 1367 [1369] den Palazzo di Due
Torri an der Riva degli Schiavoni bewohnte, zu einer Erfüllung des
Vermächtnisses aber ist es, wie lange eine Legende annahm, nicht
gekommen. Mit seinen Büchern zog sich der Ruhelose nach Arquä
in das Haus zurück, das er sich hier gebaut hatte; vermutlich seiner
Gesundheit wegen, der das Klima der Lagunenstadt unzuträglich
war und weil er hier Francesco da Carrara, dem Herrn von Padua,
einem ihm ergebenen Freunde, nahe sein wollte. Da er als dessen
Gesandter späterhin nach Venedig ging, darf daraus geschlossen
werden, daß die Beziehungen Petrarcas zu der Republik die besten
geblieben waren, daß auch der Dichter an dem einmal geschlossenen
Vertrage festhielt. In seinem 1370 niedergeschriebenen Testamente
erwähnt er seine Bücher nicht, mit Ausnahme eines Gebetbuches
ohne hohen Wert, das er in Venedig gekauft hatte. Ein Umstand,
der [nach Schreibers Vermutung] vielleicht zeigt, wie Petrarca die
Bedingungen jenes Vertrages auslegte: seine Bücherei gehörte nach
seinem Tode Venedig, soweit sie beim Vertragsabschlüsse schon
vorhanden war. Bücher sammelnd und Bücher schreibend, obschon
die Bücherlust als eine Eitelkeit beklagend, ist Petrarca in einer
Sommernacht des Jahres 1374 entschlafen. Am Morgen des 19. Juli
45
ITALIEN
fand man ihn über einem Buche niedergesunken, tot. Damals be-
fanden sich Carrara und Venedig in einem Kriegszustande, der es
erklärUch macht, weshalb die Erbschaftsansprüche auf den Nachlaß
Petrarcas, auf seine wenig wertvollen und wenig zahlreichen Bücher,
wie er selbst sie in ihrem Angebot eingeschätzt hatte, nicht geltend
gemacht werden konnten. Um so eifriger waren die Freunde des
Dichters bedacht, dessen literarischen Nachlaß zu sichern; vor allem
die noch unbekannten Werke, das lateinische Heldengedicht Africa,
dessen Vernichtung Petrarca gewünscht hatte und die italienischen
Trionfi. Aus solcher Sorge warnte ein Brief Boccaccios, den er im
November 1374 an Petrarcas Schwiegersohn, Francesco da Brossano
schrieb, vor allzuraschen Bestimmungen über das unschätzbare
Büchergut. Mit der Ordnung und Verwahrung der eigenen Werke
Petrarcas betraute Carrara dessen Freund Lombardo della Seta, er
wird wohl auch die sonstigen 69 Bände des Dichters, die Haupt-
masse von dessen Bücherei, erworben haben, die aber bald doch ver-
kauft und zerstreut werden sollten. Das beklagte sechzig Jahre nach
Petrarcas Tode Poggio in der Grabrede, die er einem anderen be-
rühmten Bibliophilen- Humanisten, dem Florentiner Niccolo Niccoli
hielt. Carrara war im Jahre 1388 von dem Verbündeten der Republik
Venedig, Gian Galeazzo Visconti, Herrn von Mailand, besiegt wor-
den. Zu den Beutestücken gehörte auch die Bibliothek Carraras,
die so in die der Visconti nach Pavia gelangte. Unter diesen Büchern
war auch die Homerübersetzung des Leontius Pilatus, die auf Kosten
Boccaccios und Petrarcas angefertigt und mit des letztgenannten
Randschriften versehen war, ein von den italienischen Humanisten
des fünfzehnten Jahrhunderts vielgebrauchtes und vielgenanntes
Werk.* Als dann der letzte Herzog von Mailand, Ludovico Sforza,
II Moro, 1500 von Ludwig XII. gefangen genommen wurde, kam
seine Büchersammlung in die des französischen Königs nach Blois,
mit ihr 1544 nach Fontainebleau und schließlich in die Bibliotheque
royale nach Paris, in die heutige Nationalbibliothek. Den kost-
barsten der Petrarcabände in der Sforzabibliothek hatte ein Bürger
Pavias, Antonio di Pirro, vor der Plünderung gerettet, die Vergil-
handschrift, in die der Dichter seine Eintragungen über Lauras Tod
46
* Abb. 12
14. JAHRHUNDERT
und andere ihm nahestehende Personen gemacht hatte. Sie war an
seinen Arzt Dondi dell' Orologio gelangt und vermutlich von dessen
Neffen und Erben an Carrara verkauft worden. 1600 erwarb der
Kardinal Francesco Borromeo das Buch für die Ambrosiana in
Mailand, die er eben begründete, 1796 nahm es Napoleon nach Paris
mit, 1815 wurde es der Biblioteca Ambrosiana zurückgegeben. Es
war ein Lieblingsbuch Petrarcas und eines seiner ersten Bücher ge-
wesen, eine Anmerkung seiner Hand erwähnt, daß es ihm am 1. No-
vember 1326 gestohlen und am 1. April 1338 zu Avignon wieder
zurückerstattet worden sei.
Florenz wurde nach Petrarcas Tode die Hauptstadt des
Humanismus, in der seine besten Freunde und hervorragendsten
Schüler lebten, lehrten, sammelten: Luigi Marsili [1330—1394],
der Gründer der Academia di Santo Spirito — der ersten Anstalt,
in der die freie, die fröhliche Wissenschaft außerhalb der Kirche
und der Universitäten eine Unterkunft fand — und redliche Theo-
loge, Coluccio Salutati [1331—1406], der Kanzler der Signorie,
der die Antike in das Staatsleben einführte, vor allem Giovanni
Boccaccio [1313—1375].* Sein Vater hatte den Verfasser des De-
camerone, des Buches, das seine Zeitgenossen lachend lasen und ge-
lehrter Werke, derentwegen sie ihn bewunderten, zum Rechts-
gelehrten gemacht. Er selbst aber bevorzugte die humanistischen
Studien, die poetischen Tändeleien und das weltliche Treiben am
lustigen Anjouviner Hofe in Neapel, bis er, nachdem er im Pestjahr
1349 seinen Vater verloren hatte, nach Florenz zurückkehrte und
im folgenden Jahre Petrarca kennen lernte, seitdem ihm in enger
Freundschaft verbunden bleibend, die in ihrer Bücherliebe und
Sammelleidenschaft wurzelte. Zwar durfte der lustige Hans seinen
Aufwand beim Bücherkaufen nicht so weit treiben wie Petrarca,
der Geld genug hatte, um dann und wann mehrere Schreiber zu be-
schäftigen oder die Ausstattung einer Prachthandschrift zu bezahlen.
Allein dem eigenen Fleiß hatte er die Vermehrung einer sehr ansehn-
lichen Bücherei zu verdanken,* was ihm sein Biograph Giannozzo
Manetti hoch anrechnete: „copiam transcriptorum suorum intuen-
tibus mirabile quiddam videri soleat hominem pinguiorem, ut eins
* Abb. 14, 15 47
ITALIEN
corporis habitudo fuit, tanta librorum volumina propriis manibus
exarasse, ut assiduo librario qui nihil aliud toto fere vitae suae
tempore egisset satis superque esset/* Daß der belesene Entdecker
des Tacitus auf seinen Dienstreisen und diplomatischen Missionen
die Gelegenheiten zu nutzen pflegte, verstand sich in jener bücher-
armen Zeit von selbst. Man mußte wissen, wonach man suchte,
wenn man den Eintritt in eine gar nicht geordnete Klosterbibliothek
erhielt. Es waren ja auch meist nicht sehr beeilte Fahrten, auf denen
Boccaccio die Kiste mit den Lieblingsbüchern mitnahm. Da das
Abschreiben oder das Kaufen die beiden einzigen Möglichkeiten
gaben, den Bücherschatz zu vermehren, war die Buchleihe eine Ge-
fälligkeit nicht geringen Wertes und es hieß schon Bücher tauschen,
wenn man sich verschiedene Werke gegenseitig zum Abschreiben
anvertraute. 1362 brachte in die ungebundene Heiterkeit des Hu-
manisten Boccaccio ein Kartäusermönch mit seinen Mahnungen
die christliche Hölle, vor der der lebenslustige Mann erst allen welt-
lichen Anfechtungen entsagen und selbst auf die Bücherlust ver-
zichten wollte. Einen Entschluß, den er mäßigte, um in Certaldo
in der Einsamkeit unter seinen 200 Bänden zu weilen, die ihm
Augenweide und Seelentrost blieben, seines Daseins Reichtum.
,,Plus cum alignibus meis libellis parvulis voluptatis sentio, quam
cum magna diademate sentiant reges" bekannte er einmal, in einem
Briefe an Zanobi da Strada. Er, der nicht wie Petrarca in für die
Nachwelt bestimmten Briefen, in denen man für die Beziehungen
zwischen Bibliophilie und Humanismus die psychologischen Er-
klärungen findet, über die Abenteuer seiner Bücherfahrten und
Bücherträume geschrieben hat, bald die Enttäuschungen beklagend,
bald die Funde bejubelnd. Den Auftrag der Stadt Florenz, Dantes
göttliche Komödie öffentlich zu erklären, den er 1373 erhielt, hat
Boccaccio nicht mehr lange ausführen können. Sich ihm widmend,
die philosophisch-theologische Gelehrsamkeit des bewunderten Wer-
kes auslegend, nicht dessen dichterischen Tiefsinn ergründend, ist
der Mann gestorben, dessen Meisterwerk einst, unbewußt, Dantes
Gesänge parodiert hatte. Mit ihm fiel die letzte der drei Kronen
von Florenz ins Grab, unter deren Herrschaft lange noch Bibliophilie,
48
^
1
14. JAHRHUNDERT
Humanismus und Poesie in Italien blieben. Seinem Beichtvater,
Fra Martino da Signa, hinterließ Boccaccio seine Bücher unter
der Auflage: ihre allgemeine Benutzung zu gestatten, durch ein
Epitaffio, eine Gedenktafel, deren antike Mode auch weiterhin in den
italienischen Sammlungen befolgt wurde, an den Buchfreund und
Büchersammler zu erinnern, sowie sie als Stiftung dem Kloster San
Spirito in Florenz, dem jener angehörte, zu vererben. Eine Bedin-
gung, die der 1387 gestorbene Freund getreulich erfüllt hat. Aber
Boccaccios Erbe war in die Obhut nachlässiger Mönche gekommen,
die es nicht zu hüten verstanden, die es ungenutzt verstauben ließen.
Bis es ein anderer Florentiner Bücherfreund, Niccolö Niccoli, noch
einmal, es ehrfürchtig rettend, sammelte und die Handschriften,
soweit sie noch vorhanden waren, in einem schönen, der Kloster-
bibliothek von ihm gestifteten Schranke aufstellen ließ, in dem sie
der Feuersbrunst, die in der Nacht vom 21. auf den 22. März 1471
die Kirche von San Spirito vernichtete, entgingen, aus dem sie aber,
vermutlich beim Klosterumbau gegen 1560, verloren und nur zu
einem kleinen Teile wiedergefunden worden sind.
Boccaccio hat, in der Vorrede seiner ,,Genealogia Deorum", der
Bücher Untergang und Verderben mit wehmütigen Worten beklagt.
Mensch und Natur wüten gegen das Buch, Geiz, Nachlässigkeit,
Rachsucht, Feuersbrünste, Überschwemmungen und die grausamste
aller Bücherfeinde, die Zeit. Als er einst, nach einem Berichte seines
Schülers Benvenuto da Imola, auf einer Reise in Kampanien, fröh-
lichen Herzens die berühmte Klosterbibliothek in Montecassino be-
suchte, hatte er sie weinend verlassen, weil er es nicht ertragen
konnte, die geliebten Bücher in solcher Unordnung und Verkommen-
heit zu sehen, wie sie für ihren mißachtetsten Besitz den Mönchen
noch gerade gut genug schien. Die bedachte Buchpflege hat in der
großen humanistischen Bücherrettung keine geringe Rolle gespielt;
sie hat die Ausbildung des Büchersammelwesens, in dem Florenz
das Muster gab, gefördert. Auch darin ist die Bücherliebe Petrarcas
und Boccaccios vorbildlich gewesen, die selbst in ihren Übertreibun-
gen den richtigen Weg zeigte. Hatte nicht Petrarca, der kein grie-
chisch konnte, seinen griechischen Homerkodex über alles verehrt?
BOGENG 4 49
ITALIEN
Und hatte nicht Boccaccio, der kaum ein sehr viel besserer Gräzist
war, dafür gesorgt, daß die lateinische Homerübersetzung des Cala-
bresen Leontius Pilatus, dem er in Florenz einen Lehrstuhl für die
griechische Sprache verschafft hatte, vollendet wurde und sie eigen-
händig ins Reine geschrieben? So hat er, der Petrarca an kritischer
und künstlerischer Fähigkeit, die Klassiker aufzunehmen, nicht
gleichkam, darin doch das maßgebende Beispiel des Betriebes
wissenschaftlicher Übersetzungen gegeben, desjenigen Verfahrens,
durch das der Eintritt nach Hellas von den italienischen Humanisten
gesucht wurde, die selbst nur selten sich entschlossen, die fremde
Sprache in deren Heimatlande zu lernen. Die Erkenntnis des griechi-
schen Ursprunges des römischen Schrifttums war noch rechtzeitig
genug für das Rettungswerk der begeisterten Handschriftenforscher
und Handschriftensucher gekommen, die nun im Hellenismus ihren
humanistischen Idealen huldigten und die Denkmäler antiker Kultur
und Literatur, die in den Balkanländern, in Byzanz vorhanden waren,
nach Italien zu schaffen keine Kosten und Mühen scheuten. DerVor-
ort der neuen Richtung des Büchersammelwesens wurde Florenz, die
Führung übernahmen die Medici. Manuel Chrysoloras [gestorben
1415 in Konstanz], den der Kaiser Manuel Paläologos 1391 nach
Italien gesandt hatte, um hier Hilfe gegen die Osmanen zu werben,
hatte 1396 sein Vaterland, ohne die Verbindung mit ihm zu lösen,
verlassen und lehrte, von 1403 bis 1407 in seiner Heimat weilend,
von 1408 bis 1410 das Griechische in Spanien, Frankreich, England,
die übrige Zeit in verschiedenen Städten Italiens : Venedig, Florenz,
Pavia, Rom. Die Gräzisten, die er in seiner Schule bildete, gaben
den humanistischen italienischen Bücherreisen, deren feste Stütz-
punkte die florentinischen und venetianischen Handelsnieder-
lassungen in der Levante wurden, ihren geistigen heimatlichen Rück-
halt. Die Gönner der Unternehmungen aber wurden die Kaufherren,
deren Mäzenatentum die Mittel schaffen mußte. Als Giovanni
Aurispa [1370 — 1459], ein Sizilianer, Ende 1423 von einer zwei-
jährigen Levantereise zurückkehrte, schickte er den Bibliophilen
in Florenz, die die Medici dort um sich vereinten, einen Vorboten
seiner Ankunft, jenen kostbaren Band, der sieben Tragödien des
50
15. JAHRHUNDERT
Sophokles, sechs des Äschylus sowie die Argonautica des ApoUonios
barg und den heute die Biblioteca Laurenziana verwahrt. 238 Klassi-
kermanuskripte hatte er von seiner Bücherreise heimgebracht, die
zu erwerben er sein ganzes Vermögen hingeben mußte. Sogar seine
Kleider hatte er verkauft und sich dem Bruder Cosimos de' Me-
dici [1389 — 1464],* Lorenzo, mit 50 Goldgulden verschuldet. Sein
Beispiel fand Nachahmung: Francesco Filelf o [1398—1481] brachte
einige Jahre später aus Byzanz eine kleinere, mit jener ersten nicht
zu vergleichende Sammlung nach Florenz, die ebenfalls Lorenzo sich
zu eigen machte, so daß sie durch ihn an die Laurenziana überging.
Bauten und Bücher, diese Leidenschaften des Rinascimento
und ihre Liebhabereien, mußten in dem bereits von Petrarca gehegten
Gedanken einen gemeinsamen Ausdruck finden können, beides mit
der Ausgestaltung öffentlicher Büchersammlungen zu vereinen.
Wenn trotzdem nur Bücherkammern und Büchersäle entstanden,
der Bibliophilie keine Monumente in der Form ihr dienender Paläste
errichtet worden sind, so ist dafür die Erklärung unschwer zu finden.
Die Büchermenge der einzelnen Sammlungen war doch noch zu klein,
als daß sie schon die architektonische Prachtentfaltung gerecht-
fertigt hätte. Pläne, wie diejenigen Papst Nikolaus V., wiesen in
die Zukunft. Aber der Gedanke, daß das Büchersammeln der Alt-
gemeinheit zugute käme, blieb lebendig. Und aus der begeisterungs-
starken Buchpflege der italienischen Humanisten entwickelten sich
die meisten großen Büchersammlungen, die heute nicht wenige
italienische Städte zieren. Am Ende seines Lebens dachte auch
Lorenzo de' Medici daran, die Bücherschätze, die den Namen
seiner Familie trugen, in einem Schatzhause zusammenzutragen;
eine großzügige und hochherzige Absicht, deren Ausführung sein Tod
verhinderte. Trotzdem bleibt er der eigentliche Stifter der Biblio-
teca Mediceo-Laurenziana in Florenz, die endlich doch noch aus
den Büchersammlungen von S. Lorenzo und von S. Marco, aus der
der Badia fiorentina bei Fiesole, aus der Medici Privatbibliothek
und der Niccolö Niccolinischen Privatbibliothek hervorgegangen ist.
Die Bereicherungen, die die florentinischen humanistischen
Privatbibliotheken den Medizäern, vor allem Cosimo, verdankten,
4* *Abb. i8 51
ITALIEN
bestanden nicht nur in der Unterstützung einzelner Gelehrter, in
der Handschriftenbeschaffung, die durch Abschriften den Forschern
zugänglich wurden. Die Buchpflege, die die Macht und die Mittel
der Medici ermöglichte, fand auch einen festen geistigen Halt in dem
Beispiel, das deren Lebensführung gewährte, die die Gleichstrebenden
verband. Wozu noch die geschäftliche Gewandtheit Cosimos hin-
zukam, der es verstand, wie ein Fürst Bücherlehen durch seine
Hilfeleistungen zu verteilen, die nach der Sammler Tod durch das
Gewicht des Goldes ihm anheimfielen. Auch in dieser Verbindung
von Mäzentatentum und nüchterner Sachlichkeit, die die besten
Kräfte an ihren besten Platz zu stellen wußte, zeigte sich die schöpfe-
rische Tätigkeit des Mannes, der mehr als mancher andere den
Ehrennamen eines Bibliothekenstifters verdient. Sein erster Rat-
geber war Niccolö dei Niccoli [1363 — 1437] gewesen , ein
Bibliophile, der sein Leben, das erfüllt war von einer leiden-
schaftlichen Liebe zu den Büchern, ihnen ganz und gar geweiht
hatte. Aus Padua hatte er Petrarcas Schriften geholt, um mit
ihnen eine Sammlung zu begründen, deren Reichtum ihn in Armut
und Schulden brachte, trotzdem er selbst die Mehrzahl seiner
Codices geschrieben hat, sie nicht geistlos kopierend, sondern mit
kritischer Sorgfalt rekonstruierend. Dem bedrängten Buchfreunde
kam Cosimo zu Hilfe und gewann damit dessen Fleiß und dessen
Kenntnisse für sich. Die Angestellten in den medizäischen Nieder-
lassungen, die Florentiner, die auf weite Reisen gingen, die Ge-
sandten: sie alle wurden mit Aufträgen versehen, nach bestimmten
Handschriften zu fahnden. Und der literarische Minister Cosimos ver-
stand es, diesen Bücherdienst dem kommerziellen wie dem politi-
schen Bereiche des Medici- Hauses einzugliedern. An achthundert
Bände hinterließ Niccolö dei Niccoli, die bedeutendste Privat-
bibliothek seiner Zeit. Den unschätzbaren Besitz hatte er ursprüng-
lich dem Kloster S. Maria degli Angioli vermacht, aber wenige Tage
vor seinem Tode widerrief er das Testament, um die Bestimmung
über den Verbleib seines Bücherschatzes sechzehn von ihm ernannten
Humanisten anzuvertrauen. Sie überließen Cosimo die freie Ver-
fügung über das Erbe, der mit ihm dip darauf lastenden Schulden
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16. JAHRHUNDERT
übernahm. 400 Bände wurden ausgewählt, um sie im Kloster
S. Marco in dem von Michelozzo erbauten Bibliotheksaal auf 64 Lese-
pulten aufzustellen. 1441 ist das Gründungsjahr der ersten öffent-
lichen Bibliothek Italiens, der Marciana, die 1808 bei der Aufhebung
der geistlichen Orden mit der Laurenziana vereinigt wurde, der nach
130 Jahren errichteten anderen großen Medicisammlung. Die Er-
gänzung und Vermehrung der Marciana ließ Cosimo sich ständig
angelegen sein; für 400 Goldgulden kaufte er in Siena kanonische
Literatur, von den Franziskanern in Lucca erwarb er für sie 49 theo-
logische Werke. Dabei folgte er hier und bei seinen anderen Bücher-
käufen dem Plane, den für ihn ein anderer berühmter Bibliophile-
Humanist, Fra Tommaso Parentucelli [Papst Nikolaus V.]
ausgearbeitet hatte, einer Bücherliste, die man den Kanon der huma-
nistischen Literatur ihrer Zeit nennen kann, auch damit die Einheit-
lichkeit seiner Stiftungen bekundend. Von ihnen war die für die
Badia unterhalb von Fiesole, dem Lieblingsaufenthalte des greisen
Medizäers, dem Sitz der von Marsiglio Ficino geleiteten Platonischen
Akademie, errichtete Bücherei, die 1783 in die Laurenziana auf-
genommen wurde, ebenso eine buchgewerbliche wie wissenschaft-
liche Leistungsprüfung der florentinischen humanistischen Buch-
pflege. Ihre Herstellung wurde dem Cartolaio Vespasiano da
Bisticci übertragen, der 200 Bände in 22 Monaten lieferte, die die
kirchliche und die klassische Literatur in einer Auswahl des nach
jenem kanonischen Kataloge besten umfassend, von 45 für diese
Büchersammlungsgründung angestellten Schreibern gefertigt wurden.
200 Bände hatte Cosimo aus dem Erbe Niccolö dei Niccolis für
seine Hausbibliothek zurückbehalten als Unterpfand für die diesem
Bibliophilen und dessen Nachlaß gemachten Vorschüsse. Bücherfroh
und bücherkundig hat er durch Einzelerwerbungen planmäßig auch
diesen Schatz zu vermehren verstanden, den seine Nachkommen
in seinem Sinne verwalteten. Sein Sohn, der Kardinal Giovanni
kaufte die Sammlungen des Staatskanzlers Coluccio Salutati
und des bibliographischen Columbus Poggio Bracciolini,
sein Enkel Lorenzo il Magnifico [1448—1492]* beschäftigte
überall, insbesondere aber in Rom an der Vaticana, Schreiber. Er
* Abb. 19
53
ITALIEN
rüstete auch die große Bücherreise des Giovanni Lascaris in
die Levante aus, die um 1490 ihm aus dem Peleponnes an 200 grie-
chische Handschriften, darunter 80 unbekannte Werke, zuführte.
Die BibUoteca Laurenziana zu einer öffentlichen aus einer privaten
Bibliothek zu machen, hinderte Lorenzo der Tod; der Zug Karls VIII.
von Frankreich nach Italien schmälerte sie nicht unerheblich. Als
Piero, Lorenzos Sohn, aus Florenz vertrieben wurde und die Medici-
Paläste der Plünderung anheimfielen, kam mit den Beutestücken
auch manches Buch nach Frankreich. Die florentiner Regierung
ließ zur Rettung der Sammlung sie in das Haus der Signorie und
dann in das Dominikanerkloster San Marco überführen, mußte sie
aber ihrer Geldnöte wegen zunächst dem Kloster für 2000 Gold-
gulden verpfänden und sie schließlich für weitere 1000 Gulden ihm
zum Eigentum lassen. Dabei kam es zu Teilungen und Verlusten.
Vieles erwarb 1508 der Kardinal Francisco della Rovere. Der Kardinal
Giovanni de' Medici [Papst Leo X., 1475—1521], Bücher aus
der Hinterlassenschaft des Vaters stückweise zurückkaufend, löste
die Familienbibliothek wieder aus, um sie nach Rom schaffen und
in seiner Villa am Monte Pincio aufstellen zu lassen, wo sie eine eigene
Verwaltung erhielt. Er soll auch für sie den berühmten Kodex mit
den fünf ersten Büchern der Annalen des Tacitus vom Kloster
Corvei um 500 Goldgulden gekauft haben. Sein TetamentsvoU-
strecker und Vetter Kardinal Giulio [Papst Clemens VII., 1523
— 1534] ließ die Bibliothek nach Florenz zurückbringen und beauf-
tragte Michelagniolo mit der Errichtung eines Gebäudes, das unter
dem ersten Großherzog von Toscana, Cosimo I., durch Vasari voll-
endet wurde. Am 11. Juni 1571 fand die feierliche Einweihung der
Laurenziana mit ihren 3000 Handschriften statt, in der bereits die
Bestände der Bibliothek von San Gimignano und viele andere der
Bücher Cosimos ihr endgültiges Heim gefunden hatten. Die Biblio-
thekengründungen des Hauses Medici hatten nun ihren festen Mittel-
punkt, um den sie sich nach und nach zusammenzogen.*
Abschreibend und bearbeitend befestigten die Bibliophilen-
Humanisten ihren Bücherbesitz und vermehrten ihn, Bücher-
sammler in anderer Weise als es die kommenden Druckwerk] ahr-
C/ * Abb. 20, 21
15. JAHRHUNDERT
hunderte gewohnt wurden, in denen die Erschließung eines ver-
lorenen griechisch-römischen Schrifttums vollzogen war. Dieses
doppelten Unterschiedes wegen sind die humanistischen Sammel-
verfahren wirtschaftlich und wissenschaftlich sowohl von den an-
tiken wie von den modernen verschieden. Im Altertum bedingten
Apogramm und Autogramm noch für ein Manuskript und dessen
Originalität eine Reihe von Zwischenstufen, die maßgebend für die
Beurteilung eines Textes waren; der alexandrinische Klassiker-
kanon erwuchs aus Vergleichungen, die bekannte Werke werteten.
Aber die enthusiastisch zu Irrtümern über das Alter der Codices
geneigten Humanisten hatten es bestenfalls mit beglaubigten
Büchertiteln zu tun, für die sie die Bruchstücke zusammensuchten,
erst einmal den derart erzielten Gewinn auf die Richtigkeit und die
Vollständigkeit hin überprüfend, dazu für die griechischen Schriften
meist noch den Ubersetzungenumweg notgedrungen wählend. Ab-
schriften bedeuteten für sie Annäherungen an die Urschriften und
demgemäß schätzten sie solche nach ihrem inneren Wert ein; das
alte Manuskript, das ungenau und unvollständig war, bot ihnen
weit weniger als das bessere neue, blieb eine Vorarbeit für dieses.
Ihr Sammeln, Sichten, Suchen galt den noch unentdeckten ver-
schollenen Werken; das Auffinden eines solchen bereicherte den Be-
sitzer auch deshalb, weil er nun eine begehrte Vorlage für den Bücher-
tausch in Händen hatte, die um so wertvoller wurde, je mehr er
selbst imstande war, durch eigene Arbeit einen gebesserten und
gemehrten Text herauszugeben, d. h. in Abschriften zu verviel-
fältigen oder vervielfältigen zu lassen. Die buchgewerblich-wirt-
schaftliche Tätigkeit entsprach der wissenschaftlichen. Beccadelli
erwarb einen Livius, den Poggio abgeschrieben hatte, für 120 Ze-
chinen. Dieser konnte sich für den Erlös ein bei Florenz gelegenes
Grundstück kaufen, jener sah sich zur Veräußerung einer Villa ge-
zwungen. Alle diese Beschäftigungen der Bücherherstellung hat
einmal [Ep. fam. XVIII, 5] Petrarca, sie preisend, geschildert: „Sic
apud nos alii membranas radunt, alii libros scribunt, alii corrigunt,
alii, ut vulgari verbo utar, illuminant, alii ligant et superficiem
comunt.'^ Die Arbeit des Büchersammelns, Bücherschreibens, konnte
55
ITALIEN
eine literarische, lohnende Sondertätigkeit werden, die Berufsart
einer Bibliophilie sich in solchem Zusammenhange zu einiger Selb-
ständigkeit entwickeln. Alle die im Auftrage oder auf eigene Rech-
nung die Länder durchforschenden Büchersucher, deren Gelehr-
samkeit nicht gering sein durfte, gewannen mehr oder minder auch
ihren Lebensunterhalt durch ihren Sammlerfleiß, halb Schreiber und
halb Schriftsteller. Etwa um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts
waren die noch erreichbar gewesenen schriftlichen Überreste der
Vergangenheit wohl geborgen, sie in Abschriften zu verbreiten den
Buchhändlern ermöglicht, die ihrerseits jetzt in der äußeren und
inneren Ausstattung der von ihnen für den Handel angefertigten
Handschriften der Bücherliebhaberei großer Herren dienten, in-
dessen die bibliographisch-kritischen Anstrengungen der Biblio-
gnosten bibliothekarisch organisierend und zentralisierend sich aus-
gestalteten. Das Beispiel eines der hervorragendsten Bibliophilen-
Humanisten, des Papstes Nicolaus V., bezeichnet diesen Kulmi-
nationspunkt. Indessen ihn die Ausführung seines großes Planes
beschäftigte, in der Büchersammlung der Päpste eine Vereinigung
aller Werke des Schrifttums zustande zu bringen, also die alexan-
drinische Idee einer Weltliteratur, die die geistigen Schöpfungen
aller Völker und Zeiten eint, beschäftigte der Bibeldruck die Guten-
bergwerkstätte in Mainz. Ein Ereignis, das allmählich erst in seiner
eigentliche Wirkung sich geltend machte, in jener Übergangszeit der
Handschrift in den Wiegendruck, die die andere Hälfte des fünfzehn-
ten Jahrhunderts insofern bestimmend für Bibliophilie und Humanis-
mus werden ließ, als es sie mit dem Bücherwesen von Grund aus
veränderte. Papst Nicolaus V. ist noch ein Repräsentant der alten
Bibliophilen, die auch, soweit sie in die neue Zeit hineinlebten, mit
den jungen sich nicht verständigen konnten oder wollten. Dafür ist
ein Beispiel der bedeutendste Buchhändler der letzten Generation,
die noch im Bannkreise des geschriebenen Buches lebte, Vespasiano
da Bisticci [1421 — 1498] aus Florenz. In der Übergangszeit der
Buchhandschrift in das Druckwerk, die man das Wiegendruckzeit-
alter zu nennen pflegt, gehörte ein Vertreter der alten Bibliophilie,
der Vespasiano war, aus Gründen, die die besten Bücherliebhaber und
56
16. JAHRHUNDERT
Büchersammler dieser Epoche für die richtigsten halten mußten,
zu den Anhängern der Buchhandschrift. Nicht nur seinen Beruf
verteidigte der Capo der Schreiber Toskanas, wenn er sich mit Stolz
gegen den Andrang der sich ausbreitenden Büchermassen wehrte.
Das ästhetische Gefühl, gewöhnt an die Prachtentfaltung reichster
Schreibmeisterwerke, war von der noch häufigen Armut der neuen
buchgewerblichen Erzeugnisse verletzt. Auch die Buchdrucker
hatten für ihre hervorragendsten Leistungen ja auf die Illuminatoren
und Miniatoren nicht verzichtet. Und die Buchfreunde sind allmäh-
lich erst dadurch für die neuen Bücher gewonnen worden, daß deren
Ausstattung, die Form einer Liebhaberausgabe gewinnend, die Druck-
werke erlesenen Handschriften vergleichbar werden ließ, die Auf-
lagengleichheit durch besondere Vorzugsausgaben beseitigte, die eine
am Ausgange des Jahrhunderts sich neu entwickelnde Einbandkunst
noch mehr persönlicher zu gestalten lehrte. Aber nicht allein all-
gemeine ästhetische Bedenken oder Bemühungen, ein Sammler-
stück sorgfältigster Arbeit zu erhalten, wirkten auf den ursprüng-
lichen Widerwillen der Bibliophilen gegen das gedruckte Buch ein.
Mehr noch waren literarische Motive seine eigentliche Ursache. Ein-
mal blieb die Auswahl der gedruckten Werke, die die Pressen liefer-
ten, jahrzehntelang mehr nach weiteren Bedürfnisfragen und buch-
geschäftlichen Zweckmäßigkeiten geregelt, vieles, was sich der
Buchfreund wünschte, versagte ihm der Drucker. Sodann gab es
oft allzuschlechte Texte, und der Humanist, der nicht auf die philo-
logische Gewissenhaftigkeit verzichten wollte, mußte zur Hand-
schrift greifen. Man war noch kein Bücherverschlinger und Schnell-
leser geworden, die Beschäftigung mit einem Buche füllte Wochen,
Jahre, ein Leben aus. Die literarische Überlieferung wurzelte noch
nicht ganz und gar im Buche, das eine Gedächtnishilfe war. Nicht
wenige Schreiber, nicht wenige Schrifttumsgelehrte konnten ein be-
rühmtes Werk Wort für Wort auswendig. Freilich, man bewegte
sich auch im engen Kreise, die gleichen Schriftsteller mit ihren
gleichen Schriften fanden sich in den Bücher- und Schreibstuben
immer wieder. Eine Exklusivität des literarischen guten Tones
herrschte, dem der Anspruch der Buchdruckereien, Buchware jeder
57
ITALIEN
Art zu vervielfältigen, zuwider sein mußte. Da war es kein Wunder,
daß die den Wissenschaften nützliche Kunst des Buchdrucks, so
umgrenzte ein Brief des Johannes Lascaris an Piero de* Medici ihren
Wert, nicht als eine solche empfangen worden ist. Sie begann unter
mancherlei ökonomischen und technischen Hemmungen das Buch
als Druckwerk erst auszubilden; was sie, mit der Buchhandschrift
in Wettbewerb tretend, vorerst leisten konnte, waren nicht Her-
stellungsgüte und Herstellungsschnelligkeit, sondern Massenver-
vielfältigung. Und wenn Victor Hugo in seinem Nötre Dame-Roman
den gotisch denkenden Menschen prophezeien läßt, die Baukunst
werde von der Buchdruckerkunst getötet werden, hat er auf das an-
schaulichste in diesem dichterischen Bilde ein Zeitempfinden zu-
sammengedrängt, das die Beweglichkeit des neuen Buchgeistes in
seiner Dämonie erkennen läßt.
Der Auftrag, Büchersammluugen möglichster Vollendung zu
schaffen, ist Vespasiano da Bisticci zweimal zuteil geworden, zwei-
mal mußte er seine Autorität beweisen, deren er sich in buchgewerb-
lichen Dingen erfreute: als er für Cosimo de' Medici und für den
Herzog Federigo da Montefeltro [1444 — 1482]* in Urbino einen
Büchersaal einzurichten hatte. In eiligster Arbeit hat er dem Medi-
zäer den Beweis seiner Leistungsfähigkeit gegeben, sie mit seinem
Schreibvermerk: ,,Vespasianus librarius fecit fieri Florentie'* in den
eleganten Renaissancecodices seiner Schreibstube verbürgend, die
auf feinem weißen Pergament, mit Randleisten, Wappen, Zierbuch-
staben ausgeschmückt, die klare, neue Schrift trugen, welche man,
sie der karolingischen Epoche entstammenden Manuskripten nach-
bildend, für eine echte Wiedergabe antiker Muster hielt. Ob nicht
mehr Schönheit als Sorgfalt die Bücher des geschäftigen und ge-
schickten Mannes auszeichnete, für den Janus Panonius warb: ,,In
Italien kann man Bücher kaufen, so viel man will — schickt nur Geld
nach Florenz, Vespasiano wird allein für das weitere sorgen'*, stehe
dahin. Doch der Eifer, der seinen Betrieb leitete, sein Humanisten-
stolz waren echt. Kein schöneres Lob wußte er noch 1482, als er
seine Lebenserinnerungen schrieb, in denen er seinen besten Kunden
die prachtvollsten Ehrenmale setzte und die Namen der schlechten
58 * ^^^' 24
15. JAHRHUNDERT
verschwieg, dem Herzog Federigo zu finden, als dieses, er würde sich
eines gedruckten Buches in seiner Sammlung schämen. Piero de'
Medici, il Gottoso, Lorenzo il magnifico und dessen Bruder Giu-
liano gehörten zu denen, die Vespasiano keiner Vita würdigte. Sie
mochten keine Sammler mehr nach seinem Sinne gewesen sein. Hatte
nicht Piero de' Medici beim Tode des Königs Matthias Corvinus
geäußert, die Scrittori würden jetzt eine Preisermäßigung eintreten
lassen müssen, da nun er allein sie beschäftige. Das hieß denn doch
das Bibliophilen-Mäzenatentum allzu sehr mit kaufmännischer Nüch-
ternheit paaren und Vespasiano kränken. Herzog Federigo, in dessen
Hofordnung der Bibliothekar nicht fehlte, feilschte nicht. Bei
einem Buche nach dem Preise zu fragen, schien Vespasiano ver-
ächtlich zu sein. Man mußte sich freuen, es überhaupt erwerben zu
können. Aber die barbarische Erfindung, die aus dem Norden kam,
machte das Buch zu einer Ware für jedermann: das Büchersammeln
hörte auf kostbare und kostspielige Kunstpflege zu sein.
30000 Goldgulden soll Herzog Federigo, der bereits als Knabe
sammelte, für seine Bücherei ausgegeben haben. Das Ideal huma-
nistischer Vollständigkeit suchte er zu erreichen, indem er von den
anderen bekannten Bibliotheken deren Bücherlisten erbat und ver-
glich, um zukaufen und zuschreiben zu lassen, was ihm fehlte; am
Ende einer bibliographischen Epoche, in der sich die Bücher noch
zählen ließen, aber die Meinungen über den Wert der Alten und
ihrer Werke schon im Streite standen, als welcher nicht mehr um
falsche oder richtige Texte ging, sondern um ihren falschen oder
richtigen Inhalt, um die Autorität der Klassiker selbst. Der Ein-
seitigkeit und dem Formenwesen des Humanismus waren die Män-
ner entgegengetreten, die, wie der gelehrte Pico della Mirandola
[1463—1494] in der Platonischen Akademie, deren Seele Marsiglio
Ficino [1433—1499] war und die die Hofhaltung des prächtigen
Lorenzo de* Medici schmückten, nicht allein den Aristoteles und Plato
in Übereinstimmung zu bringen wünschten, sondern die Anschauun-
gen der verschiedenen Völker und Zeiten. Nicht allein nur das Dogma
vom klassischen Altertum wollte Pico della Mirandola gelten lassen,
sondern ebenso die Lehren der arabisch- jüdischen Philosophen und
59
ITALIEN
der Scholastiker. ,,Wir werden ewig leben, nicht in den Schulen
der Silbenstecher, sondern im Kreis der Weisen, wo man nicht über
die Mutter der Andromache oder über die Söhne der Niobe diskutiert,
sondern über die tieferen Gründe göttlicher und menschlicher Dinge ;
wer da näher tritt, wird merken, daß auch die Barbaren den Geist
hatten, nicht auf der Zunge, aber im Busen.** Solche vergleichende
Weltanschauungslehre zu rechtfertigen sollten die Büchersamm-
lungen ermöglichen: Denkmäler des Geistes der Menschheit, im stän-
digen Aufbau begriffen, nicht lediglich Schatzkammern der Über-
reste einer großen Vergangenheit.
Hinter Florenz war anfangs Rom, der Ausgangspunkt der euro-
päischen Politik, der Mittelpunkt der geistlichen Autorität, die große
Zeugin für die Herrlichkeit der Antike, in der humanistischen Be-
wegung zurückgeblieben, bis die Florentiner Tommaso Paren-
tucelli [Sarzana] und Enea Silvio Piccolomini [1405 — 1464],
als Päpste Nicolaus V. und Pius IL, ihre Aufnahme begünstigten..
Jener, der Bibliophile, von dem seine Grabschrift künden durfte:
,,excoluit doctos doctior ipseviros**, indem er der Erneuerer der Biblio-
theca Vaticana wurde, dieser, indem er seine Jugend nicht verleug-
nete. Manchen Humanisten des päpstlichen Hofes zierte der Kardi-
nalspurpur, ihn trug der Gräcist Basilios Bessarion [1395—1472],
ein Bischof der oströmischen Kirche, und der Latinist Pietro
Bembo [1470—1547], deren beider Namen mit der berühmtesten
Büchersammlung Venedigs verbunden bleiben sollte. Bessarion
hatte, kein Opfer scheuend, er soll 30000 Goldgulden in Handschriften
umgetauscht haben, eine Bücherei entstehen lassen, damit sein un-
glückliches Vaterland, wenn es frei würde, das verlorene Schrift-
tum wiederfände. So sorgte er für einen diese Absicht gewährleisten-
den Aufbewahrungsort und fand ihn in Venedig, dessen Signorie sich
zum Bau einer Bibliothek willig zeigte. Der Lagunenstadt hinter-
ließ er, die Begründung seiner Stiftung in dem bekanntesten Biblio-
philentestament der Renaissance gebend, seine Bücher, die zum
Grundstock der Markusbibliothek wurden. Auch die sehr bekannte
Büchersammlung eines anderen Bibliophilen- Humanisten, des Sekre-
tärs von acht Päpsten, des glückbegünstigten Bücherfinders und
60
15. JAHRHUNDEKT
Bücherspähers Gian Francesco Poggio Bracciolini [1380
--1459]* aus Florenz, blieb nicht in Rom, sondern gelangte in die
Medizäerbibliothek seiner Vaterstadt; ebenfalls ein Zeichen, wie
schwache Anziehungskraft damals die Büchersammlung des Heiligen
Stuhles auszuüben vermochte. Die alten Büchersammlungen der
Päpste waren zerstreut worden. Noch 1432 schrieb Traversari
darüber an Niccoli: ,,Bibliothecam S. Petri videre volui, sperans
aliquid inventurum novi. Audieram enim complura ibi esse Volu-
mina. Sed nihil omnino memoria dignum inveni.^^
Der Begründer der Bibliothek des Vatikans ist Papst Niko-
laus V. [1447—1455] geworden, jener Bibliophile, der, als er noch
Tommaso Parentucelli [Tommaso von Sarzana] hieß, sich eines
Mäcenas Macht und Mittel wünschte, um damit Bauten und Bücher-
[sammlungen] schaffen zu können. Sein Freund und vertrauter Rat-
geber Vespasiano da Bisticci, der ihn [in den Lebensbeschreibungen]
als das Licht und den Schmuck der Kirche und seines Jahrhunderts
rühmte, berichtet: „Tommaso gab für die Bücher mehr Geld aus
als er hatte. Für ihn arbeiteten mehrere der besten Schreiber, die
aufzufinden waren, und er feilschte nicht um ihren Lohn. Denn
seinem Glück vertraute er, hoffend, er werde nichts ermangeln.
Also damals arm, besorgte er doch, daß die für ihn angefertigten
Bücher in jeder Hinsicht schön würden. Da ereignete es sich dann
wohl, daß dem gelehrten Tommaso das Geld ausging und er borgend
Bücher kaufen und er, um die Kalligraphen und Miniatoren lohnen
zu können, Schulden machen mußte, die er erst später tilgte. Bei
den Buchhändlern von Florenz war er meistgesehen, alles Geld,
das er auftreiben konnte, wandte er ihnen zu. Er besaß Bücher aller
Fächer. Er hatte des heiligen Augustinus Werke in zwölf Bänden,
die alle für ihn ganz neu geschrieben und verglichen wurden. Doch
vernachlässigte er neben den Werken der Kirchenväter auch nicht
die Arbeiten der Gelehrten neuer Zeit. Soweit das nur immer in
seinem Vermögen stand, schaffte er Bücher an, von denen in seiner
Sammlung nur wenige standen, die er nicht mit dem allergrößten
Fleiße durchgelesen und mit Randbemerkungen in seiner schönen,
zwischen dem antiken und dem modernen Stil sich haltenden Hand-
* Abb. 17
61
ITALIEN
Schrift ausgestattet hätte. Es befindet sich in der BibUothek bei
Santo Spirito in Florenz ein Manuskript, das er den Mönchen ge-
schenkt hat, des heiligen Augustinus Buch gegen den Pelagianer
Julianus und andere Irrlehrer. Es ist ganz und gar mit Anmerkungen,
die er in der eben erwähnten Handschrift machte, versehen. Stets,
wenn ihn eine Gesandtschaft mit dem Kardinal Albergati, den er
ständig begleitete, aus Italien führte, brachte er ein neues hier noch
unbekanntes Werk heim. Derartige Funde waren die Reden des
Papstes Leo und die Postille des Thomas von Aquino zum Evan-
gelium des Heiligen Matthäus, bisher in Italien unbekannte vor-
treffliche Werke sowie Werke neuerer Zeit. Denn alle griechischen
und lateinischen Autoren waren ihm bekannt, keinen Schriftsteller
in den Wissenschaften gab es, von dem er nicht gehört hätte. Des-
halb war auch niemand besser geeignet als der gelehrte Tommaso,
um eine Büchersammlung, die alle Wissenschaften umfassen sollte,
einzurichten und zu ordnen. Bei der Begründung der Bibliothek
von San Marco schrieb ihm Cosimo de' Medici, er möge ihm die
hierfür zu befolgenden Regeln aufstellen. Das geschah auch, eigen-
händig schrieb er sie auf und schickte sie dem Cosimo. In ihrer
Befolg ungwurden die beiden Büchersammlungen eingerichtet, in
San Marco und im Fiesolekloster, auch die Büchersammlungen des
Herzogs von Urbino und des Alessandro Sforza richteten sich nach
ihnen. Für die Begründung einer Bücherei ist dieser Kanon unent-
behrlich."
Eine Anweisung bibliothekstechnischer Art sind freilich die
Büchereiregeln des Magisters Tommaso Parentucelli nicht. Das
Bedürfnis für eine Beschäftigung mit dem Betriebe einer Bücher-
sammlung war damals weder bewußt noch überhaupt vorhanden. Sie
sind eine auswählend die besten Werke aufzählende Bücherliste, die
kennzeichnend in ihrer Zusammensetzung für den Geschmack eines
höchstgebildeten humanistischen italienischen Klerikers ist, also
dafür, welches Büchergut ein Theologe des fünfzehnten Jahrhunderts
für unentbehrlich hielt, der in den weltlichen Wissenschaften seiner
Zeit vortrefflich Bescheid wußte. Voran steht die Bibel, ihr folgen
die Kirchenväter und die Kommentare. Aristoteles und seine Er-
62
15. JAHRHUNDERT
klärer fähren die Philosophie an, in der die arabisch-hebräischen
[Averroes, Avicenna, Maimonides] und die anderen griechischen
Meister [in lateinischen Übersetzungen] mit den Mathematikern
[Boethius, Euclid, Vitulo, Ptolomaeus] ebenfalls ihren Rang haben.
Den Beschluß machen die Bücher de studiis humanitatis, die zur
Grammatik, Rhetorik, Poetik, Moral gehörenden Schriften, von
denen Tommaso voraussetzt, daß sie dem Anfragenden ohnehin be-
kannt wären, weshalb er nur die ihm am wichtigsten erscheinenden
römischen Dichter [Vergilius, Ovidius, Statins, Horatius, Lucanus],
Dramatiker [außer Seneca; Epiker und Satiriker fehlen], Geschichts-
schreiber, Grammatiker, Philosophen, Redner anführte.
Ein rascher Aufstieg, in drei Jahren [1444—47] wurde er Bischof,
Kardinal, Papst, brachte Tommaso Parentucelli die Tiara und seiner
Bücherliebe die Möglichkeit, sich in einer großartigen Schöpfung
auszuwirken: in der Begründung der Vaticana, die Papst Nicolaus V.
durch die Vereinigung der Bestände, die sein Vorgänger, Papst
Eugen IV. hinterlassen hatte [etwa 350 Handschriften], mit dem
eigenen ausgewählten Bücherschatz vollzog. Den weiteren Ausbau
begünstigten die Zeitumstände, besonders das Jubiläumsjahr 1450,
das die Kassen füllte. Sammeln hieß damals noch suchen nicht in
der Art des Aufstöberns von Handschriften schlechthin, sondern in
der des Zusammenbringens und Zusammenstellens der Texte. Die
Bemühungen um deren Berichtigung und Vervollständigung, um
das Erforschen noch unbekannter, verlorener Werke setzten ein
System der Büchereivermehrung voraus ähnlich dem, das sich schon
in Alexandreia und Pergamon bewährt hatte. Abschriften sollten
besorgt werden, wenn die Originale sich nicht beschaffen ließen;
ausgedehnte Bücherreisen sollten den Rohstoff gewinnen, den die
Bibliothek sichtete; das Buchgeschenk, das entgegenkommende
Handschriftenherleihen an sonstiger Zahlungsstatt angenommen
werden. Die Bibliothekspolitik, die der Papst treiben konnte, mußte
klug geleitet werden, um ihre Ziele zu erreichen. Nicolaus V. ver-
stand sich auf sie. Seine Expeditionen gingen bis in den fernen
Osten [nach Griechenland], bis in den hohen Norden [nach Eng-
land, Dänemark, Preußen]; mit Gold und Gunstbezeugungen war er
63
ITALIEN
nicht sparsam. Bisweilen war es nur ein Buchgerücht, das ein kost-
spieliges Unternehmen veranlaßte, wie die vierjährige Reise des
Alberto Enoche aus Ascoli, der zur Entdeckung einer vollständigen
Liviushandschrift auszog, versehen mit Empfehlungs- und Gnaden-*
schreiben, in denen ausdrücklich bestätigt wurde: daß der Papst
sich mit Abschriften begnügen und die Originale an Ort und Stelle
lassen werde. Und wenn auch in diesem Falle das erhoffte Ergebnis
ausblieb, der Papst die Rückkehr seines Buchgesandten überhaupt
nicht mehr erlebte, so waren dafür anderwärts die entschlossen wahr-
genommenen Gelegenheiten ihm desto günstiger. Die Eroberung
Konstantinopels durch die Türken veranlaßte eine weitausgedehnte
Büchersuche, die gefährlich und deshalb diplomatisch im geheimen
durchzuführen war. Der Erwerb griechischer Handschriften durch
die Agenten des Papstes lohnte die für diese gezahlten hohen Preise.
Mit Recht durfte Filelfo rühmen, Freigebigkeit und Großmut des
einen Papstes Nicolaus V. habe Griechenlands Untergang verhütet,
indem sie es nach Großgriechenland, wie einst Italien hieß, hinüber-
gerettet hätten. Daneben gingen die Nachforschungen nach den
Handschriften in hebräischer Sprache.' Auf die Auffindung des Ur-
textes des Matthäusevangeliums hatte Papst Nicolaus V. einen
Preis von 5000 Dukaten, ein großes Vermögen, ausgesetzt, das sich
freilich niemand verdienen konnte. Und ebenso wie in der Fremde
die Agenten des Papstes mit Mühen und Mut, dank seiner Frei-
gebigkeit auch vor den kostspieligsten Ausgaben nicht zurück-
schreckend, ihm Abgaben und Steuern in Handschriftensammlungen
heranziehend, die Geistesgüter der Vergangenheit bargen, waren in
seiner Umgebung die gelehrtesten Männer und geschicktesten
Schreiber tätig. Von überallher wandten sich Bücherwidmungen,
die nach damaliger Gewohnheit auch ihren baren Lohn heischten,
an ihn. Keinem Kaiser, keinem früheren Papste seien so viele Werke
wie Nicolaus V. gewidmet worden, urteilte Enea Silvio. Eine echt
humanistische Idee war es, das ganze griechische Schrifttum durch
lateinische Übersetzungen für Italien zurückzugewinnen, an ihrer
Verwirklichung arbeitete der Papst bis zu seinem Tode. Vespasiano
meinte, hätte der Papst seine Absichten vollständig ins Werk setzen
64
15. JAHRHUNDERT
können, dann würde die Bibliothek etwas Wunderbares geworden sein.
In ihr sollte Rom der geistige Mittelpunkt der Erde werden. ^^Operam
damus, ut pro communi doctorum virorum commodo habeamus
librorum omnium tum latinorum tum graecorum bibliothecam conde-
centem Pontificis et sedis apostolicae dignitati" umschrieb Nico-
laus V. diesen Gedanken in dem Empfehlungsschreiben an den
Hochmeister des deutschen Ordens, das er dem Alberto Enoche mit-
gegeben hatte. Er durfte seinen großzügigen Plan nicht vollenden
und auch den geplanten Prachtbau der Sammlung konnte er nicht
mehr ausführen lassen. Seine Abschreiber, die er in seiner Residenz
und sonst im Dienste hatte — es gab wenige Orte, wo seine Heilig-
keit nicht Abschreiber gehabt hätten, sagt Yespasiano — und für
deren Wohlergehen er ängstlich sorgte — als ihn 1450 die Pest aus
Rom nach Fabriano vertrieb, behielt er die Schreiber und Über-
setzer bei sich, damit sie ihm nicht wegstürben — waren aus-
erwählte Schönschreiber, des Pergamentes würdig, das er ihnen
anvertraute; seine Buchbinder mußten die Prachtbände, die sein
Wappen zierte, mit allem Schmuck versehen, auf den sie sich ver-
standen. Die Aufwendungen, die Papst Nicolaus V. für diesen
Bücherschatz in acht Jahren gemacht hat, sollen 40000 Scudi
[nach Assemani, nach anderen 30000 Goldgulden] betragen haben.
Rund 1200 Handschriften hinterließ er, die größte Sammlung
seiner Zeit. 56 Bände, fast nur antike Klassiker, bildeten die Bi-
bliothek seines Arbeitszimmers, die übrigen waren in acht Schrän«
ken in einem Raum mit einem breiten und hohen Fenster unter-
gebracht, auf die sie, nicht ohne Rücksicht auf die Lieblings-
bücher des Papstes, verteilt waren, der betrachtend, blätternd,
lesend gern im Umgange mit seinen Büchern verweilte. Dem
Papste Kalixt III. fehlte der Büchersinn seines Vorgängers, seine
Regierungssorgen, die Türkengefahr, nahmen ihn vollkommen in
Anspruch. Aber er war doch auch dem fein humanistisch gebildeten
Bibliophilen Nicolaus V. verglichen eine amusische Persönlichkeit,
mag das bissige Geschichtchen des Yespasiano nun richtig sein oder
nicht: Als Calixtus die Regierung antrat und die zahlreichen aus-
gezeichneten Bände besah, von denen ein Halbtausend in karmesin-
BOQENO 5
65
ITALIEN
farbiger Samtkleidung mit Silberbeschlägen sich prunkend zeigte,
verwunderte er sich nicht wenig, weil ihm, dem Juristen, nur ge-
heftete Akten vertraut waren. Beim Betreten des Büchereiraumes,
da er den Verstand seines Vorgängers hätte preisen sollen, klagte
er: ,,Seht her, wofür jener den Kirchenschatz verschwendete." Aber
Calixt III. ließ nicht allein die kostbaren Einbände entfernen, um
ihren Erlös in die Kriegskasse fließen zu lassen. Er bekümmerte
sich auch sonst nicht um die Bibliothek. Aus ihr lieh er dem Kardi-
nal Isidor von Rußland 51 Bände auf Lebenszeit, die kaum wieder
zurückgegeben wurden. Erst Papst Sixtus IV. [1471 — 1484] trat
das Erbe von Nicolaus V. an, das im Sacco di Roma [1527] noch
einmal schwere Verluste erleiden sollte, die durch Rückkauf ge-
raubter Handschriften teilweise wieder gut zu machen dem Kardinal
Marcello Cervino gelang. Mit dem Bau, den Papst Sixtus V. [1585
— 1590} nach den Plänen Papst Gregors XIII. [1572—1585] für die
Codices und libri Vaticani vollendete, war die Bibliotheca Vaticana
die 3650 Bände bei dessen Tode zählte, in ihre endgültige Entwick-
lung gelangt, in der sich ihr andere Büchers£^mmlungen selbständig
anfügten.*
Die Blütezeit Italiens, die man, mit einem Worte ihre Er-
scheinungen und deren Ursachen zusammenfassend, Renaissance
nennt, ging nicht nur von den großen Stadtstaaten Florenz und
Venedig, nicht nur von der großen Hofhaltung der Päpste in Rom
aus. In dieser Schöpfung einer neuen Zeit fehlten auch nicht die
kleineren Fürstenhöfe in Oberitalien, unter denen der der Este in
Ferrara der hervorragendste war. Ihn zierten die Dichter Bojardo,
Ariosto, Tasso, edle Geselligkeit zu einer geistigen Gemeinschaft
im Gewinnen nationalen Reichtums für die Literatur erhöhend. Der
Bestand einer Estensischen Hofbibliothek war schon im vierzehnten
Jahrhundert vorhanden, aber erst mit dem Ende des fünfzehnten
erweiterte sie sich. Im Ausleihen der Bücher war sie von ungewöhn-
licher Freigebigkeit. Die Büchersammlung des Hauses Este wurde
1598 durch Herzog Cesare von Ferrara nach Modena überführt, als
Clemens VIII. das Herzogtum Ferrara einzog, um, als Biblioteca
Estense noch heute eine der hervorragendsten italienischen Samm-
66
* Abb. i6
16. JAHRHUNDERT
lungen, diese Stadt zu zieren. Aber auch Ferrara besitzt in der
Bücherei des Studdio publico mit dem 1801 hierher von S. Benedetto
gebrachten Grabmal Ariostos ein Denkmal seiner Glanzzeit, aus der
mancher Bibliophilennamen unvergessen blieb. Die Bibliothek des
Lilio Gregorio Giraldi [1479—1552], die der Dichter Gio-
vanbattista Giraldi Cinthio [1504—1573] erbte, war damals
die Akademie der Buchfreunde Ferraras gewesen, in der man häufig
die ausgezeichnete Bücherkennerin Olympia Fulvia Morata
[1526—1555] traf, die später den deutschen Arzt Andreas Gruthler
aus Schweinfurt heiratete und 1554 bei der Plünderung dieser Stadt
ihre ansehnliche nach Deutschland mitgenommene Privatbibliothek
verlor. Alte Überlieferungen verschmolzen mählich mit den An-
sprüchen einer neuen Buchzeit in den anderen Bildungsstätten und
Fürstensitzen Italiens, die, obschon die Macht ihres politischen An-
sehens geschwunden war, noch immer die feine, höfisch-vornehme
Weise des Umganges mit den Büchern übten, die die humanistischen
Verkehrsformen eines Bibliophilen-Cortegiano gewesen sind.*
Die Bedeutung des Buches für den Buchfreund humanistischer
Gesinnung lag darin, daß es der Vermittler einer geistigen Verständi-
gung mit den Großen der Vergangenheit war. Deshalb gerade ge-
staltete sich der Umgang mit den Büchern in der veredelten Weise,
die alle Geselligkeit belebte und beseelte. Nicht allein ein Weis-
heitskünder und Wissensschöpfer blieb das Buch, in ihm verkörperte
sich die Persönlichkeit eines Werkes. Bibliophilie und Humanismus
wurzeln darin in der gleichen Grundanschauung, daß sie im Buche
den Menschen sich zu entdecken mühen, der sein Verfasser war,
daß sie Lebendigem nachspüren. Es ist eine Abkehr vom Buche "und
sein Wiederauffinden. Eine Abkehr, weil man die Autorität des
Buches nicht hinnahm wie einen gesetzlichen Zwang, ein Wiederauf-
finden, weil man dem überlegenen Geist des Buches gehorchen wollte.
Als Luther im sechzehnten Jahrhundert die Bibel übersetzte, als
Milton im siebzehnten Jahrhundert seine Areopagitika schrieb,
waren sie weit mehr Bibliophilen- Humanisten als die gelehrten
Philologen ihrer Zeit, die das Erbe von Griechenland und Rom ver-
walteten. Vielleicht ist es gerade das Aufgehen des Humanismus in
5* * Abb. 26 67
ITALIEN
der Wissenschaft der Philologie gewesen, seine äußere Geschichte,
die ihn immer mehr mißverstehen ließ. Der Enzyklopädismus der
Humanisten war etwas anderes als die antike Polymathie, als die
polyhistorischen Anstrengungen des siebzehnten und die enzyklo-
pädischen Bemühungen des achtzehnten Jahrhunderts; war weit
weniger ein Wissen aus Büchern oder über Bücher als ein Verlangen
nach dem Ebenmaß geistiger Wesenheit aller Bücher und des einen,
das den Leser gerade beschäftigte. Es gibt kein schöneres Beispiel
für die Auffassung der Buchgeselligkeit im humanistischen Ver-
stände als Machiavellis Beschreibung seines Tagewerkes. 1513 auf
seinem geringen Landsitz La Strada bei Florenz lebend und den
, Principe* schreibend, teilte er seine Stunden in wohlerwogener Ab-
wechslung ihres Inhalts. Alle bereiteten sie ihm Daseinsfeste, die der
Arbeit und die des Ausruhens. Und aus den Beschwerlichkeiten und
Leiden, die der Mißverstandene tragen mußte, rettete er sich am
Ende in die Gesellschaft von Seinesgleichen, feierlich sie begrüßend
und feierlich von ihr empfangen. Mit Sonnenaufgang trieb es ihn in
den Wald, in dem der Jäger den Körper erfrischte und weitete, um
ermüdet die Quelle aufzusuchen, an der er die Krammetsvögel
wußte. Sein Begleiter war ein Buch, Dante oder Petrarca oder ein
anderer Dichter nicht so hohen Ranges, TibuU, Ovid, ihnen ver-
wandte. Hier blieb seine Bücherlust ein genießendes Spiel, ein er-
götzendes Schwelgen in den eigenen Erinnerungen, zu dem ihm die
dichterischen Schilderungen der Liebschaften und Schwärmereien
verhalfen; die Vorkost der Mahlzeit, die ihn nach Hause rief.
Dann mochte er der Menge gehören, sich gern in den Nachmittags-
stunden mit den Bauern und ihrem Zeitvertreib beschäftigen. Wenn
aber der Abend kam, fand er ihn daheim, bereit in die Bücherei zu
treten. ,. Angemessen gekleidet schreite ich in die Hallen der Vorzeit.
Aufgenommen mit Wohlwollen, kann ich mich hier mit jener Nah-
rung sättigen, die allein mir schmeckt, weil ich für sie geboren bin.
Ich habe keine Scheu, mit den Alten umzugehen und sie nach den
Gründen ihrer Handlungen zu befragen. Sie sind so gütig, mir zu
antworten, für vier Stunden ist die Langeweile vergessen, sind die
Leiden verschwunden.*' Machiavelli beschreibt den Tag eines ein-
68
16. JAHRHUNDERT
Samen Mannes und die Einteilung, die er seinem Tage gibt, ist die
eines südländischen Temperamentes. Ein Geistesverwandter in
höheren Breiten, der gleich ihm den Verkehr mit klugen Büchern
den mit dummen Menschen vorzog, Arthur Schopenhauer, hätte
mancherlei an dieser Einteilung zu tadeln gefunden, die nicht die
frischesten Stunden für die Niederschrift der eigenen Gedanken vor-
behielt. Indessen Machiavellis Mustertag ist ja auch nicht ein solcher
für seine humanistischen Zeitgenossen gewesen und sein Zeugnis
nur angerufen worden, um damit zu bekunden, wie feinfühlig man
damals die Bücher zur Hand nahm, je nachdem man sich ihnen als
Freunden oder Führern näherte. Die Kunstfertigkeit des Lesens
war auch eine Kunstfertigkeit des Umganges mit anderen Persön-
lichkeiten. Oder vielmehr, auch sie gehörte einem gesellschaftlichen
Idealismus an, in dem das Buch neben dem Menschen stand. Der
Bibliophile blieb frei vom Zwange blinden Buchglaubens und blin-
der Buch Vergötterung; Anteil ihres inneren Wertes erschien ihm die
äußere Bücherpracht. Darin trat eine Änderung nicht zum Besseren
ein, als Büchermenge und Wissensschwere wuchsen. Beweis der
Gelehrsamkeit wurde die auf Vollständigkeit weisende Bücher^ahl.
An den Wänden standen, wartend, aufgereiht die Bände, eingeteilt
nach den Fächern ihrer Wissenschaften. Doch nicht ohne Müdigkeit
sah der gelehrte Sammler sie sich vermehren, wenn er, die Begehr-
lichkeit des BesitzenwoUens von Büchern, ihrer Kenntnisse und
Kunde, mit seiner Lebenszeit verglich. Leichter nahmen solche
Zweifel jene Bücherliebhaber, die heiteren Sinnes die Bücher als
Schmuckstücke ihrer Wohnung erwählten, sich an ihrem Anblicke
bereits ergötzend. Die Aldusoffizin* hatte das Beispiel gegeben, auch
dem Druckwerk Ausstattungsprunk zu verleihen, der den einzelnen
Abzug aus der gleichmachenden Auflage hervorhob. Vorerst aus
geschäftlichen Gründen waren ihre Vorzugsausgaben auf gewählten
Papieren oder Pergament entstanden: das besondere Buch sollte den
Buchfreunden der alten Schule auch in seiner neuen Druckwerk-
gestalt erhalten bleiben, ein Einzelstück persönlichen Ranges
sein. Und das Bedürfnis der Gelehrten, die einen breiten Rand für
ihre handschriftlichen Vergleichungen und Vermerke brauchten,
* Abb. 27—29 59
ITALIEN
sollte das Großpapier befriedigen. Daraus entwickelte sich eine eigene
Art der Bücherliebhaberei, die die neue Einbandkunst unterstützte.
Die Bücherlust des geschmackvollen Sammlers weckte es, wenn er
auswählend und auszierend die Bücher seiner Umgebung bestimmte,
sich ihm in schöner Gestalt zu zeigen, die sie farbenfreudig aus dem
Alltagsgrau hervorleuchten ließ. Er konnte und wollte nicht mehr
alle Bücher haben, die ihm erreichbaren aber sollten auch nach etwas
aussehen. Barockes Empfinden und Renaissancegefühl verbinden
sich schon; das Buch in der Form einer Liebhaberausgabe erhielt
den Liebhaberwert eines Sammlerstückes, den die anderen Kenner
neid- oder teilnahmsvoll zu schätzen wußten und trennte sich derart
schon von seinem Besitzer durch den unvermeidlichen Verlust der
allernächsten persönlichen Werte, die ihn mit diesem verbinden.
Das Leben war zu vielseitig geworden, als daß es im Umkreise einer
Bücherrunde verbleiben konnte. Da gewann sich der eine die glän-
zenden Bände zurück als eine Bereicherung seiner Bücherträume,
der andere erblickt in ihnen einen Rang, Reichtum erhöhenden
Schmuck. Berühmt ihrer kunstfertigen Einbände wegen sind be-
sonders zwei italienische Liebhaberbüchereien geworden, die von
Tommas o Maioli [u. 1500 — u. 1550]* und die von DemetrioCane-
vari [1559—1625],* der seit 1590 Leibarzt des Papstes Urbans VII.
war. Aber die beiden Namen sind uns nicht viel mehr als die Be-
zeichnungen dieser Einbände. Wir wissen nicht, ob und inwieweit
Maioli selbständigen Anzeil an der Schöpfung eines neuen Einbandstils
nahm, als dessen eigentlicher Vertreter ein französischer Buchfreund
gilt, Jean Grolier. Und der Besitz Demetrio Canevaris an Pracht-
bänden, der mit seiner Bibliothek bis 1823 in Genua zusammen-
blieb, ist von einem uns unbekannten Vorgänger ererbt oder gekauft
gewesen. Maioli und Canevari waren beide nicht die einzigen
Italiener des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, die als
Einbandliebhaber sich den Ruf sorgsamer Buchpflege erwarben.
Auch des Kardinals Michael Bonelli [1541—1598] Namen hat
deshalb heute noch einen guten Klang und die Liste ließe sich ver-
längern, ohne weiterreichende Werte zu zeigen. Denn die neue
Einbandkunst fand in Frankreich ihre Heimat, wo der kunst-
70
* Abb. 30—32
16. JAHRHUNDERT
sinnigen Sammelfreudigkeit in der Mode eine starke Verbündete
erstand, wo das Schrifttum, sich einer machtvollen nationalpoliti-
schen Idee unterordnend, selbst zu einer glänzenden Machtstellung
emporwuchs, indessen es mit dem Ausgange des siebzehnten Jahr-
hunderts in Italien verfiel. Dem Lande, in dem das politische Frei-
heitsbewußtsein von den Spaniern, das philosophische und religiöse
von den Jesuiten, das sprachliche von der 1582 gegründeten Akademie
der Crusca in Florenz unterdrückt wurde, deren Zensur einen Kanon
der italienischen Klassiker aufrecht erhielt, den sie aufgestellt hatte
und bis in die von ihr als gut oder schlecht bezeichneten Ausgaben
überwachte. Das führte zu einer Beschränkung der Bücherwahl,
zu einer Regelung der Büchereien nach Zitaten. Man bemächtigte
sich müder der Schätze der Vergangenheit, da man sie in gesicherter
Wahrung zu halten meinte. Der Überfluß der alten und neuen Bücher
hatte andere Sammler als die aufraffenden, doch auch weiter-
gebenden Humanisten werden lassen. Die Bibliophilen, die Biblio-
theken ersten Ranges gründen wollten, mußten deren Ausmessungen
weit und immer weiter bestimmen; ihr Ziel zu erreichen gelang
ihnen nur, wenn sie ordnend und sichtend ständig in der Beschäfti-
gung des Sammeins nicht erlahmten. Darin wurde die Bibliophilie
mehr und mehr zu einer bibliothekarischen Tätigkeit, die eine eigene
Wissenschaft vom Buche erforderlich machte.
In Padua hatte Gian-Vincenzio Pinelli [1538—1601]* die
bedeutende Bibliothek gesammelt, in der sich die Buchfreunde
dieser Stadt zu treffen pflegten, so daß sie einer ununterbrochen den
Künsten und Wissenschaften eröffneten Akademien verglichen
worden ist. Alle Fächer waren in ihr wohl besetzt, nur die der Rechts-
wissenschaften nicht, die Pinelli leer ließ, da ihm sein Vater Paolo,
ein vornehmer und sehr wohlhabender Genuese, das juristische Stu-
dium aufgezwungen hatte. Dafür dankte er seinem Vater ein er-
hebliches Vermögen, das ihm ein Büchersammeln nach seinen Nei-
gungen gestattete. Der Beschaffung neuer Bücher diente ein über
Europa sich ausdehnender Briefwechsel mit führenden Gelehrten,
das neue Sammlungsverfahren, das die Unvollkommenheiten des
internationalen Buchhandels wettmachen sollte. Weiterhin hatte
* Ahh, 33
71
ITALIEN
Pinelli seinen Agenten in den großen italienischen Städten den Auf-
trag gegeben, allmonatlich die Runde in den Pergament verarbeiten-
den Werkstätten zu machen, um Manuskripten und Manuskript-
fragmenten nachzuspüren. Auch dieses bUeb noch in den verschiede-
nen Ländern lange eine lohnende Art des Bücherkaufens, war aber
jedenfalls dazu ein Zeichen, wie rasch die Ausbreitung des Buch-
drucks die Einschätzung des Buches vernichtet hatte und wie sehr
der Kodex, das Humanistenideal, als eine Kostbarkeit in seiner
volkstümlichen Wertung gesunken war. In Padua hatte Pinellis
Sammeleifer nur einen einzigenNebenbuhler zu fürchten gehabt,
seinen Freund Paolo Aicardo. Ein Vertrag beseitigte ihren Wett-
bewerb, nach dem die Bibliothek des Erstverstorbenen dem über-
lebenden sufallen sollte. Derart erbte Pinelli Aicardos Büchernach-
laß. Als er dann selbst seinen Bücherschatz den Erben lassen mußte,
beabsichtigten diese, die Bibliothek nach Neapel, Pinellis Geburts-
stadt, zu bringen; ein durch die venetianische Regierung vereiteltes
Vorhaben, die die Beschlagnahme von etwa 200 — 300 Handschriften-
bänden, die in die Markusbibliothek gekommen sind, bestimmte, weil
sich in ihnen Kopien von Dokumenten zur venetianischen Politik
befanden, die nicht ins Ausland gelangen sollten. Die anderen Be-
stände, die freigegeben wurden, sollten großenteils in drei Schiffs-
ladungen von Genua nach Neapel verfrachtet werden. Eines dieser
Schiffe wurde von Piraten aufgebracht, die die unerwartete Beute
der ,Bibliothek Neptuns' schenkten, so daß nur wenige Bände aus
diesem Seeabenteuer gerettet wurden, indessen der glücklich in
Neapel angekommene Rest dort, lange vernachlässigt, in Ballen ver-
packt blieb, bis er in der Ambrosiana vom Kardinal Borromeo wieder
erlöst wurde. Die noch in Padua zurückgebliebenen Bücher gaben
den Grundstock einer anderen Pinelli-Privatbibliothek, die sich der
im Levantehandel reich gewordene Zweig der Familie schuf und
deren letzter Besitzer der 1785 in Venedig gestorbene gelehrte Buch-
drucker und Buchhändler Maffeo Pinelli* gewesen ist. Der an-
gesehene Bibliograph J. Morelli hatte ihre 11861 Bände in einem
ausgezeichneten Katalog beschrieben und die Londoner Buchhänd-
ler Messrs. Robson & Edwards hatten sie für 13000 Zechinen
72
* Abb. 34
17. JAHRHUNDERT
[oder ungefähr 7000 Pfund] 1788 erworben. Aber die Auktion, die
im März und April 1789, im Februar und März 1790 in der eng-
lischen Hauptstadt stattfand, blieb eine verfehlte Spekulation. Die
14778 Nummern brachten nur 9356 Pfund, eine Summe, die nach
Abzug der Unkosten die Auktionatoren keinen erheblichen Gewinn
machen ließ. Immerhin war diese bibliographisch-merkantile Ope-
ration für die Verlegung des Schwergewichtes im internationalen
Büchersammelwesen kennzeichnend: sie zeigte, daß Italien auf gehört
hatte, der Mittelpunkt zu sein, in dem die Bücherschätze der Erde
zusammenflössen, die hierher die Bibliophilen- Humanisten leiteten.
Der Kardinal und Erzbischof von Mailand Conte Federico
Borromeo [1564-1631],* der für 60000 Lire die in Neapel befind-
lichen Bücher Pinellis angekauft hatte, um sie der von ihm 1602
aufgestellten und 1609 der Benutzung eröffneten, nach dem Mai-
ländischen Schutzpatron genannten Biblioteca Ambrosiana zu-
zuführen, ist der letzte der Büchereigründer Italiens gewesen, der
noch größere Handschriftenmassen, wie einst die Humanisten, zu-
sammenbringen konnte. Aber der Plan der Anstalt, den er nicht
ohne Eigenwilligkeiten entworfen hatte, so verbot er die Druck-
legung von Katalogen, war doch schon durch andere Anschauungen
beeinflußt und bestimmt, die auf die Entwicklung eines öffent-
lichen, staatlichen, wissenschaftlichen Büchersammelwesens wiesen.
Nach dem Beispiel der Domherren an den Kathedralen wollte er
eine wissenschaftliche Behörde einsetzen, die Doctores Bibliothecae
Ambrosianae, ein Gelehrtenkollegium von sechzehn Mitgliedern,
die in ihren Fächern die Anschaffungen beraten und überwachen,
die Arbeiten der Bibliotheksbesucher unterstützen und selbst biblio-
graphisch-bibliothekarisch die Bücherschätze verwerten sollten.
Mangel an Mitteln schränkte diesen Plan ein. Immerhin aber ent-
hielt er die fortan geltenden Grundsätze für den Auf- und Ausbau
sowie die Benutzung öffentlicher Büchersammlungen in seinen Grund-
zügen und verwies darauf, daß die Büchermassen eine Umstellung
der Büchersammelverfahren herbeiführen mußten, daß ein einzelner
nicht mehr der Herr aller bekannten Bücher sein konnte, sondern
nur noch ihr Diener in der Gestalt des eifrigen Bibliothekars, der in
* Abb. 35 73
ITALIEN
den Katalogen verwaltete. Wer es noch anders wollte, wer sich nicht
damit begnügte, auswählend, genießend, lernend mit den Büchern
Umgang zu haben, versank noch bei Lebzeiten in das Büchergrab
wie jener Florentiner, den man allein deshalb nicht einen Biblio-
manen nennen möchte, weil das Ergebnis der ihn beherrschenden
Sammelleidenschaft solch ein Urteil verhindert.
Der absonderlichste aller Florentiner Büchersammler ist An-
tonio Magliabechi [1633—1714]* gewesen, von dem man behaup-
tete: er habe nie ein Buch zu Ende gelesen und doch gäbe es keinen
anderen, der gleich ihm die Bücher und ihren Inhalt kenne. Schon
den armen Knaben zog, lange bevor er lesen lernte, ein gewaltiger
Trieb zum Buche. Ein auf ihn aufmerksam gewordener Buch-
händler nahm sich des jungen Magliabechi an und nun entwickelten
sich dessen Bibliophilentalente in ihrer ganzen Einseitigkeit und
in ihrer ganzen Stärke. Der Bibliothekar des Großherzogs Cosimo III.,
Michele Ermini, ebnete ihm weiter den Weg zu den Wissenschaften;
die großherzogliche Gunst unterstützte ihn. Als der einundachtzig-
j ährige, seit 1673 Amtsnachfolger Erminis, die Augen schloß, verlor
Florenz seinen merkwürdigsten Mitbürger und gewann eine neue
Büchersammlung europäischen Rufes, die Biblioteca Magliabe-
chi an a, die ihr Stifter dem Großherzog vermacht hatte. Ihre 30000
Bände, seitdem reichlich vermehrt, wui^den 1859 mit der Palatina,
der großherzoglichen Privatbibliothek in ifler BibliotecaNazionale
zusammengeschlossen. Den alten Buchfreunden seiner Vaterstadt,
die er nur zweimal zu kurzen Ausflügen verließ, läßt sich der Bücher-
zusammenschlepper MagUabechi nicht vergleichen, mögen, sein Fleiß,
seine Genügsamkeit, seine Kenntnisse auch lobenswert scheinen.
Denn er war nur ein Diener des Buches gewesen, während jene seine
freien Herren waren, die, gewohnt, weit über die Buchseiten in die
Welt hinauszuschauen, von den Büchern, die ihnen aus allen Zeiten
und in allen Zungen reden sollten, das Geheimnis der den Geist be-
flügelnden Schwingen entlehnten. Es ist ein gar kläglicher Gegensatz
zwischen den Bibliophilen- Humanisten und dem Büchersklaven
Magliabechi. Doch nicht allein ein Gegensatz der Charaktere, auch
ein Gegensatz der Epochen.
74 * Abb. 38
17. JAHRHUNDERT
Magliabechi, dessen Gelehrsamkeit ein Anagramm seines Na-
mens, das der Pater Finardi ausgedacht hatte, kennzeichnete [An-
tonius Magliabechius — Is unus Bibliotheca tnagna], war auch
seiner verwunderlichen Lebensweise wegen, in die ihn seine leiden-
schaftliche Bücherliebhaberei zwang, eine von keinem Besucher
der Arnostadt ausgelassene Sehenswürdigkeit geworden und die
Magliabechiana könnten einen dicken Band füllen, in dem bald über
das fabelhafte Gedächtnis dieses Mannes, bald über seine Unrein-
lichkeit berichtet wird, die sein starker Schnupftabaksverbrauch
noch verstärkte. Oder über die Einrichtung seiner Wohnung, in
der die Bücher auch die Dienste des Hausgestühls zu leisten
hatten. Oder darüber, daß Eier seine Hauptnahrung waren, daß er
nur drei, vier Stunden, und zwar auf oder zwischen seinen Büchern
schlafe usw. Alle diese anekdotischen, einander nacherzählten
Schnurrpfeifereien lassen freilich auch in ihren Übertreibungen nicht
verkennen, wie eigenwillig diese Persönlichkeit gewesen sein muß
und wie ihre Beschränkung auf das Leben in Büchern, ihr Bücher-
wissen, ihre Lese- und Sammelwut sie mit seltsamen Zügen aus-
stattete. Einen Besuch bei dem Wunderlichen beschreibt ein, aus
Rom vom 15. März 1692 datierter, Brief des Heinrich Bartsch fol-
gendermaßen: ,jZu Florenz war ich an den berühmten Bibliothekar
Magliabechi von Herrn Professor Schurzfleisch rekommendiert, wel-
cher mich gut aufnahm und mir und meinen Gefährten ungemeine
Höflichkeiten erwies. Er ist drei ganze Tage mit uns herumgelaufen
und hat uns alle Memorabilia, insonderheit die Groß- Herzogliche
Bibliothek gezeigt. — Endlich führte er uns auch in seine eigene
Bibliothek ; darinne sah es gar wunderlich aus, und habe ich niemals
eine solche Unordnung gesehen, werde sie auch nicht wieder sehen.
Der Mann lebt ganz allein, hat keine Frau, Magd oder einen Jungen,
sondern läßt sein Essen bei den Nachbarn zurichten. In seinem
Hause [Parva sed apta domus, in der Gasse della Scala, hinter der
Dominikaner- Kirche gelegen] findet man nichts als Bücher. Alle
seine Mobilien bestehen aus sechs Stühlen [auf welchen Bücher
liegen] und aus einer Matratze, auf der er schläft. Wenn man ins
Vorhaus kömmt, liegen Bücher, eins über das andere, fast bis an
75
ITALIEN
den Balken, so daß nur ein Gang für Eine Person gelassen ist. So
sieht es auch in den anderen Kammern aus. Die Treppe ist gleich-
falls mit Büchern belegt, so, daß man oft auf dieselben treten muß.
Der Stall ist voll Bücher. Die Repositorien sind drei-doppelt mit
Büchern angefüllt. Im Hofe steht ein Brunnen, auf dessen Rande
rund umher Bücher liegen. Und doch weiß er auch das geringste
Buch sogleich zu finden. — Sein Geld, was er hat, erstreckt sich
nicht über 20 Skudi, und das liegt zerstreut zwischen den Büchern.
Kömmt ein Bettler, so schickt er ihn zuweilen an den Tisch und
sagt, er soll nehmen, was er findet. Er hat in seinem Hause gern
noch einmal so viel Bücher, als auf der Großherzoglichen Bibliothek
zu finden sind. Bei dem Großherzog ist er sehr gelitten und kann
von ihm soviel Geld bekommen, als er will, aber er achtet kein Geld,
es sey denn, Bücher dafür zu kaufen. Schnupftabak ist seine größte
Delikatesse, welches wir schon erfahren hatten, deswegen wir alle
Tage eine Dose füllten, welche auch aufging. Davon hat er sich die
ungeheuere Nase so verdorben, daß sie aussieht wie ein ungefegter
Schornstein. Wenn wir dieses und jenes fragten, so diskurierte er
so lange und so vehement, daß ihm das Maul schäumte. Er redet
schlecht Latein, darum er schwer dazu zu bringen ist, sondern
meist Italienisch. ''
Das Bildnis des Buchmannes Magliabechi armseliger Herkunft
und geringer Lebensgewohnheiten hat in der Porträtgalerie der ita-
lienischen Bibliophilen einen einsamen Platz. Die stolzesten Fürsten-
geschlechter verschmähten es vordem nicht, durch ein Büchereidenk-
mal sich ihre Ehren zu erwerben. Alte angesehene, begüterte Fa-
milien in Italien, die für die Ausstattung ihrer Paläste und Villen
Büchersammlungen unterhielten, Sammlungen, die wechselten, weil
sie durch Erbteilungen auseinandergerissen oder zusammengefügt
wurden, Sammlungen, die vergessen und verkauft wurden, Samm-
lungen, die heute noch verschlossen und vorhanden sind, waren seit
dem Bücherlust und Kunstfreude fast eine Pflicht der vornehmen
Welt geworden, zahlreich. Aber alle diese Büchersammlungen sind
doch eigentlichen Liebhaberbüchereien nur in jenem Sinne zu ver-
gleichen, in dem man einen jahrhundertelang angesammelten Kunst-
76
17. JAHRHUNDERT
besitz eine Kunstsammlung nennt, weil der Bestand einer solchen
in ihr überreich vorhanden ist, weil sie, geordnet und verzeichnet,
eine Kunstsammlung werden würde, die als ein Ganzes selbständig
sich zeigt. Und sogar dann, wenn einzelne Bücherliebhaber einem
ererbten Bücherschatz, ihn ordnend und vermehrend, eine Zeitlang
das Gepräge ihrer Persönlichkeit verliehen, das rasch nach ihrem
Tode verloren ging, da die erneuerte Sammlung durch Teilungen
wieder zerfiel, ist ihr Platz in der Geschichte der berühmt gewordenen
Privatbibliotheken nur schwer aufzufinden, da die Nachrichten über
sie ausführlicheren Bericht versagen, sie kein Glied in der Kette einer
Überlieferung bildet. Deshalb würde eine Aufzählung dieser Büche-
reien, soweit da und dort sich ein Hinweis, eine Urkunde, ein Ver-
kaufsverzeichnis finden läßt, nicht mehr sein als eine lange Liste
von Namen und Zahlen ohne rechten Zusammenhang. Als das Bei-
spiel einer altberühmten Familienbibliothek ist die, 1892 in Rom
versteigerte, Biblioteca Borghese anzuführen, die kennzeich-
nend ist für die großen, im Anfange des siebzehnten Jahrhunderts
in Rom vorhandenen vornehmen Hausbüchereien. Ihre Gründer
waren der Kardinal Camillo Borghese [geb. 1552, Papst Paul V.
1605 — 1621]* und sein von ihm adoptierter Neffe Scipione Caf-
farelli-Borghese [1576—1633], der mit sechsundzwanzig Jahren
Kardinal und Bibliotecario di S. Romana Chiesa geworden war.
Damals begannen Macht und Mittel der Geschlechter, die noch vor
wenigen Jahrzehnten um Herrschaft und Reichtum gestritten oder
sich verbündet hatten, schon zu schwinden und selbst den Be-
günstigsten die kirchliche Ehrenlaufbahn sich zu verlangsamen.
Der erblassende Glanz des literarischen Mäzenatentums strahlte
nicht mehr weit über die engeren Staats- und Stadtgrenzen hinaus;
die humanistische Universalität verdrängte allmählich ein literari-
scher Lokalpatriotismus, der sich zum einigenden Nationalismus erst
wieder im neunzehnten Jahrhundert zusammenschließen sollte. In
den Akademien und ähnlichen gesellschaftlichen Vereinigungen lebte
die Literatur als Mode weiter, doch meist nur Treibhauspflanzen
starben ihre üppigen Wucherungen mit dem Tage, der sie erzeugt
hatte. Langsam verliefen die Wellen, deren Flut die Büchertempel
* Abb. 36 77
ITALIEN
aus dem Meere der Vergangenheit emporgetragen hatten: die Be-
geisterung für das Buch war vor den Bücherläden keine Heldentat
mehr.* Das Buch war eine Jedermannsware geworden und bekam
auf den Umwegen über die Kuriosität und die Rarität erst im acht-
zehnten Jahrhundert wieder neue Sammlerreize. Um so schärfer
traten jetzt die Gestalten solcher Buchfreunde hervor, deren Büche-
reien sich von der Büchermasse trennten, indem sie die überflüssig
und unmöglich gewordene Vollständigkeit durch eine Auswahl er-
setzten, die Höhepunkte des Buchwesens und Schrifttums wider*»
spiegeln wollte. Büchersaal und Bücherstube hatten nicht mehr
das humanistische Ideal Vollständigkeit. Immer weiter schieden sich
die Wissenschaften und die Bücher und Büchersammler mit ihnen.
Wo der Gedanke einer allumfassenden Bibliothek sich hervorwagte,
wendete er sich mit Entschiedenheit ihrer öffentlichen Zweck-
erfüllung zu. Die Ähnlichkeit öffentlicher und privater Sammlungen
minderte sich immer schneller bis zu einem Gegensatz, und gegen-
einander sonderten sich auch die Gruppen der Privatbibliotheken.
Die Berufsgelehrten und die Liebhaber wurden die eigentlichen
Sammler. Jene, aus der Not eine Tugend machend, ihr Arbeits-
mittel mit ihren Bedürfnissen ausgleichend, denen sich noch die
großen öffentlich werdenden Sammlungen versagten, diese, indem
sie das Buch selbst aus seinen Eigenschaften zum Sammlerstück
erhoben. Muster, die die anderen Privatbibliotheken nachahmten.
Um alte Familienbibliotheken so weiterzuführen, wie ihre Anfänge
es ihnen bestimmt hatten, war ein Aufwand erforderlich geworden,
den man meist nicht mehr bezahlten könne oder wollte. So stockte
ihre Fortführung. Oder aber die früheren Bestände dieser Bücher-
sammlungen, soweit sie sich nicht ganz und gar auflösten, mußten
neueren Einrichtungen weichen. Auch darin äußerte sich die über-
wiegende Vermehrung der Personalbibliotheken, die meist nicht
mehr Generationen überdauerten, da den Erben ihre Verwertung
durch die Ausbildung eines Büchermarktes erleichtert wurde.
Amt und Ansehen der Kirchenfürsten bedingten ebenso den
Besitz einer Bücherei wie er ihnen, die mehr und mehr dem Adel
Italiens entstammten, zu einer gesellschaftlichen Gewohnheit wurde,
78 * Abb. 39
17. JAHRHUNDERT
Die Kardinäle, deren Residenz Rom war, liebten es, hier oder auf
ihrem Landsitz eine Repräsentationsbibliothek aufstellen zu können,
die nach ihrem Tode vielfach dem Familienbesitz zufiel oder einer
kirchlichen Anstalt, einem Kloster etwa. Derartige Büchereien er-
weiterten sich gelegentlich wohl auch zu einer Liebhaberbücherei,
wenn ihr Sammler oder ihr Verwalter einen ausgesprochenen Bücher-
sinn hatte, zu einer Privatbibliothek höherer Ordnung, wenn sie
wissenschaftliche Zwecke erfüllen sollte. Dann aber unterschied sie
sich nicht weiter von den ihr ähnlichen Büchersammlungen anderer
Länder ihrer Zeit, es sei denn, daß ihre Bände, mit einem Kardinals-
wappen oder gar einem Papstwappen prunkend späteren Besitzern
die Erinnerung an eine geschichtlich bekanntgewordene Persön-
lichkeit erhielten. Bibliophilenprovenienzen, die das Andenken an
Buchfreunde wahren, die als Bücherkenner und Bücherpfleger sich
auszeichneten, sind sie meist nicht. Schon der Kardinal Domenico
Capranica [gest. 1458], der neben Bessarion in der ersten Reihe
der römischen Büchersammler jener Tage stand, hatte seine Bücherei
mitsamt seinem Palaste zur Begründung eines neuen Kollegiums
hinterlassen. Soweit seine Stiftung Nachahmer fand, wählten diese
ähnliche Zwecke der Fortnutzung ihrer Sammlungen, überließen sie
sie durch Vermächtnis einer bestimmten geistlichen Anstalt, einem
bestimmten kirchlichen Orden. Aber erst im Anfange des sieb-
zehnten Jahrhunderts, 1614, ist von einem Bibliophilen, Angelo
Rocca [1545—1620], Bischof in partibus von Tagaste, die erste
öffentliche Bibliothek Roms gegründet worden, die allen, die es
wünschten, zugänglich sein sollte. Noch standen die Alessandrina,
die Chigiana, die Corsiniana, die Casanatense, die Vallicelliana, die
Barberiniana* nicht zur Verfügung wissenschaftlicher Forschungen,
die Vaticana erschloß sich nur auf besondere Erlaubnis, die Kloster-
büchereien dienten ausschließlich den Ordensmitgliedern. Da war
die Biblioteca Angelica, wie sie nach ihrem Stifter hieß, für die Ge-
lehrtenrepublik im Kirchenstaate eine erwünschte Zufluchtsstätte.
Künstlerischer Lebensgenuß und Musendienst in den Wissenschaften
gab den Haushaltungen der Kirchenfürsten noch hohen Glanz.
Doch nicht die humanistischen Ideale waren es, die ihn als Sonne
* Abb. 37
79
ITALIEN
leuchten ließen, sie waren in der Altertumskunde zusammen-
geschrumpft, der einzigen auf dem archäologischen von Poggio
entdeckten Boden der Tiberstadt geltenden profanen Wissenschaft.
Sonst herrschte die Theologie wieder über alles andere Wissen, seine
Pfleger und Pflegestätten. Sie war die amtliche römische Wissen-
schaft, deren Gebiet freilich nicht mit allzu engen Grenzen umzogen
wurde. Das alles gab auch dem römischen Büchersammelwesen des
siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts einen besonderen eigen-
artigen Zug. Um die Wende dieser Jahrhunderte mehrten sich die
Bibliotheksstiftungen für das Gemeinwohl, Der Kardinal Hierony-
mus Casanatta [1620 — 1700] vermachte seine Büchersammlung
öffentlicher Natzung, sie wurde, mit der der Dominikaner ver-
einigt, im Riesensaal der Minerva aufgestellt. Denn die architek-
tonische Einheit des Büchereiraumes galt in ItaUen noch viel,* man
liebte es, die Einheitlichkeit einer großen Büchersammlung durch
ihre Ordnung sinnlich wahrnehmbar zu machen, Raumteilungen zu
vermeiden, Akademien und Konservationen inmitten einer das
Auge erfreuenden Bibliothekspracht zu halten, den Büchersaal als
den gegebenen Ort gelehrter Geselligkeit anzusehen. Derart ent-
stand allmählich aus der Gewährung der Benutzung größerer Privat-
bibliotheken an einzelne ihre Umwandlung in dem öffentlichen Ge-
brauche geöffneter Sammlungen, die für einige der bekanntesten
dieser Bibliotheken kennzeichnend blieb. Kardinal Renato Im-
periali [1651 — 1737] hinterließ seine im Palast bei S. Apostoli be-
findliche Büchersammlung, die vom Kardinal Slusio stammte und
von Justus Fontanini katalogisiert war, ebenfalls der Öffentlichkeit.
Ein Menschenalter später wurde die Biblioteca Angelica mit der be-
deutendsten im achtzehnten Jahrhundert in Rom entstandenen
Liebhaberbücherei, der des Kardinals Passionei, verbunden.
In diesem Jahrhundert galten in Italien und anderswo reiche
Büchersammlungen noch als Sehenswürdigkeiten. Aber bereits war
die Beschäftigung der Gelehrten mit den Büchern zu wissenschaft-
lichem Sammeln geworden. Das Auswählen, nicht mehr so sehr das
Beschaffen der Bücher verlangte ebenso wie die zu ihrer Nutzung er-
forderliche Ordnung, wenn die Bändezahl wuchs, eigene Fachkennt-
80 * Abb. 22, 23
18. JAHRHUNDERT
nis. Aus den Bibliognosten des siebzehnten Jahrhunderts^ deren
eigenwillige Gelehrsamkeit sich in den aufgehäuften Büchermassen
zurechtfand, hatten sich die Bibliothekare des achtzehnten Jahr*
hunderts entwickelt, deren Beruf sich eben fester bildete, um im
neunzehnten Jahrhundert der eines Verwaltungsbeamten zu wer-
den. Aus den Belustigungen der Kuriositäten* und Raritätensucher
entstand, ihre Methodik und Systematik festigend, sich mit buch*
geschichtlichen Forschungen verbindend, die Bibliographie, eine
Quellenkunde aller Wissenschaften. Ein Altbfichermarkt mit seinen
internationalen und nationalen Liebhaberwerten bedingte, daß die
Bibliophilen, mochten sie ihre eigenen Bibliothekare sein oder Män-
ner von Ruf gewinnen, es an buchhändlerischer Geschäftigkeit und
Geschäftlichkeit nicht fehlen ließen. Es genfigte nicht, Abschriften
zu bestellen; man mußte die Ausgaben eines Werkes kennen und
finden, die mühselige Einzelarbeit stetig auf das Ganze gerichtet
halten, um bei der Organisation einer großen Privatbibliothek, die
sich vor anderen auszeichnen sollte. Glück zu haben. Alte Buch*
handschriften hohen Wertes ließen sich nur durch günstige Zufälle
verschaffen. Dafür fand sich die ihnen folgende Buchschicht, die
der Wiegendrucke, noch in reicher Zahl und das Bestreben der
Büchersammlungen war darauf gerichtet , sie zu erfassen, die Edi-
tiones principes der Klassiker zu vereinen; dazu die Bücher, die in
den einzelnen Wissenschaften einen Rang hatten, zusammenzu-
bringen. Die Bedeutung des Begriffes der Seltenheiten umgrenzte
sich: derjenigen Drucke, die aus irgendeinem Grunde gesucht, aber
schwierig zu erlangen waren. Eine BibUothekornamentik, er-
glänzten sie unter den Zimelien und waren schon mehr als die immer-
hin den Käufern sich noch anbietenden kostspieligen Prachtwerke,
die keinem Bibliothekenluxus fehlen durften. Derart erscheint das
achtzehnte Jahrhundert eine Übergangszeit von der Büchergelehr-
samkeit zur Bücherkunde. Im Büchersammelwesen vollzog sich die
Trennung zwischen den Liebhaberbüchereien und den Bibliotheks-
magazinen, die das Verlangen nach Vollständigkeit und Zweck-
mäßigkeit ihrer Anlage für den öffentlichen Gebrauch zu Anstalten
werden ließ, die zugleich wissenschaftliche Arbeitsstätten sein sollten
BOGENO 6 81
ITALIEN
und Speicher, die die Bücher der Vergangenheit der Zukunft er-
hielten. Das umschreibt Goethe, wenn er den beabsichtigten Über-
tritt eines berühmten Gelehrten aus der bibliothekarischen Tätig-
keit bei einem berühmten deutschen Büchersammler in die bei einem
berühmten römischen Sammler schildert: „Und so war auch die
literarisch-bibliographische Bildung dasjenige Verdienst, das Winckel-
mann früher dem Grafen Bünau und später dem Kardinal Passionei
empfahl. Ein Bücherkenner ist überall willkommen, und er war es
in jener Zeit noch mehr, als die Lust, merkwürdige und rare Bücher
zu sammeln, lebendiger, das bibliothekarische Geschäft noch mehr
in sich selbst beschränkt war. Eine große deutsche Bibliothek sah
einer großen römischen ähnlich. Sie konnten mit einander im Be-
sitz der Bücher wetteifern. Der Bibliothekar eines deutschen Grafen
war für einen Kardinal ein erwünschter Hausgenosse und konnte
sich auch da gleich wieder als zu Hause finden. Die Bibliotheken
waren wirkliche Schatzkammern, anstatt daß man sie jetzt, bei dem
schnellen Fortschreiten der Wissenschaften, bei dem zweckmäßigen
und zwecklosen Anhäufen der Druckschriften, mehr als nützliche
Vorratskammern und zugleich als unnütze Gerümpelkammern an-
zusehen hat, so daß ein Bibliothekar weit mehr als sonst sich von
dem Gange der Wissenschaft, von dem Wert oder Unwert der
Schriften zu unterrichten Ursache hat und ein deutscher Biblio-
thekar Kenntnisse besitzen muß, die fürs Ausland verloren wären.**
Um das Amt eines Bibliothekars beim Kardinal Domenico
Passionei [1682—1761]* anzutreten, war 1755 Johann Joachim
Winkelmann [1717—1768] nach Rom gekommen. 1756 erst ließ
er sich ihm vorstellen, um von da an, im Genüsse einer der er-
lesensten Büchersammlungen der Tiberstadt, sein Hausfreund zu
bleiben. Passionei war bei aller seiner wissenschaftlichen Bildung
durchaus kein Stubengelehrter, sondern ein weltgewandter Mann,
von großer Freiheit des Geistes und der Umgangsformen; ein Mann,
der es verstand, seinen Bibliophilie-Passionen eine vornehme welt-
lichere Wendung zu geben, ohne das zu vernachlässigen, was seinen
Ämtern und Würden anstand; das Beispiel eines die Bücher hoch-
schätzenden Kirchenfürsten, der mit ihnen lebte und leben ließ.
82
* Abb. 40
18. JAHRHUNDERT
Die Eigenheiten, die auch ihm aus solchen Eigenschaften erwuchsen,
verändern das Bild einer Persönlichkeit nur wenig, die das Muster
jener Art von Büchersammlern gewesen ist, die die Phantasie sich
gern in der Gestalt eines gesellschaftlich hochstehenden GeistUchen
vorstellt. Angefangen hatte der Conte Passionei den Aufbau seiner
Bibliothek unter der Anleitung des Paters Tommasi, dem er die
Lehre verdankte, bester Gebrauch von Geld und Kenntnissen sei ihre
Verbreitung, schon in den römischen Studienjahren. Wie er denn
überhaupt darin sehr geschickt gewesen ist, sich mit bedeutenden
Leuten zusammenführen zu lassen und das einmal gefundene glück-
liche Verhältnis durch einen Briefwechsel aufrecht zu erhalten, der
ihn mit samt seiner Bücherei in den Mittelpunkt eines sich über
die europäischen Länder ausdehnenden Gedanken- und Schriften-
tausches stellte. Die diplomatischen, erfolgreichen Wanderjahre
führten ihn seit 1706 durch Frankreich, Holland, England. Als der
apostolische Legat 1713 aus Utrecht nach Rom zurückkehrte, be-
gleitete ihn nicht allein der Ruf eines bewährten Vertreters des
Heiligen Stuhles. Auch der Bibliophile erfreute sich eines in den
Hauptstädten wohlangesehenen Namens. Er fand jetzt, von Papst
Clemens XL in einer Ministerstellung verwendet, die ihn eine füh-
rende Rolle in politischen Sendungen und Verhandlungen von
Wichtigkeit spielen ließ, die Muße, um die Ordnung seiner sehr an-
gewachsenen Bibliothek vornehmen lassen zu können. Der Nach-
folger dieses Papstes, Innocenz XHL, ernannte ihn jedoch 1721 zum
Nuntius in der Schweiz, wo er bis zum Jahre 1730 blieb. Anekdoten
möchten behaupten — in seinen Briefen spricht auch der Präsident
De Brosses von ihnen — der amtliche Einfluß hätte Passionei in
den Stand gesetzt, die alemannischen Klosterbibliotheken um kost-
bares Büchergut, vor allem um wertvolle Handschriften zu bringen.
Inwieweit ihren Ausschmückungen tatsächliche Vorgänge zugrunde
lagen, bleibe dahingestellt. Jedenfalls aber hätte der in kleinen Listen
geübte Diplomat, dessen Verbindlichkeit so groß war, daß sein
Dank stets das Angebot überholte, sich in derartigen heimlichen
Bücherjagden nicht so plump ungeschickt zeigen können, wie es
ihm diese Geschichtchen zuschreiben. Es sind Bibliophilen- Legenden,
6- 83
ITALIEN
die in immer neuisn Wandlungen bald von diesem, bald von jenem
Bächersammler erzählt werden. Daß Passionei einmal Besuchern,
die sich über seinen unfähigen Bibliothekar verwunderten, die Ant-
wort gegeben habe, seine Bibliothek sei sein Serail, über das er nur
von Eunuchen wachen lasse, ist die Aufwärmung eines längst be-
kannten Witzwortes. Dagegen war die Abneigung, die Passionei
gegen die Jesuiten hatte, echt. In seiner Bücherei duldete er kein
Werk eines Jesuiten. 1730 wurde Passionei von Papst Clemens XII.
zum Nuntius in Wien ernannt, 1737 zum Sekretär der Breven und
zum Kardinal, allerdingst erst, nachdem ein Brief Kaiser Karls VI.
den Papst darauf aufmerksam gemacht hatte, daß der um die Kurie
sehr verdiente Diplomat schon längst der Auszeichnung durch den
Purpur würdig gewesen wäre. Passioneis sehr selbständiges Wesen,
das letzten Endes auch seine Papstwahl verhinderte, mag nicht
schuldlos an solchen Störungen seiner amtlichen Laufbahn gewesen
sein, während der er, weshalb wenigstens andeutend auf sie verwiesen
werden sollte, viele Jahre lang auch einer der berühmtesten in
deutschen Landen lebenden Büchersammler gewesen ist. Der neue
Ehren- und Pflichtenkreis, in den Passionei bei seiner endgültigen
Rückkehr nach Rom eintrat, brachte mit der Aufsicht über die
Propaganda, den Index, die Korrektur der orientalischen Bücher
ihn in eine engere Verbindung mit dem amtlichen Buchwesen der
römischen Kirche. Seit 1754 war der Capolibraro von Europa, wie
er sich selbstgefällig-selbstironisch nannte, Bibliotecario di Santa
Madre Chiesa, und förderte mit seinen Erfahrungen und Kennt-
nissen auch die Sammlungen des Vatikans, für dessen Bibliothek er
die von Baron Philipp von Stosch [1691 — 1757] in Florenz nach-
gelassene Handschriftensammlung hinzukaufen ließ. Eine Autorität
in bibliographischen und literarhistorischen Fragen starb Passionei
neunundsiebzigj ährig in seiner Villa in Fraskati, wo seine kleinere
Privatbibliothek stand, aus Schmerz darüber, nach des Abbe Goujet
Meinung, daß er das Mesengnys Exposition de la doctrine chr^tienne
verdammende Breve unterzeichnen mußte. Die Büchersammlung
Passioneis, die 1721, wie ihr Besitzer an G. B. Ottio schrieb, 60000
Bände zählte, nachdem ihr 1719 die Druckwerke der Büchersamm-
84
19. JAHRHUNDERT
lungCassiano del Pozzos einverleibt waren, deren Handschriften
an die Vaticana veräußert wurden, ist für 32000 scudi romani weiter-
verkauft worden, sie befindet sich jetzt in der BibUoteca AngeUca
in Rom. Die antiken Klassiker und die Archäologie, die dogmatische
und die historische Theologie bildeten die Hauptmasse ihres Inhalts.
Der Kardinal, dessen Begehren es gewesen war, Diener aller euro-
päischen Gelehrten zu heißen, allerdings unter Bevorzugung der
ausländischen, denn die Römer konnte er wenig leiden, hatte seine
Bücherei seine Frau genannt. „Doch bedeutete dies nur seine aus-
schließliche Leidenschaft, nicht den ausschließlichen Gebrauch.'*
Erfuhr er von wissenschaftlichen Arbeiten, schickte er unauf-
gefordert Auszüge. Dieses Ergötzen an der gelehrten Hilfeleistung
war es, das ihn bestimmte, seine Bücherei nicht in eine geregelte
Ordnung mit Nummern kommen zu lassen. An ihn selbst sollte man
sich wenden, er allein wollte wissen, wo die Bücher stünden. ,,Er
freut sich, wenn ich ihm Gelegenheit gebe," bemerkte einmal Winckel-
mann, ,,zu zeigen, daß er seine Bücher besser kennt, als sein armer
Bibliothekar, der ein französischer Abbe ist : er klettert selbst herum,
um mir das verlangte zu suchen."
Die Gestalt des hilfswilligen Kardinals auf der Bücherleiter
ist die des letzten italienischen Büchersammlers europäischen Ruh-
mes gewesen. Weder die antiken noch die italienischen Klassiker
konnten im neunzehnten Jahrhundert ihren alten Vorrang in den
Liebhaberbüchereien wahren. Das Buch Italiens hatte aufgehört
zu herrschen. Um 1800 war, dank Bodoni, eine Zeitlang zwar die
Buchkunst Italiens von internationalem Einfluß gewesen, aber das
Buchwesen und mit ihm das Büchersammelwesen Italiens stand
im neunzehnten Jahrhundert noch unter allzu starken äußeren
Hemmungen y als daß es eine einheitlich emporstrebende Ent-
wicklung hätte nehmen können. Wenn bald die kirchlichen, bald
die weltlichen Behörden mit Bücherverboten, deren Nichtbeach-
tung unter Umständen für den Sammler gefährlich werden konnte,
ihm entgegentraten; wenn die Grenzen ihn daran erinnerten, daß
es kein Italien gäbe, dann mochte er in der nationalen Vergangen-
heit nicht ohne Zukunftsgedanken verweilen. Die Bewegung des
85
ITALIEN
Humanismus und die des Risorgimento haben hierin in der BibUo-
philie mit ihren politischen Tendenzen eine Ähnlichkeit, daß sie in
den Büchern nicht allein ein geistiges Vaterland wiederfinden
wollten. Die Ausgaben der Dantereihen auf dem Ehrenplatz der
Büchereien italienischer Sammler zeigten auch derart die Einheit
des Volkes, Literatur und Politik verknüpfend. Der Altbuchhandel
konnte, obschon die Bücherschätze ItaUens den anderen Ländern
noch immer reichlich zuflössen, nach außen hin nicht zu einer vollen
weiten Wirkung gelangen, erst im neuen Staate gewann er eine gleiche
internationale Bedeutung wie in England, Frankreich, Deutschland,
bis ihn im zwanzigsten Ausfuhrgesetze einschränkten/ Aber die
BibUophilie Italiens, mochte sie auch als eine einheitliche Erscheinung
nicht glänzend hervortreten, ist trotzdem nicht verschwunden, be-
deutende alte und neue Sammlungen, bisweilen allgemeiner bekannt-
geworden durch ihre Versteigerungen oder Verzeichnisse, häufiger
noch in stiller Verborgenheit gedeihend, zeugen für sie. Und noch
immer ist es ihr Stolz, sich als Erben jener Humanistentradition zu
fühlen, die verkündet wird von Petrarcas Worten: Libri medullitus
delectant.
86
* Abb. 41
III. FRANKREICH
Die Anfänge der Bibliotheque Nationale in Paris, der Bücher*
Sammlung des französischen Volkes, reichen weit zurück, bis in
die frühen Librairies der Könige von Frankreich. Darin mag man ein
bezeichnendes Merkmal der Bibliophilieentwicklung dieses Landes
erkennen: das der nationalen Tendenz, die nicht nur in einer geistigen
Übereinstimmung vorhanden war, sondern bald in einer Haupt-
stadt, in einer Hofhaltung dauernde Unterstützung fand. Für die
Bibliophiliemode, für alle jenen äußeren Formen, die eine Er-
starkung des Büchersammelwesens zeigen, auch noch durch Über-
treibungen die Ausbreitung einer Buchkultur verraten, ist Paris rasch
tonangebend geworden. Hiermit hängt es wohl zusammen, daß das
ästhetische Element der modernen Bibliophilie französischen Ur-
sprungs war, indessen das ethische Element aus dem Glaubensbe-
kenntnis der Humanisten hervorwuchs : Anerkennung der von edlen
Werken offenbarten Schönheit und Wahrheit durch Buchdenkmäler
zu einer Anschauung sich erheben zu lassen, die von Buchdenkmälern
versinnlicht wurde. Die Huldigung der Humanisten galt dem Buche,
die Büchersammlung erschien in dessen Hintergrunde als das hu-
manistische Ideal der Vollständigkeit des Wissens. Anders schon
betrachteten die Bibliophilen Frankreichs ihre Bibliothek und deren
Bücher, als sie im sechzehnten Jahrhundert eine selbständige Stellung
gewonnen hatten. Damals war bereits das Druckwerk zur Herrschaft
gelangt. Wenn sie es, durch Ausstattung einzelner Ausgaben, ein-
zelner Bände, in die feinen Formen geschmackssicherer Liebhaberei
einbezogen, lösten sie es nicht aus^ der Sammlung, befestigten sie
es vielmehr in ihr noch weiter, durch Besitzmerkmale besonderer
Art die Zugehörigkeit eines ausgezeichneten Einzelstückes zum
Ganzen hervorhebend. Nicht darauf kam es ihnen an, den Abzug
der Buchdruckerwerkstätte in ein Kunstwerk zu verwandeln, das
der Prachthandschrift gleichwertig wurde. Die Ausstattung des
Buches war ihnen nicht allein mehr ein Mittel, ein Buch zu vervoll-
kommnen, sondern auch, um dessen Eingliederung in die Sammlung,
die sie sich wünschten, zu vollenden. Das deutet auf eine Wandlung
87
FRANKREICH
des Bibliotheksideals. Nicht Vollständigkeit schlechthin, sondern
Vollständigkeit in der Auswahl des Besten und Schönsten sollte
erreicht werden. Und auf eine andere Auffassung des Bibliotheks-
organismus selbst als eines solchen. Es handelte sich hier nicht mehr
um das Ansammeln und Aufstellen, sondern um die Benutzung der
Bücherei im ganzen. Die Bibliophiliemode verkleidete einen biblio-
thekstechnischen Wunsch: die Einheit aller Bücher durch die aus
ihnen erlesenen zu finden und in der Büchereieinheit zu schaffen.
Der Besitz einer Bücherei war damit noch anders gerechtfertigt
als bei den Humanisten. Blieb sie dort eine aufzuzehrende reiche
Vorratskammer des Wissens, so erhielt sie nunmehr eigenen Rang
eines Werkzeuges der Wissenschaften. Derart erklärt Michel de
Montaigne den Besitz einer Bücherei, die kein Überfluß, keine Ver-
schwendung wäre, sogar dann nicht, wenn sie den Leser nicht unter-
hielte oder unterrichte. Dieser Besitz erscheint ihm in einer ganz
anderen psychologischen Perspektive als den Humanisten, die sich
rühmten, die Bücher auswendig zu wissen. Die Bibliothek Mon-
taignes sollte sein Alter und seine Einsamkeit trösten, ihn von der
Last müßiger Langeweile befreien, ihn vor unangenehmer Gesell-
schaft schützen und den Stachel der nicht gar zu ernsten Leiden
und Leidenschaften abstumpfen. Wenn er gewöhnlich von ihrem
Vorhandensein keinen besseren Gebrauch mache als andere, denen
Bücher unbekannt blieben, so erfreue es ihn doch, wie den Geizigen
sein Goldschatz, seine Bände zur Hand zu haben, durch die Beruhi-
gung des Bewußtseins, sie brauchen zu können, wann und wie er es
wolle, durch die Hoffnung, er würde sie kennenlernen und sich mit
ihnen verständigen. Damit war ausgesprochen, daß nicht alle Bücher
zu allen Menschen paßten; daß nicht alle Bücher gelesen zu werden
brauchten; daß die Benutzung des Buches weiterreiche als bis zum
fleißigen Lesen und Wiederlesen einiger Bände. Montaigne hielt
die Bücher für den besten Vorrat, den man auf die Lebensreise mit-
nehmen könne und beklagte alle, die sie entbehren müßten. Er
gab, auch schlechte Bücher nicht verschmähend, den guten den Vor-
zug, er erkannte, daß, wenn die Menschen Fehler hätten, auch ihre
Bücher nicht ohne Fehler sein könnten, daß eine Bibliothek, die
88
14. JAHRHUNDERT
jederzeit und überall die höchsten Wünsche erfülle, eine unmög-
liche Utopie sei und daß die Bände einer Bücherei gerade durch
diese einen Ausgleich ihrer UnvoUkommenheiten finden würden.
Eine Bücherei zu haben hieß fortan nicht mehr, alle Bücherzu kennen
und zu lesen; es hieß, aus der Bücherei eine höhere Einheit des Buches
zu schaffen, die äußeren und die inneren Grenzen der unaufhörlich
wechselnden Bücherwelt zu regeln. Hatte der Humanismus das
Buch individualisiert, so individualisierte solcher Bibliophilen-
skeptizismus die Büchereien, weil er in ihnen selbst die Persönlich-
keiten ihrer Sammler richtunggebend für ihre Anlage, Ausdehnung
und Ausstattung werden ließ. Wissenschaftliche Zweckgedanken
leiteten die Fachbüchereien der Gelehrten, die methodisch und syste-
matisch sich desto mehr von den sonstigen Privatbibliotheken
schieden, je mehr sich ihre Wissenschaften in den Fakultäts Wissen-
schaften selbst trennten. Die großen Sammlungen, die sich einen
eigenen Repräsentationsstil schufen, gingen auf eine gleichmäßige
Vollständigkeit in der Auswahl des besten aus allen Fächern aus,
bedingt durch einen bibliographischen Kritizismus, der die Bücher-
massen siebte. Der Eklektizismus kam in der neuen Form der Lieb-
haberbücherei zur Geltung, die den alten Gedanken der freien Künste
auf das Bücherhaben und Büchernutzen anwandte; mit jener Freiheit
des Sammlers zu dem Seinen, die Montaigne verteidigte, mit jener
kunstsinnigen Art, sich den begehrten Besitz anzueignen, für die
Grolier vorbildlich wurde. Damit ist die Bibliophilenbibliothek ein
ästhetisches Ideal geworden, weil sie das Ebenmaß ihrer äußeren
Geltung und ihres inneren Wertes im Verhältnis zu dem Buch-
freunde, dem sie dient, gewinnt und auf ihn einschränkt, eine
Individualität wie er selbst wird. Nirgendwo aber waren die Be-
dingungen für die Entwicklung derartiger Liebhaberbüchereien,
die sich verhältnismäßig rasch vollzog, günstiger als in Frank-
reich. Denn hier gelangte man bald zu einem Ausgleich zwischen
der Freiheit des persönlichen Lebens und gesellschaftlichem Regel-
zwang; fand in der Mode und in der Tradition einen festen Halt,
eine Sicherheit des Lebens, die gerade auch in den Liebhaber-
büchereien zum Ausdruck kommen mußte, die bald jenes vornehme
89
FRAN KREICH
Wesen gewannen, das ein Erbe von Generationen gleichartiger Ge-
sinnung ist.
Der Bücherschatz König PhiUpps VI. und König Johanns II. ,
des Guten, war nicht groß. Als dieser, 1364, starb, hinterließ er
seinem Sohne und Thronfolger König Karl V., dem Gelehrten
[1337—1380], etwa ein Dutzend Handschriften, das Karl auf etwa
900 Bände vermehrte. Er war einer der besten Buchfreunde und
einer der größten Büchersammler in jenen Tagen, nach den hier
übereinstimmenden Urteilen seiner Zeitgenossen. „Ne dirons-nous
encore, de la sagesse du roi Charles, le grand amour qu'il avait ä
l'etude et ä la science. Et qu'il soit ainsi, bien le demontrait par la
belle assemblee de notable livres et belle librairie qu'il avait de tous
les plus notables volumes." [Christine de Pisan.] Oder aber [in der
Anrede des Raoul de Presles]: ,,Yous avez toujours aime la science
et honore les bons der es et etudie continuellement ces divers livres
et Sciences; et vous n'avez eu d'autre occupation." Ursprünglich war
die Librairie du Roi in seinem Palaste aufgestellt, 1367 oder 1368
kam sie in das Chäteau du Louvre, in die unter Leitung Raimonds du
Temple neu oder umgebaute Tour de la Fauconnerie, in der sie drei
Stockwerke einnahm. Die Wände im ersten Stock waren ganz mit
irländischem Holz ausgekleidet, einem Geschenk des Hennegau
Seneschalls, die Deckenrundung war mit zyprischem Holze geziert.
Der Eingang in jedes der Bücherzimmer war durch eine sieben Fuß
hohe, drei Fuß breite und drei Daumen dicke Tür verwahrt. Die
Einrichtung war aus dem Palast hinübergenommen. Dreißig kleine
Leuchter und eine Lampe von Silber waren, nach den Berichten
Felibiens und Sauvals, an der Decke angebracht; sie erlaubten es,
auch bei Dunkelheit oder in der Nacht zu lesen und schreiben. Diese
königliche Librairie überdauerte ihren Stifter nur wenige Jahrzehnte.
Ihre Bände wurden teilweise zerstreut, sie bereicherten, da Karls V-
[1423 verstorbener] Sohn Karl VI., der Wahnsinnige, ihnen keinen
Schutz gewähren konnten, die Büchereien der Herzöge von Anjou
und Berry, ergänzten sich aber durch neue Büchergeschenke an den
König, so daß sie schließlich wieder das Neunhundert erreichten,
als sich ihrer der [1435 gestorbene] Regent von Frankreich, John,
90
15. JAHRHUNDERT
Duke of Bedford durch eine Art von Scheinkauf für 1200 livres be-
mächtigte und sie [1429] nach England bringen ließ, von wo nur
einige wenige später in die Bibliotheque Nationale zurückgekehrt
sind. Vielleicht wäre damals schon, ohne diese politischen Zufälle,
eine Bibliothek in Frankreich entstanden, die die gleichzeitigen
italienischen weit hinter sich zurückgelassen hätte. Denn auch der
Duc Jean de Berry [1340—1406]* ist ein Bücher- und Kunstfreund
außergewöhnlicher Bedeutung gewesen, „der erste moderne Sammler
im großen Stil, der nicht bloß ausdrücklich oder der Kuriosität
halber seinen Schatz mit Kunstwerken füllt." [J. v. Schlosser.]
Eine neue Bibliotheque du Roi de France bildete König Lud-
wig XI. [1423—1483], indem er die in den königlichen Residenzen
vorhandenen Bücher im Louvre vereinigte, denen er die Bücherei
seines Bruders, des Duc de Guyenne, und einen Teil der Bücherei der
Ducs de Bourgogne hinzufügte und für die er sich die Bücherei des
Duc de Berry zurückgeben ließ. Karl VIII. [1470—1498] und Lud-
wig XII. [1462—1515]* brachten als italienische Kriegsbeute vieles
auch in ihre Bibliothek, der eine die Sammlung des Königs Alfonso
von Aragonien aus Neapel, der andere die der Sforza aus Pavia.
Unter Ludwig XII., dessen libraire et reheur Guillaume Eustache
war, begann auch, mit dem Übergänge der Gotik in den Renaissance-
stil, die neue Art der Einbandprunkentfaltung, mit der die Bücher-
sammlung der französischen Könige im sechzehnten Jahrhundert
glänzte. Um 1500 zählte sie kaum 2000 Bände, darunter 200 Druck-
werke. Der König hatte sie aus dem Louvre in das Schloß von Blois
überführen lassen, wo schon die Bücherei seines Vaters, des Dichters
Charles d'Orleans, Comte d'Angoulfeme [1391—1465] vor-
handen war, die dieser mit den aus England heimgebrachten Hand-
schriften sich gegründet hatte. Hierher kam nun auch aus Brügge
eine der ausgezeichnetsten Liebhabereibüchereien des fünfzehnten
Jahrhunderts, die der König von Jean, dem Erben und Sohn ihres
Sammlers Louis de Bruges, Seigneur de la Gruthuyse,
prince de Steenhuyse, Lord Wincester [gest. 1492] erworben
hatte. Franz I. [1494—1547]* besaß bereits eine eigene Bücherei in
Fontainebleau und ließ auch die Bibliotheque du Roi de France
* Abb. 42—44 91
FRANKREICH
aus Blois hierher kommen, sie mannigfach vermehrend, indessen
Heinrich II. [1519—1559]* nur wenig für sie tat. Franz IL, Karl IX.,
Heinrich III.,* Heinrich IV. standen der Büchersammlung ihres
Hauses, die jetzt schon einer selbständigen Verwaltung sich erfreute,
gleichgültiger gegenüber. Die Bibliophilie an Heinrichs IV. Hofe
fand ihre Förderung durch die Frauen, zumal durch die erste Ge-
mahlin des Königs Marguerite de Valois [1552—1615],* wie schon
an Heinrichs IL Hofe die Damen, die ihm am nächsten standen,
auch die Bücher geliebt hatten.
Catherine de Medicis [1519—1589],* den Familienüberliefe-
rungen treu bleibend, eine Freundin der Künste und Wissenschaften
wie ihr Gemahl, Heinrich IL, und ihr Schwiegervater, Franz L, hat
eine sehr beträchtliche eigene Bücherei hinterlassen, die sie nicht
ohne die den Medici eigene Gabe, Geschäftsangelegenheiten glücklich
mit dem Musendienste zu vereinen, zustande gebracht hat. Als bei
der Belagerung von Thionville 1558 der Marschall Pietro Strozzi
gefallen war, behauptete sie, dessen Büchersammlung sei ein alter
Medieibesitz, den sie nunmehr zurückforderte. In seiner Art be-
richtet Brantöme [Vies des Capitaines etrangers] darüber: „Ce grand
capitaine Strozzi avoit une tres-belle bibliotheque, dont on ne
sauroit dire de lui comme le roy Louis XI disoit d'un prelat de son
royaume qui avoit une tres-belle librairie et ne la voyoit jamais,
qu'il ressembloit k un bossu qui avoit une belle grosse bosse sur le
dos et ne la voyoit pas. Mais Monsieur le marechal visitoit, voyoit
et lisoit souvent en sa belle librairie; eile lui estoit venue du cardinal
Ridolphe [Ridolfi-Medici] et fut achete apr&s sa mort; il estoit tr^s-
savant prelat; eile estoit estim^e plus de quinze mille escus pour la
rarete des beaux et grands livres qui y estoient. Apres la mort dudit
marechal, la royne m^re la retira avec promesse d'en recompenser son
fils et de la lui payer un jour; mais jamail il n'en a eu un sol. Je sais
bien ce qu'il m'en a dit d'autrefois en estant fort mal content.**
Die Königin, die als Bibliophilin auch in einem Lobgedichte Ron-
sards schwungvoll angesungen wurde, hatte ihren von überall her
vermehrten Bücherschatz, der an 4—5000 griechische, lateinische,
hebräische, arabische, französische, italienische Werke, darunter die
92 * Abb. 46—48
16. JAHRHUNDERT
alten kostbaren achthundert Klassikermanuskripte der Ridolfi-
Strozzi-Sammlung zählte, vermutlich in ihrem bei Paris gelegenen
Schlosse Saint-Maur verwahrt. Aber nach ihrem Tode bedrohten
auch diesen Besitz, den eine amtliche Schätzung aus dem Jahre 1597
auf 5400 ecus bewertete, ihre zahlreichen Gläubiger und es bedurfte
erheblicher Anstrengungen des Hofes, um ihn 1599 für die Biblio*
theque du Roi zu erlangen. Etwas gewaltsam, wie die Aneignung
der Bücherei Strozzi, geschah das freilich auch. J. A. de Thou, der
eben erst das Amt eines Garde de la Bibliotheque du Roi zu ver-
walten begann, führte die Rettung der wichtigen Sammlung, nach
allen Seiten hin ausgleichend, durch, und Heinrich IV. brauchte nur
5400 ecus aufzuwenden. Die Bestände, großenteils heute noch in
der Bibliotheque Nationale geborgen, und die Verzeichnisse zeigen,
daß die Auswahl der Bände und deren Erhaltung hier die Benennung
einer Liebhaberbücherei rechtfertigen. Die Dichtung, auch die
neuere Dichtung, war reich und reichhaltig vertreten, die damals
durch ihre Massen noch in den angesehenen großen Privatbiblio-
theken überwiegenden schweren wissenschaftlichen Schriften waren
im Verhältnis zum Ganzen geschmackvoll verteilt, so daß es sich
wohl annehmen läßt, die königliche Sammlerin habe mit der Unter-
haltung ihrer von ihrem Beichtvater und Bibliothekar Benciveni,
abbe de Bellebranche geleiteten Bücherei nicht nur für einen vor-
nehmen Hausschmuck gesorgt, sondern auch für ihre Leselust. Daß
ihre Einbandliebhaberei den Luxus von Prachtbänden nicht ver-
schmähte, verstand sich nach der Königin Kunstliebe und der Mode von
selbst, immerhin dürften ihre Geldnötesie verhindert haben, auchhierin
sich alle Wünsche zu erfüllen, denn die Bezahlung der Buchbinder
war nicht so einfach gewesen wie der Ankauf der Strozzisammlung,
deren Handschriften erst Heinrich IV. neu binden ließ. Die Bücherei
der Diane de Poitiers, duchesse de Valentinois [1499 —
1566],* der ältesten Tochter eines Bibliophilen, des Jean de Poitiers,
seigneur de Saint Vallier, im Chäteau d'Anet, hatte eine weit engere
Verbindung mit derjenigen Heinrichs IL als die seiner Gemahlin.
Wenigstens hat man das daraus schließen wollen, dass ihr Band-
zeichen, das D der Mondsichel, sich auf den Einbänden ihres könig-
* Abb. 45 93
FRANKREICH
liehen Geliebten^ dessen Handbücherei fast vollständig in der Biblio-
thSque nationale aufbewahrt wird, in dessen H eingestellt wieder-
finde, woraus sich dann die Deutung einer Bibliophilenhuldigung
ergab« Unvermehrt und unversehrt blieben die Bücher der schönen
Diana lange im Schloß Anet stehen, bis sie 1724 aus dem Nachlasse
der damaligen Schloßherrin, der Anne de Baviere, die Anet 1718 er-
erbt hatte, versteigert wurden. Bei dieser Gelegenheit kaufte J. B.
Guyon de Sardiere die meisten der schönen Bände, die mit
seiner Bibliothek in die des Herzogs von La ValliÄre kamen.
Der Einfluß Italiens auf die Büchersammlungen des französi-
schen königlichen Hauses der Valois ist, obschon nicht der allein-
herrschende, nicht gering 'gewesen. Aber das Beispiel, das die ita-
lienische Renaissance mit ihrer Sammelleidenschaft gab, mit den auch
durch sie großwerdenden Namen der Medici, Guidobaldi, Della
Rovere, Sforza, Farnese, Gonzaga, fand in Frankreich vorerst keine
so weitreichende Nachahmung. Um 1500 konnte sich Paris mit Rom,
wo 39 Kardinäle 39 Museen in ihren Palästen hatten, schwerlich
vergleichen. Dazu wirkte die nationale Tradition dem entgegen, daß
die französische und die italienische Renaissance sich schlechthin
verschmolzen. Der Einfluß der von Franz I. herbeigerufenen Ita-
liener war keineswegs stark genug, um das französische Kunst- und
Sammelwesen sich unterzuordnen. Deshalb sind überall die Ansätze,
auf denen die neue Zeit begründet wurde in der französischen Ver-
gangenheit vorbereitet, auch in der Bücherei und im Buchgewerbe
ist das ,k Tentique' aus der ,mode frangoise* entstanden. Das Buch
durfte in der Form des alten oder kostbaren Manuskriptes neuer
Arbeit gewiß nicht fehlen, wenn sich ein reicher, vornehmer Herr,
dessen Hausrat^ Sammlungen werden, sein Schoß einrichtete, wie
es um 1504 mit dem Chateau de Bury Florimond Robert et,
dit le Grand, tat, der [1532 verstorbene] Schatzmeister Karls VIII.,
Ludwigs IL, Franz' I. Und die Buchhandschriftenzeit hat^ in
Frankreich ihre köstlichste und längste Nachblüte gehabt.* Immer-
hin jedoch war die Aufnahme des neuen, aus Deutschland kommen-
den Buches weit weniger als in Italien ein Widersprechen gegen die
mindere Art des Druckwerkes, weit mehr ein Bemühen, es buch-
94
* Abb. 66
16. JAHRHUNDERT
gewerblich zu veredeln und zu verschönern. Daß das Buch, dank
der Einbandkunst, in das Kunstgewerbe einbezogen wurde, gab der
neuen Art der Bücherliebhaberei Frankreichs die Grundlage einer
natürlichen Entwicklung. Diese Bibliophiliemode brachte einen
neuen Buchkunstzweig zur Blüte, das Druckwerk erhöhend, weil
dessen Buchformwerte erweiternd. Die Begierde, Schönes und Seltenes
zu besitzen, um damit das Leben zu verzieren: diese einer Renaissance
verbundene Sammlerlust war nicht allein in Paris, war ebenso in
den Provinzstädten, in Ronen, Lyon, Tours, Dijon, Troyes und
anderen vorhanden, wo die Cabinets der Curieux sich mit Kunst-
und Naturmerkwürdigkeiten ausstatteten, den Büchern keinen ge-
ringen Platz gewährend. In der Beschreibung, die der Dichter
Andre de Rivaudeau, seiner Cousine Marie Tiraqueau zu Ehren, von
dem Kabinett, das ihr Vater Michel, der berühmte Jurist, ein Freund
von Rabelais, in Bel-Esbat [bei Fontenay] besaß, gab, heißt es über
die Bibliothek:
Un recueil de force liures bons
Tirez de mille endroits de la France et du fons
Des briz Ausoniens, des presses de Venise,
Et du pais Souffle par Thaleine de bise.
Gerühmt wird der Sammler, der das Seine von überallher zu holen
weiß, gerühmt wird Venedig, der Vorort feinen Buchgeschmackes
und geschmackvoller Bücherliebhaberei. Unter den vielen damals
sich in Frankreich bildenden Büchersammlungen, die durch ihre Aus-
wahl sich bemühten, dem Buch seine Geltung unter dem Gerät
einer vornehmen Haushaltung zu wahren, die die Einbandpracht-
entfaltung liebten, um auch äußerlich diese Geltung zu zeigen, ist
gerade keine ihres Einbandprunkes wegen in späteren Zeiten be-
rühmter geworden als diejenige Groliers.
Aber man muß sich doch vergegenwärtigen, daß dieser berühmte
Bibliophilenname, der auch für die Bucheinbandkunstentwicklung,
für den Zusammenhang zwischen der französischen und der italie-
nischen Bucheinbandkunstgeschichte von erheblicher Wichtigkeit
wurde, daß dieser Name, in dem sich die Bibliophilietradition einen
95
FRANKREICH
Heros erschaffen hat, den Zeitgenossen keineswegs die Persönlichkeit
eines Buchfreundes sondergleichen, vielmehr den eines berühmten
Kunstfreundes verkörperte, der auch Bücher sammelte. In der Be-
schreibung, die Jacques Strada in seiner „Epitome du Thresor des
antiquitez'* [Lyon: 1553] von den Sammlungen des Schatzmeisters
gibt, stehen die Bücher an letzter Stelle: „J'ay este encores plus es*
merveille, et non sans cause, de Tindustrie de M. le Thresorier Jean
GroUier demourant ä Paris, homme noble et docte . . . pour ce qu'il
ha amasse un nombre presque infini de pieces d'or, d'argent et de
cuiure, petites et grandes, toutes entieres sans estre gastees, dignes
d'estre accomparees ä grans thresors. Ce qui lui ha donn6 un bruit
par-dessus les autres, avec le bonte et vivacite de son esprit orne de
doctrine, dont il s'est acquis ceste tant belle science. Dauantage
est ä louer, de ce (combien qu'il soit assez ayme et honore sans cela),
qu'il met toute diligence d'acquerir de tous costez toutes sortes
d'anciennes figures, tant de cuiure, que de marbre, y employant gens
expressement, pour en retirer de tous endroits, les plus singulieres:
des quelles il ha un nombre merveilleux, et principalement de me-
daillons qui valent une richesse infinie. II n'est seulement recom-
mandable pour icelies antiquitez, mais aussi fort louable, pour une
tres grande multitude de liures, tant grecs que latins.*'
Mag nun die Überlieferung auch dem Bibliophilen Grolier
manches zugedichtet haben, was keineswegs als seine Sinnes- und
Sonderart zu betrachten ist — wie denn auch der Besitzvermerk:
... et amicorum eine nicht ungewöhnliche Wendung unter huma-
nistischen Buchfreunden war — mag auch die Auswahl der Bibliothek
Croliers noch ganz dem Geschmacke entsprochen haben, der die
Antike zu einem Ausgangspunkte der Renaissanceideen werden ließ,
mag Grolier kein bahnbrechender Neuerer gewesen sein, der beispiel-
gebend für die Bücherwahl die Bibliophilie weiterleitete, in einem
ist er, gleichviel ob das schon in seinen Tagen hochgeschätzt worden
ist, für die Bücherliebhaberei vorbildlich geworden: in der Anerken-
nung des Druckwerkes durch dessen [nach heutigem Sprachgebrauch]
kunstgewerbliche Ausstattung. In der Übergangszeit der zweiten
Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts waren die Bibliophilen noch
96
16. JAHRHUNDERT
den Prachthandschriften treu geblieben, erst die Alduswerkstätte in
Venedig hatte die Formen einer Liebhaberausgabe modernen Stils,
die den gewöhnlichen Druck von den Vorzugsausgaben trennte,
aufgefunden. Der erste, oder doch einer der ersten bedeutenden
Büchersammler, der dieser neuen Bibliophiliedoktrin im großen
huldigte und der sie aus Italien nach Frankreich verpflanzte, war
Grolier. Der Buchkunstfreund und Einbandliebhaber hat in Grolier
einen Vorgänger gehabt, der mit Recht Jahrhunderte nach seinem
Tode als solcher entdeckt worden ist, unabhängig von den kaum
noch aufzuklärenden Beziehungen, die die Einbände der Grolier-
bibliothek mit den seinen Bestrebungen nachfolgenden Bibliophilen
Frankreichs verbanden.
Bei der Begründung der berühmten französischen Liebhaber-
büchereien wird schon im sechzehnten Jahrhundert deutlich, aller-
dings noch nicht als Sammeln von Büchern berühmter Abstammung,
daß sie miteinander insofern in einem sehr engen Zusammenhang
stehen, als die Auflösung einer solchen Sammlung fast immer den
anderen die in ihrer Geschichte bemerkenswertesten Bereicherungen
bringt. So wurzeln auch in diesem tatsächlichen Sinne fast alle be-
deutenden französischen Liebhaberbüchereien des sechzehnten und
siebzehnten Jahrhunderts in derjenigen Groliers. Jean Grolier de
Servin, Vicomte d'Aguisi wurde 1479 in Lyon geboren, lebte als
Schatzmeister des Königs von Frankreich Franz L 1510 — 1533 in
Mailand, ging 1534 als sein außerordentlicher Gesandter an den Hof
des Papstes Clemens VIL und wurde von dort 1537 als einer der vier
Staatsschatzmeister [1538] nach Paris berufen, wo er 1547 General-
schatzmeister von Frankreich wurde, ein Amt, das er auch unter den
Königen Heinrich IL, Franz IL und Karl IX. bis zu seinem Tode
[1565] bekleidete.* Der alternde Grolier hatte noch manche amt-
liche und geschäftliche Verdrießlichkeiten, zu deren Überwindung
ihm die Hilfe des Parlamentspräsidenten De Thou von großem
Nutzen war. Durch diesen, den Vater des Geschichtsschreibers und
Staatsmannes, J. A. de Thou, sind die Namen der beiden berühmte-
sten französischen Bücherfreunde des sechzehnten und siebzehnten
Jahrhunderts in eine persönliche Beziehung gebracht, wenn auch
BOOENO 7 *Abb. 52— 56 97
FRANKREICH
die schönen Bände, die Grolier dem Präsidenten de Thou geschenkt
hatte, nicht in die Bibliothek J. A. de Thous gelangt zu sein scheinen.
Das: et amicorum, mit dem Grolier die 3000 Bände seiner Bücherei
in den Dienst seiner Freunde stellen wollte, ist aber jedenfalls für ihn
keine leere Höflichkeit gewesen. Mag er es auch nicht wörtlich be-
folgt haben: mit Büchergeschenken ist er nicht sparsam gewesen,
denn er liebte es, eine Anzahl schön ausgestatteter Abzüge neu er-
scheinender Werke zu verteilen wie er die ihm selbst dargebrachten
Buchgaben der Verfasser und Verleger gut zu lohnen pflegte —
ein Zug in dem Bilde eines Bibliophilen-Mäzens, der modern war,
weil ihn erst das Druckwerk ermöglicht hatte. Nach Groliers Tode
wurde sein Nachlaß unter den Erben geteilt, wobei jedenfalls manche
Bücher verkauft worden sind. Aber der eigentliche Bestand seiner
Bücherei [3000 Bände] kam in den Besitz seines Schwiegersohnes,
des Garde des sceaux de France, Mery de Vic, Seigneur de Er-
m^nouville,* und ging nach dessen Tode [1622] in den seines Sohnes
Dominique, des Bischofs von Auch, über, der 1661 gestorben ist.
Die von diesem ansehnlich vermehrte, in einem Palaste der Rue
St. Martin aufgestellte Bibliothek wurde 1676 im Hotel de ville
von Lyon verkauft, und dieses Jahr bezeichnet den Zeitpunkt, in
dem Grolierbände in größerer Zahl Ware des Altbüchermarktes
wurden. Die bedeutendsten Bücherfreunde, die damals den Besitz
Groliers unter sich teilten, waren J. A. de Thou, Pierre Pithou,
Paul Petau, Ballesdens und der Kanzler P. Seguier. Auch der P.
Menestrier, damals bibliothecaire de Lyon, machte Einkäufe für die
ihm anvertraute Bibliothek der Stadt Lyon. Bonaventure d'Ar-
gonne hat die Versteigerung beschrieben: die Tatsache, daß er, ein
armer Mönch, einige schöne Bände erstehen konnte, zeigt, daß die
Preise kaum sehr hoch gewesen sein werden.
Damals gab es schon zwei Richtungen in der französischen
Bibliophiliemode, eine anerkannte, seriöse, die Gelehrsamkeit mit
Geschmack und Würde zu vereinen strebte, woraus das Ideal der
Repräsentationsbibliothek fast allzu rasch sich ausbildete und eine
neue, deren Anhänger, nach Etienne Dolets häufig angeführtem
Wahlspruche sammelten: Livres nouveaulx, livres vielz et antiques.
98 * Abb. 65
16. JAHRHUNDERT
Die Dichter und ihr Anhang in der vornehmen Welt mochten sich
nicht damit zufrieden geben, daß man bloß die alten Bücher ehre und
schätze. Mit den Pierre Ronsard und Philippe Desportes kommt
eine literarische, moderne Richtung in die französische Bibliophilie.
Hatte Arthur Gouffier, seigneur de Boisy, noch der Einbandlieb-
haberei im italienischen Stil gehuldigt, so kaufte sein Sohn Claude,
grand ecuyer de France, der spätere Duc de Rouannais, schon ohne
Strenge die Dinge, die ihm schlechthin Freude machten: Auto-
gramme und Porträts, schöne Druckwerke und Handschriften, die
Neuigkeiten des französischen, italienischen, spanischen Bücher-
marktes. Als Bibelot wurde das Buch salonfähig, die schönen
chasseresses des bouquins schlössen sich aus dem Bibliophilen-
reigen nicht aus. Damit waren die Beziehungen der Bücherliebhaberei
zum alten und neuen, zum guten und schönen Buch umschrieben
und vorbereitet. Das Buch in der Mode lockte den Buchfreund,
dem es Vergnügen machte, die Bücher seiner Gegenwart sich anzu-
schaffen und nach seinem Wohlgefallen auszustatten; den auch die
Kuriositäten, zumal die verbotenen Schriften, reizten: Bücher,
über die man sich zu unterhalten verstand. Die gewichtigen Bände,
die Kostbarkeiten und Seltenheiten, stellten sich in die immer mehr
bibliographisch beherrschte Ordnung der großen Sammlungen, die
der Stolz ihrer Besitzer und der Neid von deren Nebenbuhlern
wurden. Bescheidenere begnügten sich, die Ansammlungen ihrer
Bücher frei von dem Regelzwange alles Sammeins zu betrachten.
Das tat mit seinen viertausend Bänden der das Leben, wie es kam,
hinnehmende lustige Marschall Frangois Baron de Bassompierre
[1579—1676]. Und ein Weiser entdeckte, daß nur der ein besinn-
licher Bücherfreund werden könne, der den Abstand zwischen Buch
und Mensch überall richtig zu schätzen verstände.
Der Beobachter der Menschen und ihres Treibens, der Ver-
fasser der , Essais', Michel de Montaigne [1533—1592], in
welchem Werke er der Bibliosophie eines der anmutigsten und
geistvollsten Kapitel widmete, das mehr noch eine Psychologie des
Bibliophilen als der Bibliophilie scheint, worin sich der Abstand von
den Meditationen Petrarcas über denselben Gegenstand zeigt, hatte
7- 99
V^1GnPi\
FRANKREICH
nach seiner eigenen Versicherung ein Bändetausend auf seinem Land-
sitze, ,,eine der schönsten unter den Dorfbüchereien/' Einzelheiten
über den Bücherschatz des Philosophen sind nicht vorhanden, aber
eine [über ein Vierteltausend Titel nachweisende, von Pierre Villey
unternommene] Bibliotheksrekonstruktion läßt die Montaignesamm-
lung nach ihrem Gehalte immerhin schätzen. Die italienischen und
lateinischen Werke blieben weitaus in der Mehrzahl. Zwar kannte
Montaigne und verwahrte in seiner Bücherei auch schon Bände
einer sich eben erst entfaltenden französischen Nationalliteratur.
Aber die Dichtung und Geschichtschreibung in einer lebenden
Sprache, die den gebildeten Leser jener Tage doch noch vor allem
anderen entzückte, blieb das Italienische. Und das Lateinische war
das internationale Verständigungsmittel der Gelehrten, der ernsten
Werke wissenschaftlicher Art, von deren Fakultätsgravität aller-
dings Montaigne ohne Respekt sprach, wie denn auch die Fachge-
lehrsamkeit in seinen Büchereien meist fehlte. Dafür galt die
Humanistenkonfession auch diesem Menschenkenner und Weltmann
moderner Artung. Die Alten bevorzuge und bewundere er vor
den Neueren, schrieb er, der festen inneren Geschlossenheit ihrer
Anschauungen, ihrer schriftstellerischen Haltung wegen. Dieser
Anerkennung antiker Kultur fehlte jedoch nicht eine Einschränkung.
Ihm galten, anders als F.Rabelais, die Autoren der Griechen nicht*
viel, indessen er die Römer liebte. Hiervon mögen persönliche Gründe
die eigentliche Ursache gewesen sein, denn das Griechische hatte er
nie gut erlernt, während schon der Knabe ein fertiger Latinist war.
Demgemäß befanden sich in seiner Bücherei nur wenige Werke in
griechischer Sprache. Die bedeutenden französischen Büchersamm-
lungen des sechzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts sind besonders
in der noblesse de la rohe zahlreich gewesen, Familienbibliotheken,
die das Ansehen der Familie erhöhten und Fachsammlungen, die
deren Mitgliedern nützten, in sich vereinigend. Aber auch Liebhaber-
büchereien, weil die Anpassung an die Forderungen gesellschaftlich
guten Tones, die Anerkennung schöngeistiger Bestrebungen damals
in diesen Kreisen sehr verbreitet waren. Wozu noch kam, daß, wie
die Ämter gleichsam durch Erbgang in der Familie blieben, auch
100 * ^^^' 57» 58
17. JAHRHUNDERT
die Buchereien sich gewissermaßen als notwendige Unterstützung
einer solchen traditionell bestimmten amtlichen Stellung vererbten.
Unter diesen Beamten-Familienbibliotheken ist die berühmteste
die Bibliotheca Thuana gewesen, Gelehrten- und Liebhaberbücherei
auf einem ihrer Entwicklungshöhepunkte zeigend. Gilt die Biblio-
theca Grolierana als die glänzendste Liebhaberbücherei, die im sech-
zehnten Jahrhundert in Frankreich vorhanden war, läßt sich aus
gleichen Gründen gleicher Ruhm der 1573 begründeten, 1789 auf-
gelösten Bibliotheca Thuana für das siebzehnte Jahrhundert zu-
messen. Diese beiden meistgenannten französischen Privatbiblio-
theken ihrer Art sind beispielgebend für die Entwicklung des Ge-
schmackes in Bücherdingen in ihren Jahrhunderten, für die erste
Epoche der modernen französischen Bibliophilie; kennzeichnend für
die Ausbildung einer künstlerischen und wissenschaftlichen Bewer-
tung der Druckwerke durch die Buchfreunde. Die Anregungen, die
hier das Grolier- Vorbild gegeben hatte, blieben für die Auffassung
und Auswahl einer französischen Liebhaberbücherei richtunggebend,
d. h. für diejenigen Privatbibliotheken, die neben dem Gebrauchs-
nutzen ihrem Besitzer noch andere Vorteile bringen sollten, von dem
Stolz, den die Aufnahme eines erlesenen Bücherschatzes in den Haus-
ratprunk verlieh bis zu den feineren und feinsten Genüssen, die sich
aus solcher Buchpflege gewinnen ließen. Der Gegensatz zwischen der
Arbeits- und der Zierbücherei, gemildert durch Ausgleichsversuche,
die das dem Gelehrten nützliche und das dem Liebhaber angenehme
vereinen wollten, hervorgehoben durch die Bücherwahl, die schärfer
die Schrifttumsgebiete nach den Gattungen leichter und schwerer
Lektüre voneinander trennte, wird erst in der zweiten Hälfte des
siebzehnten Jahrhunderts merkbarer, als mit der Mode der Privat-
bibliotheken auch die Scheidung der lateinischen, wissenschaftlichen
von den französischen schönwissenschaftlichen Schriften begann.
Für die Grolier und De Thou-Bibliotheken ist er in ihrer Entstehungs-
zeit nicht gegeben gewesen und daraus erklärt sich die verschieden-
artige Einschätzung, die sie erfahren haben. Entdeckt sind sie als
Liebhaberbüchereien erst im neunzehnten Jahrhundert ; vorher
waren sie in hohem Ansehen, weil sie das Mäzenatentum vornehmer
101
FRANKREICH
Würdenträger im Musenreiche zeigten, weiterhin schätzte man sie
als die Äußerungen eines besonderen Bibliophilentemperamentes
ein und ehrte die ihnen entstammenden Bände deshalb folgerichtig
als Provenienzexemplare hohen Wertes. Auffassungen, die einander
insoweit ergänzen, als sie den Ergebnissen der Sammeltätigkeit
gelten, die die beiden Büchereien schuf: den sorgfältig behandelten
Abzügen, den sorgfältig gewählten Ausgaben, kurzum der be-
sonnenen Buchpflege.
Unter den letzten Valois, von Ludwig XII. an, und den ersten
Bourbons, unter Heinrich IV., Ludwig XIII., Ludwig XIV. ge-
hörten die De Thou zu den großen Familien des Parlamentsadels.
Der hervorragendste ihres Namens, Jacques-Auguste de Thou,
Baron de Meslay [1553— 1617],* als Geschichtsschreiber und Staats-
mann ausgezeichnet, ist der eigentliche Begründer der seinen Na-
men tragenden Büchersammlung gewesen. Von seinem [1582 ge-
storbenen] Vater Christophe de Thou, premier president au
Parlament de Paris, hatte sein jüngster Sohn auch das Erbe der
Bücherliebe überkommen. Schon Christophe de Thou, ein Freund
Groliers, den dieser mit fünf Bänden kostbarer Buchgeschenke einst
erfreut hatte, war ein eifriger Urkundensammler gewesen, in der
Absicht, eine Geschichte Frankreichs zu schreiben. Beides, das
Sammeln und das Schreiben, sollte aber erst Jacques-Auguste so
verwirklichen, wie es in der Absicht seines Vaters gelegen haben
mochte. Ursprünglich war er, gegen seinen Willen, dem geistlichen
Stande bestimmt worden und 1573, zwanzigjährig, in das von seinem
Onkel, Nicolas de Thou, dem Kanonikus der Kirche Nötre Dame
geleitete Nötre- Dame- Kloster eingetreten. Hier begann er seit
1574 an seiner Bücherei zu sammeln, die er auf Reisen in Frank-
reich, Italien und den Niederlanden vermehrte. Darüber heißt es
[in den ,Memoires']: ,,A Venise il s'occupa dans les boutiques des
libraires, et y trouva entre autre plusieurs livres fort rares en France,
dont il enrichit sa bibliotheque qu'il avoit deja commence6 . . .
A Lyon il acheta bien des livres de Jean de Tournes et de Guil-
laume Rouille . . . A Anvers il alla chez Christofle Plantin." Als
sein Onkel Bischof von Chartres wurde, verzichtete Jacques-
102 * Abb. 59
17. JAHRHUNDERT
Auguste auf die Kanonikatspfründe zugunsten seines Neffen.
Da aber die älteren Brüder Jacques Augustes frühzeitig starben,
entsagte dieser 1584 dem geistlichen Beruf und empfing von
Heinrich III. das Amt eines maitre des requetes. Im folgenden
Jahre verließ er mit seiner Bücherei das Nötre- Dame- Kloster, um
dem Wunsche seiner Mutter gehorchend in deren Pariser Haus in
der rue des Poitevins überzusiedeln, das sie ihm 1587 hinterließ.
Hier stand nun und wuchs, indessen die amtliche Laufbahn ihren
Besitzer immer höher führte, die Bibliotheca Thuana. Freilich nicht
glänzend aufgestellt in einer prachtvollen Zimmerflucht, sondern
recht und schlecht untergebracht in einigen anscheinend nicht einr
mal zusammenhängenden Räumen. Dafür war der Aufwand, mit
dem die Bände dieser Bibliothek gehegt wurden, ein ungewöhnlicher
und auch ihr innerer Wert wurde ebenso wie die Zahl ihrer Bücher
von den Zeitgenossen bewundert. ,, Belle et rare, plus dans la honte
des livres que dans la belle reliure" nannte sie 1644 Lef^vre'd'Ormes-
son, und im gleichen Jahre schrieb, ihren Bestand erheblich unter-
schätzend, der P. Jacob über sie: ,,Cette biblioth^que poss^de plus de
8000 volumes des plus rares et curieux, qui ont et6 recherchez
dans l'Europe avec une despense excessive, lesquels sont relies
en maroquin et veau dorez." Freilich, den Einbandprunk der Gro-
liersammlung konnte die Bibliotheca Thuana nicht entfalten, ihre
Einbände waren gut, ohne Liebhaberprachtbände zu sein.* Und
auch die Ausschmückungen der bibliographischen Legende, J. A.
de Thou habe sich die neuerscheinenden Werke auf Papier mit
seinem eigenen Wasserzeichen drucken lassen, übertreiben das
berechtigte Verlangen des Gelehrten, breitrandige Abzüge zu be-
kommen, um bequem auf ihnen seine Randschriften eintragen zu
können. Dafür hatte J. A. de Thou immer gesorgt und hierin
eine gewisse Verschwendung gezeigt, indem er die Großpapiere
bevorzugte. Er wollte Bücher auf gutem Papier haben, die Vor-
zugsausgabe als solche lockte ihn nicht. Nur zwei Pergamentdrucke
barg die Bibliotheca Thuana. Daß der Abstand der Zeiten, der
dergleichen Gewohnheiten verschiedenartig beurteilen läßt und das
als einen Aufwand betrachtet, was man früher nur für die beste Er-
* Abb. 6o, 6i 103
FBANKBEICH
füUung eines Buchnutzzweckes hielt, auch für die verschiedenartige
Einschätzung des Inhalts von Büchersammlungen gilt, ist für das
Urteil über die Bibliotheca Thuana ebenfalls nicht zu vergessen.
In ihren Jahren war sie eine mit den besten und neuesten Büchern
versehene gelehrte Sammlung, in der die [heute meist verachteten
und veralteten] lateinischen Schriften überwogen, obschon auch die
Bücher geringeren Grades, die Romane, die Kleinliteratur in den
Sammelbänden und sonstige, gut vertreten waren. Damals bedeu-
tete es schon etwas, die im Auslande veröffentlichten Bücher rasch
und vollständig für die Bibliothek zu gewinnen und weit weniger
Wert legte man auf die bibliographisch-historischen Raritäten, die
alten Drucke als solche. Besaß doch die Bibliotheca Thuana nur
wenige Wiegendrucke und unter ihren vielen Ausgaben griechischer
und römischer Klassiker nur vier Editiones principes.
Unterstützt war Jacques- Auguste de Thou bei der Ordnung
und Verwaltung seiner Bücherei vermutlich von Bibliothekaren-
Sekretären, deren Namen unbekannt sind, ein Zeichen, daß seine
eigene Persönlichkeit auch in seiner Privatbibliothek herrschte.
Am Ende seines Lebens standen ihm die beiden, ihm befreundeten
und verwandten, als seine Hausgenossen mit ihm lebenden Brüder
Pierre [1582-1651]* und Jacques [1586-1656] Dupuy hilfreich
zur Seite, die beide angesehen, der ältere Königlicher Staatsrat, der
jüngere Titularprior von Saint- Sauveur-les-Bray, waren und wohl-
haben . genug, um 20000 ecus auf ihre eigene Privatbibliothek ver-
wenden zu können. Auch nach ihres Begründers Tode blieb die
Bibliotheca Thuana unter ihrer Leitung, bis sie 1645 die Nach-
folger von Nicolas Rigault als Gardes der Biblioth^que du Roi
wurden.
Über seinen Bücherschatz, den er in mehr als vierzig Jahren
mit den größten Kosten und Mühen zusammengebracht habe, hatte
in seinem Testamente [vom 13. Juli 1616] J. A. de Thou verfügt,
daß er dessen Erhaltung als Ganzes wünsche, damit sie seiner Fa-
milie und den Wissenschaften nütze. Er verbiete, daß die Samm-
lung aufgeteilt, verkauft oder sonstwie auseinandergerissen werde.
Verbunden mit dem numismatischen Kabinett solle sie im Gemein-
104
♦ Abb. 63
17. JAHRHUNDERT
besitz derjenigen seiner Söhne verbleiben, die im Gelehrtenstande
wären, indessen ihre Benutzung allen anderen dazu befähigten eben-
falls verstattet werden müsse. Sein Freund Pierre Dupuy solle bis
zur Großjährigkeit der Söhne die Verwaltung haben. J. A. de Thou
hatte drei Söhne hinterlassen, die beiden kinderlos gebliebenen
Frangois-Auguste, der als Anhänger des Herzogs von Orleans am
12. September 1642 in Lyon mit dem Marquis des Cinq-Mars hin-
gerichtet wurde, Achille-Auguste, conseiller au parlament de Bre-
tagne, der 1635 starb und den dem Vater gleichnamigen Jacques-
Auguste de Thou [1609—1677],* der als Geistlicher in Rom lebte,
als ihn das Schicksal seines ältesten Bruders in die Heimat zurück-
führte. Zum Familienhaupt geworden trat er in das parlament de
Paris ein und sicherte sich [durch das Versprechen der Zahlung von
10000 livres an seine Schwester Louise de Pontac — 2. Mai 1643]
den alleinigen Besitz der Bibliotheca Thuana, die er, unterstützt
von den Brüdern Dupuy, auf das Doppelte vermehrte.
Die amtliche Laufbahn des vornehmen Mannes, dessen ersten
1646 geborenen Sohn Louis-Auguste die Königin Regentin und der
Kardinal Mazarin aus der Taufe hoben, war rasch, schon 1647 wurde
er President de la premiere chambre des enquetes; 1657 ernannte
ihn König Ludwig XIV. zum französischen Gesandten im Haag,
ein Amt, dessen Aufwände de Thous Vermögen nicht gewachsen
war. 1662 abberufen, seine Frau hatte inzwischen voreilig die Präsi-
dentenstelle verkauft, war de Thou gezwungen, von neuem <iis ein-
facher Rat in das Parlament einzutreten und nicht mehr imstande,
seine Schuldenlast zu tilgen: er mußte die Bibliotheca Thuana, das
Erbgut der Familie und der Wissenschaften 1669 zum Verkauf
stellen und, da sich sein Vermögenszusammenbruch nicht aufhalten
ließ, sie der Genossenschaft seiner Gläubigei; überlassen.
Die Verkaufsverhandlungen, die 1669 mit abgelehnten Ange-
boten an den König und an Colbert begonnen hatten,* blieben er-
gebnislos, die Bibliotheca Thuana wurde noch in diesem Jahre in
die Gesamtmasse der Schulden einbezogen. Dagegen wendete sich
1672 ein auf das Testament J. A. de Thous I. gestützter Einspruch
Louis-Augustes und der anderen Söhne J. A. de Thous IL, der eines
* Abb. 62, 64 105
FB ANKBEICH
Formfehlers dieses Testamentes wegen nichts nützte und 1675 ab-
gewiesen wurde. Die Bibliotheca Thuana, um deren Ordnung und
Vermehrung sich J. A. de Thou II. unter den obwaltenden Um-
ständen seit 1669 kaum noch gekümmert hatte, blieb den Gläubigern
überlassen. 1679 wurde der Palast in der rue des Poitevins verkauft,
wo die Bücherei aufgestellt war und hiermit begann auch ihre Auf-
lösung. Die Handschriftensammlung, bestehend aus den 1000 Ur-
kunden, die J. A. de Thou I. zusammengebracht hatte und den 837
Manuskriptbänden, die der überlebende der beiden Brüder Dupuy
1656 an J. A. de Thou II. vermacht hatte, erwarb für 4500 livres
der [1718 verstorbene] president k mortier Jean-Jacques
Charron, Marquis de Menars, der seinerseits die alten
Handschriften an seinen Schwager Colbert weiter verkaufte und
lediglich die neuen für sich zurück behielt. Aber auch die Druck-
werke kaufte der Marquis in ihrer Mehrzahl an. 1679 war das von
Quesnel bearbeitete Verzeichnis in den Druck gegeben worden, 1680
mit dem Buchhändler Jacques Villery und dessen Geschäftsge-
nossen vereinbart worden, daß die von ihnen übernommene Versteige-
rung drei Monate hindurch stattfinden solle. Wie es scheint, hat
aber bereits am Ende des ersten Versteigerungstages, des 5. April
1680, der Marquis de Menars, nachdem er, neben dem Bischof von
Avranches, Daniel Huet als der Hauptkäufer der ausgebotenen
Lote [nicht Einzelstücke] aufgetreten war, den ganzen Rest der
Sammlung einschließlich der Karten für 20061 livres erworben.
Damit war die Bibliotheca Menarsiana aus der Bibliotheca Thuana
entstanden, die nach Huets Urteil kaum ein Drittel jener Summe
erlöste, die J. A. de Thou auf die Einbände verwendet hatte. „Biblio-
theca Thuana nunc Menarsiana, — Menarso, qui suam hanc fecerit,
ne venditis sparsim voluminibus evanesceret, gratiam acto", dieses
in der Elegie Santeuls verkündete Lob tönte weiter und weiter, der
Präsident de Menars war durch seine entschlossene Freigebigkeit
zum hervorragendsten Bibliophilen in Paris geworden. Saint-Simon
sah die Sachlage etwas nüchterner an, er schrieb: „Maupeou fut presi-
dent ä mortier ä la place de Menars, frere de M°^®- Colbert, qui avait
fait sa fortune, mort en ce temps-ci en ce beau Heu de Menars-sur-
106
17. JAHRHUNDERT
Loire, prös de Blois. C'etoit une trfes belle figure d'homme, et un
fort bon homme aussi, peu capable, mais plein d'honneur, de pro-
bite, d'equit6 et modeste, prodige dans un president ä mortier.
Le Cardinal de Rohan acheta sa precieuse biblioth^que, qui etoit
Celle du celöbre M. de Thou, qui fut pour tous les deux un meuble
de fort grande montre, mais de tres peu d'usage." Ob der Marquis
de Menars vor 1680 eine nennenswerte Privatbibliothek besaß,
steht dahin; jedenfalls aber sammelte er seitdem, die Bibliotheca
Thuana vermehrend und mit Vorliebe ihre zerstreuten Bände
zurückholend, weiter. Um 1700 war er jedoch ihrer überdrüssig
geworden und suchte für sie einen neuen Freund, der sich in
dem Fürstbischof von Straßburg, Msgr. Armand-Gaston-Maxi-
milien de Soubise, dem späteren [seit 1712] Cardinal de
Rohan [1674-1749] fand, der sie [um 1705] [für 36600 livres?]
ankaufte. Die Bibliotheca Thuana-Menarsiana wanderte aus dem
Hotel de Guise weiter, erst in das Pariser Hotel Soubise [das heutige
Palais des archives], dann in das Hotel de Rohan [die heutige Im-
primerie Nationale]. Eine Anzahl Bände der Bibliotheca Thuana
hatte der Präsident de Menars sich ausdrücklich zurückbehalten.
Mit ihnen und einem Abzüge des Bibeldruckes von 1462 gründete
er die ansehnliche neue Liebhaberbücherei, die von seinen Erben
holländischen Buchhändlern verkauft und 1720 im Haag ve'rsteigert
worden ist. Die noch aus der Bibliotheca Thuana stammenden, von
Menars mit 2250 livres bezahlten Handschriften, die Msgr. de Soubise
nicht erworben hatte, verkauften 1720 die beiden Töchter und
Erbinnen des Marquis de Menars für 25000 livres dem procureur
general Joly de Fleury, der sie 1754 für 60000 livres an die
Biblioth&que du Roi abtrat. Damit kamen endgültig die alten
Manuskripte, die aus Colberts Sammlung 1732 hierher gelangt
waren, mit den neuen der Bibliotheca Thuana wieder an einem Ort
zusammen.
Der Kardinal de Rohan vermachte die Bibliotheca Thuana mit
seiner eigenen Büchersammlung seinem Neffen, dem Günstling der
Marquise de Pompadour, Charles de Rohan, Prince de Soubise,
marechal de France [1715—1777]. Nachdem dieser darauf verzichtet
107
FRANKREICH
hatte, auf dem Schlachtfelde Sieger zu sein, wollte er wenigstens als
der unbesiegliche französische Büchersammler gelten. Er verwendete
ungeheure Summen, sich eine einzigartige Bücherei zu schaffen; oft
kaufte er ganze Bibliotheken, um sie mit großen Verlusten wieder zu
veräußern, nachdem er seine Auswahl getroffen. Dabei entstand eine
Liebhaberbücherei, die der des Herzogs von La Valliere beinahe
ebenbürtig war. Sie wurde 1788 aufgelöst, ein großer Teil ging
in die Sammlung des Comte d'Artois über. Daß gerade Auguste
Leclerc die Auktion der ehemaligen Bibliotheca Thuana leitete, war
ein unglücklicher Zufall, denn dieser Pariser Buchhändler haßte
schöne Bücher und gewählte Ausgaben, für ihn hatten Bücher nur
ihres Inhaltes wegen Gebrauchswert, und darum vermied er jeden
Hinweis darauf, daß er eine der gewähltesten französischen Lieb-
haberbücherei zum Verkauf bringe, so bewußt oder unbewußt viele
dieser wertvollen Bände dem nahen Untergange preisgebend. Es
bedarf keines besseren Beweises für die buchhändlerische Kläglich-
keit dieses Mannes, als den, daß er allein die Londoner Ausgabe des
Hauptwerkes J. A. de Thous von 1733 mit dem Zusätze auszeichnete:
„et autres editions latines". Diese anderen Ausgaben der Thuani
Historia waren die Bände der Ausgaben von 1605, 1606, 1618 und
1620 mit den Besitzvermerken ihres Verfassers, die alle unter der
Nummer 6939 zusammengefaßt, mit 17 Franken bezahlt wurden.
Das war das Ende der Bibliotheca Thuana.
Der Buchfreund und Büchersammler war in der Hauptstadt
Ludwig XIV. und sogar an seinem Hofe eine nicht ungewöhn-
liche, vielmehr wohlbekannte Erscheinung. Dom Jacob zählte 1644
hundertzehn Namen von Pariser Büchersammlern oder doch biblio-
graphischen Kuriositätenliebhabern auf, eine Mazarinade nannte
1649 siebenundsiebzig mit Namen, an weiteren Zeugnissen in
Briefen nnd Tagebüchern fehlt es nicht, sogar das Adreßbuch
de Blegnys, das als Livre commode für 1693 zum ersten Male den
Gedanken eines gesellschaftlichen Tout Paris durch eine Liste be-
kannter Persönlichkeiten erläutern wollte, kannte hundertvierund-
dreißig ,fameux curieux* allein in der Hauptstadt. Der Begriff der
Bibliophilenbibliothek mit ihren ,livres choisis* erhielt nun einen
108
17. JAHRHUNDERT
bestimmteren Gegensatz zu den fach wissenschaftlichen, gelehrten
Büchersammlungen; das Buch fing an, in der Gesellschaft , guter
Ton' zu werden, Bücherluxus, Büchermode blieb nicht allein mehr
die reiche Repräsentationsbibliothek vornehmer Würdenträger. Das
alte, auch das neue Buch gewann als Einzelstück für die Sammler
Geltung, die sich bei den Büchertrödlern, auf der Bücherstraße des
Seine-Ufers trafen. Es war die Zeit, in die sich Gaspard de la nuit
zurückträumte, die in den Äußerungen eines eben erst entstehenden
Buchgeschmackes, der Eigentümlichkeiten einer ästhetisierenden
und historisierenden Bücherliebhaberei die Richtung auf die schönen
Wissenschaften zu nahm, in der Bibliophilie ein kommendes Bil-
dungsideal verkörpernd. Noch waren auf die Folianten und Quar-
tauten der antiken Klassiker die Büchersammlungen gegründet, die
Rang haben sollten, noch schlössen die Fakultätswissenschaften fest
die Materien einer Privatbibliothek von Ruf zusammen. Aber schon
begannen auch die Duodezbändchen, die die Werke der Klassiker
der Nationalliteratur enthielten, ihren Platz zu suchen, um ihn von
nun an immer weiter in den französischen Liebhaberbüchereien aus-
zudehnen.*
Die ,Curiosite* als eine feine Form gesellschaftlicher Lebens-
gewohnheiten, als eine elegante Mode, ist im Königreich Ludwigs XIV
zu einer Ausbildung des Sammlergeschmackes geworden. Kenner-
schaft gehörte zum feinen Benehmen. Man begnügte sich nicht mit
dem Besitz von Kostbarkeiten, Merkwürdigkeiten, Seltenheiten zu
eigenem Ergötzen. Man stellte sie auf und den Besuchern aus,
plauderte über ihre Werte, zeigte sie unter dem Hausrat, der
prunkt. Da konnte La Bruyere auch den leeren Bibliothekenluxus
nicht vergessen, wenn er, in dem Abschnitte seiner ,Caractöres',
der über die Mode handelt, auf die „Tannerie^' zu sprechen kam,
auf die Bibliotheksgalerie mit ihrem Maroquinparfüm, die sich in
das Endlose einer gemalten Bibliotheksperspektive verlor und die
ihr Besitzer nur betrat, um sie unter den Merkwürdigkeiten seines
Hauses zu zeigen. Der Abstand zwischen der Bestimmung einer
Bücherei und dem Büchersammler, der sich damit zufrieden gibt,
den Ruhm ihres Vorhandenseins auf sich beziehen zu dürfen, ist seit
* Abb. 70, 73, 74 109
FRANKREICH
Lucian nicht größer oder kleiner geworden. Aber ein Unterschied
besteht doch zwischen dem antiken Büchernarren und dem des
grand siede: dank der Einbandkunst konnte dieser ganz anders die
aufgestellten Bücher zur Geltung bringen als jener. Die breiten und
hohen Bücherwände, die die Prachtbandreihen zieren, sind die An-
griffsfläche seiner Eitelkeit. Der kostspielige Prachtband erscheint
fortan als das Sinnbild der Verwechslung äußerlicher und innerer
Buchwerte, als ein beliebtes Mittel, Bibliophilie- Eleganz und Bücher-
weisheit zu vergleichen. Aber sollten inmitten des Aufwandes ihrer
Lebensführung die glanzgewöhnten vornehmen Weltleute nicht auch
etwas von ihrem Reichtum ihren Büchern gönnen? Und sollten die
feinsinnigen Buchfreunde deshalb den Schmutz und Staub der
Bücher lieben, um nicht mit jenen Roturiers verwechselt zu werden,
die, weil sie sich nicht auf das Maß der Dinge verstanden, durch
Übertreibungen ihre Unkenntnis verrieten? La Bruyeres Spott traf
die Gerechten mit den Ungerechten, wenn er ihn selbst nicht gerade
auf die Ausnahme von einer guten Regel hätte beziehen wollen, deren
Befolgung die ersten Männer des Hofes nicht verschmähten, denen
der Herzog von Orleans [1608 — 1660] ein bewundertes Beispiel gab.
Von seiner Mutter hatte der dritte Sohn Heinrichs IV. die Liebe zu
den Büchern ererbt, der für die eleganten Pariser Bibliophilen in der
ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts tonangebend wurde.
Sein Bibliophilenporträt zeichnete Dom Jacob: ,,Monseigneur Jean
Baptiste Gaston de France, duc d'Orleans et de Chartres, fils d' Henry
le Grand, frere de Loüys le Juste, et oncle de Loüys XIV., lieutenant-
general du royaume de France et gouverneur du Languedoc, donne
de l'estonnement et de Tadmiration a toute l'Europe, pour la par-
faite cognoissance qu'il a des medalles anciennes: et ie puis dire de
ce prince sans flatterie, que ny Alexandre Seuere, empereur des
Romains, ny Atticus, grand amy de Ciceron, ny le tres docte Varron,
n'ont eus une cognoissance des dites medalles comme luy: et sa
curiosite ne se termine pas en icelies, mais encore dans la recherche
des bons liures, desquels il orne sa tres riche et splendide bibliotheque,
qu'il a dresse depuis peu dans son hostel du Luxembourg, au bout
de cette admirable gallerie, ou toute la vie de la feüe reine Marie
110
17. JAHRHUNDERT
de Medicis a este depeinte par Texcellent ouvrier Rubens. Or, cette
bibliotheque n'est pas seulement remarquable pour rornement de
ses tablettes, qui sont toutes couuertes de velours verd, avec les
bandes des mesme estoffe, garnies de passemens d'or, et les crespines
de mesme, pour toute la menuiserie qui se void, eile est embellie
d'or et de riches peintures. Mais outre cella les liures sont de toutes
les meilleurs editions qui sepeuuent trouuer; et quant ä leur relieure,
eile est toute d'vne mesme fa^on, avec les chiffres de son altesse
reale. Ce prince fait tous iours une grande recherche des meilleurs
liures qui se peuuent trouuer dans l'Europe; donnant des memoires
pour ce sujet, par la solicitation de M. Brünier, son medecin et
bibliothecaire, qui travaille continuellement a la perfection de ce
tresor des livres et des medalles." Auch in Blois, wohin er später sich
zurückzuziehen gezwungen wurde, vermehrte der Herzog diese Samm-
lungen, die er Ludwig XIV. hinterließ.
An der bescheidensten Stelle seiner Eloge des Herzogs von
Orleans gibt Dom Jacob auch dem Bibliothekar dieses Grand-
Seigneur seinen Platz. Der Bibliothekarposten in den großen
Privatbibliotheken des sechzehnten Jahrhunderts war ein von den
Gelehrten gern gesuchtes Amt gewesen. Es verschaffte ihnen eine
bequeme Benutzung der Bücher, die damals nur Auserwählten in
Ausnahmefällen von den wenigen halböffentlichen Sammlungen
zugestanden wurde, obschon die Benutzungsbestimmungen dieser
Sammlungen einen sehr viel weiter reichenden Zutritt zu gewähr-
leisten schienen. Dazu kam, daß die bibliothekarische Tätigkeit als
Vertrauensmann einer im öffentlichen oder wissenschaftlichen Leben
einflußreichen Persönlichkeit, die die Besitzer derartiger umfang-
reicher Büchereien meist waren, allerlei Anwartschaften auf die
Förderung der eigenen Laufbahn bot. Im siebzehnten Jahrhundert
traten die Privatbibliothekare immer mehr aus ihrer früheren
Anonymität heraus. Denn sie waren jetzt die eigentlichen Biblio-
thekenschöpfer, Bibliophilen, die im Auftrage und dank den Mitteln,
die ihnen zur Verfügung gestellt wurden, die großen Sammlungen
als ihr ureigenes Werk zusammenbrachten. Das gilt auch von den
Privatbibliotheken der hervorragendsten Minister des Sonnenkönigs.
111
FRANKREICH
Der Sammeleifer des Kardinals A. J. Du Plessis de Richelieu
[1585—1642] begnügte sich nicht mit dem, was der Pariser Bücher-
markt zur Bereicherung seiner Bibliothek darbot. Sein Sekretär,
Michel le Masle, Abbe des Roches, mußte auch die Pariser
Privatbibliotheken durchsehen, um durch Kauf oder Tausch, wenn
es nicht anders ging, auch durch Androhung von Zwangsmaßregeln,
die Bücherei des großen Staatsmannes zu vermehren. Daneben hatte
Richelieu zwei ständige Agenten für seine Bibliothek in Italien
[Jacques Gaffarel] und in Deutschland [Jean Tilleman Stella].
Auch politische Situationen nutzte er großzügig aus: die Bibliothek
von La Rochelle konfiszierte er nach Einnahme der Stadt, um sie
seiner Bücherei einzuverleiben, die von Louis XI IL den Erben des
Herrn de Bievres abgekauften 1000 orientalischen Handschriften
verwahrte Richelieu in seiner Privatsammlung, und manches andere
Beispiel ließe sich hier noch anführen. Allerdings entschuldigte bei
ihm der Zweck die Mittel, denn nur der Tod verhinderte ihn an der
Ausführung seines großen Planes, Frankreich mit der ersten großen
öffentlichen Bibliothek zu beschenken. Von ihm erbte sein Urneffe
L. F. Armand de Wignerot du Plessis, duc de Richelieu [1696—1788]
die Bibliothek, der sie nach seinem Tode, dem Wunsche des Be-
gründers gemäß, der Sorbonne vermachte, die allerdings einen Teil
der von Richelieu entliehenen Bücher der Bibliotheque du Roi
herausgeben mußte.
Der Italiener Kardinal Jules Mazarin [1602—1661]* ist der
geistige Nachkomme der altrömischen Sammler großen Stils, der
geistige Vorfahr der amerikanischen neuester Zeit gewesen. Einmal,
indem er den Bereich seiner Sammlungen über alles ausdehnte, was
kostbar und wertvoll schien, sodann, weil er in der Art, wie er seine
Schatzkammern füllte, sich ihnen ähnlich zeigte. Macht und Mittel
waren die Hebel seiner Sammlungen, aber kaufmännisch klug an-
gewandte Macht und Mittel. Trotz allen Aufwandes dachte er über
seinen Kunstbesitz sehr wirtschaftlich, nicht nur darin, daß er ein
Meister des billigen Kaufens war, daß ihm die diplomatische In-
trigue häufig einen hohen Preis ersparte. Vor allem deshalb, weil
er sich mit geschickter Vorsicht darauf beschränkte, der Leiter der
112 * Abb. 76
17. JAHRHUNDERT
MazarinkoUektion zu bleiben und die Einzelheiten den Sachverständi-
gen überließ, denen er seine Sammlungen anvertraut hatte. Der
Kardinal war Kenner aus Leidenschaft und Sammler aus Überlegung,
aber in seinem Wesen hatte immer der Geschäftsmann das letzte
Wort. Darüber berichten mancherlei die Mazarinaden, dafür ist
nichts so bezeichnend als der Abschied des Sterbenden von seinem Be-
sitz, den Brienne, sein Sekretär [Memoires, II, XIV] geschildert hat:
,,Je me promenois dans les appartements neufs de son palais. J'etois
dans la petite galerie ou Ton voyoit une tapisserie toute en laine qui
representoit Scipion . . . Le cardinal n'en avoit pas de plus belle.
Je l'entendis venir au bruit que faisoient ses pantoufles qu'il trainoit
comme un homme fort languissant et qui sort d'une grande maladie.
Je me cachai derriere la tapisserie, et je Tentendis qui disoit: „II
faut quitter tout cela!" . . . ,,Et encore cela! Que j'ai eu de peine
ä acquerir ces choses! Puis-je les abandonner sans regret? ... Je
ne les verrai plus oü je vais!*' Je fis un grand soupir que je ne pus
retenir, et il m'entendit. ,,Qui est la? dit-il, qui est la?" ,,C'est moi,
monseigneur ..." — ,,Approchez, approchez" me dit-il d'un ton fort
dolent ... et revenant ä sa pensee . . . „ah! mon pauvre ami, il faut
quitter tout cela! Adieu, chers tableaux, que j'ai tant aimes et qui
m'ont tant coüte . . ." Und die mir so teuer waren. — Die Auslegung
im doppelten Sinne, die Mazarin solchen Worten gab, könnten den
Sammlerruhm des großen Staatsmannes verkleinern. Aber hat er nicht
auch, indem er sich bereicherte, den Staat bereichert, dem er Bücher
und Kunstwerke höchsten Wertes erhielt, hat er nicht, auch damit ein
Kulturpolitiker, beispielgebend das Sammlerwesen zu beeinflussen sich
bemüht, hat er nicht in der Absicht seine Bücherei gefördert, Riche-
lieus Plan wieder aufnehmend, sie zu einer gemeinnützigen Anstalt
auszubauen? Mazarin besaß nacheinander zwei Büchersammlungen,
die auf Befehl des Parlaments 1652 verkaufte und eine neu begrün-
dete, die er 1661 dem College Mazarin hinterließ und die den Grund-
stock der heutigen Bibliotheque Mazarine bildet. Die bedeutendere
erste war ganz das Werk seines gelehrten Bibliothekars Naude ge-
wesen, des erfolgreichsten Bibliothekenorganisators dieser Zeit.
Gabriel Naude,* 1600 in Paris geboren, worauf er in den Titeln
BOOENG 8 * Abb. 67 113
FRANKREICH
seiner Schriften stets großen Wert legte, studierte in seiner Vater-
stadt Medizin, unterbrach jedoch, von seiner großen Bücherliebe
getrieben, kaum zwanzig Jahre alt, dies Studium, um eine Zeitlang
Bibliothekar des Präsidenten de Mesmes zu werden, und beendigte
es in Padua. In Rom wurde er Bibliothekar des Kardinals Bagni,
um dann in gleicher Eigenschaft dem Neffen des Papstes, dem Kardi-
nal Barberini zu dienen. Den kaum Zweiundzwanzigj ährigen rief
Kardinal Richelieu als seinen Bibliothekar nach Paris zurück. Da
Richelieu schon 1642 starb, betraute ihn Mazarin mit der Ausfüh-
rung des Planes, den Richelieu nicht hatte verwirklichen können:
mit der Begründung einer öffentlichen Bibliothek. Oder vielleicht
richtiger, ließ sich nach und nach von Naude für eine solche Absicht
gewinnen. Naude, der völlig freie Hand für die Verwendung der
reichen ihm zur Verfügung gestellten Mittel hatte, kaufte zunächst
als Grundstock die 6000 Bände umfassende Bücherei des 1642 ge-
storbenen Kanonikus Jean Des Cordes, die dieser von Simeon
Dubois erworben hatte. Er vermehrte sie in einem Jahre bis auf
12000 Bände und stellte sie, systematisch geordnet, in einem Saale
des Palais Mazarin auf, zu ihrer Benutzung die Gelehrten einladend.
Wenn auch diese Bücherzahl stattlich genug war, so konnte sie
doch nicht dem der Bibliotheque Mazarin gesetzten Ziele genügen.
Naude schloß deshalb kurzerhand den Büchersaal, um in ausgedehn-
ter Reise in ganz Europa Bücher aufzukaufen, wobei er den Inhalt
der Läden der Buchhändler vielfach im ganzen erwarb, indem er
einfach die Bücherständer mit der Elle abmaß. Da er sich aber wie
Mazarin selbst aufs Handeln verstand und, den Buchhändlern wenig
gewogen, ständig die Büchersammler warnte, ut caverent a calli-
ditate bibliopolarum, verschaffte ihm dies eigenartige Verfahren
einen großen Bücherstock zu einem wohlfeilen Preise. So konnte er
1647 in dem inzwischen erweiterten und verschönerten Palais Ma-
zarin eine Sammlung von 45000 Büchern geordnet aufstellen, für
deren Benutzung sein Reglement bestimmte: „Elle sera ouverte
pour tout le monde, sans excepter äme vivante, depuis les huict heures
du matin jusques a unze, et depuis deux jusques ä cinq heures du
soir; il y aura des chaires pour ceux qui ne voudront que lire, et des
114
17. JAHRHUNDERT
tables garnies de plumes, encre et papier pour ceux, qui voudront
escrire; et le bibliothequaire avec ses serviteurs seront obligez de
donner aux estudians tous les livres, qu'ils pourront demander,
en teile langue ou science que ce soit, et de les reprendre et remettre
ä leurs places quand ils en auront fait, en leur baillant les autres
dont ils auront besoint.** Als am 8. Januar 1649 das arret de pro-
soription gegen Mazarin erging und am 16. Februar das Parlament
die Konfiskation und den Verkauf aller Güter des Kardinals an-
ordnete, sah Naude seine wertvollste Lebensarbeit gefährdet. Zwei
Jahre konnte er die bibliotheque Mazarin, deren Bibliothekar er
geblieben war, noch als „Hypothek der Pariser Gelehrten auf Ma-
zarins Vermögen", wie eine Mazarinade es nannte, erhalten. Nach-
dem aber Mazarin Paris zum zweiten Male hatte verlassen müssen,
ordnete ein neuer Parlamentsbeschluß [vom 30. Dezember 1651
und 6. Januar 1652] ihren Verkauf an, von deren Erlös ,,[sera] par
preference pris la somme de 150000 livres, laquelle seroit donnee a
celui ou ceux qui representeroient ledit cardinal ä Justice, mort ou
vif, ou ä leurs heritiers.*' Weder Naudes Widerspruch noch eine
würdige Antwort, die Mazarin selbst gab [„II sera beau de voir dans
l'histoire que le cardinal Mazarin ayant pris tant de soins pendant
trente ans, pour enrichir des plus beaux et des plus rares livres du
monde une bibliotheque qu'il vouloit donner au public, le Parlament
de Paris ait ordonne, par un arrest, qu'elle seroit vendue, et que les
deniers qui en proviendroient seroient employes pour faire assassiner
ledit cardinal"], konnten das Mißgeschick verhindern. Trotz Naudes
furchtlosen formellen Protestes und J. A. de Thous II. besonnener
Warnung wurde die erste Bibliotheque Mazarin aufgelöst; zur großen
Freude der Pariser Bibliophilen, da der Verkauf ohne Rücksicht auf den
Wert der Bücher, ohne gedruckte Kataloge zu sehr billigen Preisen
stattfand, aber zum großen Schmerze ihres eigentlichen Begründers,
der sein geringes Vermögen darauf verwendete, die in ihr enthaltenen
3000 medizinischen Werke für sich zu erwerben. Naude ging nun
als Bibliothekar der Königin von Schweden nach Stockholm, von
wo ihn der wieder zur Macht gelangte Mazarin nach Paris zurück-
rief, um eine neue Bibliotheque Mazarin zu begründen. Er starb
8- 115
FR ANKBEICH
jedoch auf der Reise am 29. Juli 1653 in Abbeville, ohne den Kardi-
nal wieder zu sehen, der für seine neue Büchersammlung die 8000
Bände starke Bibliothek seines ersten und besten Bibliothekars zur
dauernden Erinnerung an dessen Dienste erwarb.
Jean Baptiste Colbert de Torcy [1619-1683],* der
Leiter der Politik Ludwigs XIV. in ihrer glänzendsten Periode,
ein Zentralisator sondergleichen, ist als Büchersammler selbst un-
ermüdlich gewesen, obschon er in seiner Jugend zu gelehrten Studien
keine Zeit gehabt hat und sogar das Lateinische erst ziemlich spät
beim abbe Gallois, dem Gründer des , Journal des Savants\ erlernte.
Zum Lesen freilich kam er nicht, das blieb eine Hoffnung des be-
schäftigten Bibliophilen. Dafür verstand er es, fast mehr noch als
Richelieu und Mazarin, die anderen iür sich mitsammeln zu lassen.
Die diplomatischen Agenten Frankreichs im Auslande, die fran-
zösischen geistlichen Kongregationen mußten durch Büchergeschenke
sich ein geneigtes Ohr verschaffen. Wer nicht Bücher zu schenken
hatte, schickte wenigstens wie die Konsuln in der Levante Maro-
quinfelle, die damals in Europa noch nicht hergestellt wurden. Der
Bibliothekar des Ministers, Etienne Baluze, verwaltete die Samm-
lung seines Patrons mit großem Geschick und hielt die Fäden der
Organisation, die ihm die in den verschiedenen Ländern erschienenen
neuen Bücher rasch verschaffte, straff in seinen Händen. Alte ver-
griffene Bücher zu kaufen, war damals umständlicher als heute, die
Bibliotheken großen Stils pflegten deshalb gern wertvolle Biblio-
theken als Ganzes in ihren Besitz zu bringen, um in zahlreichen
Dubletten genügende Tauschmittel zu gewinnen, wie sie auch die
fehlenden Bibliographien durch den Austausch ihrer Kataloge zu
ersetzen versuchten. So kaufte Colbert u. a. die Bibliothek des
gelehrten Andre Duchesne [1584—1640], später die Sammlungen
Chandelier [1674], Claude Hardy [1675], die Handschriften aus
dem Besitze Ballesdens' [1676]. Unter den Nachkommen des Mi-
nisters war der Erzbischof von Ronen, Jacques Nicolas Colbert
[1654—1707], der Colberts Privatbibliothek 1690 geerbt und be-
deutend vermehrt hatte, ebenfalls ein passionierter Bibliophile.
Aber schon dessen Erbe, C. L. Cte. de Seignelay löste fünfundvierzig
116 * Ahb. 72
17. JAHRHUNDERT
Jahre nach dem Tode ihres Begründers die Bibliotheca Colbertiana
auf. Die 15000 Bände Manuskripte, darunter die 8000 Ergebnisse
der von Colbert angeordneten historischen Untersuchungen [nun-
mehr Fonds der Bibliotheque nationale, die als Cinqcents (sc. vo-
lumes) und Cent soixante-douze bekannt sind], kaufte Ludwig XV.,
der 100000 ecus bezahlte, für die Bibliotheque du Roi, während die
50000 Bände Druckwerke 1728 versteigert wurden.
Als maitre de la Bibliotheque du Roi, in welchem Amte er seinem
Bruder folgte, als dieser 1666 Bischoff von LuQon wurde, reorganisierte
Colbert auch die große Königliche Büchersammlung. Unter [Karl IX.
und seinem Bruder] Heinrich III. war diese aus Fontainebleau, in
dessen Abgeschiedenheit die Stürme erregter Zeiten an ihr vorüber-
gegangen waren, nach Paris zurückgebracht worden. Hier blieb sie
in den Kämpfen der Liga nicht unversehrt; zumal auch die Auf-
sichtsstrenge versagte oder der erforderlichen Zwangsmittel ent-
behrte, so daß die nicht ausreichend bewachte Sammlung zur be-
quemen Beute heimlicher Plünderer werden konnte. Dazu
schmälerten sie die Umzüge. Als die Jesuiten aus Paris vertrieben
waren, hatte Heinrich IV. seine Bücher in deren College de Clermont
schaffen lassen, das schon 1604 dem wieder zurückgerufenen Orden
überlassen werden mußte. Casaubonus, dem der König nach J. A.
de Thous Tode die Oberaufsicht über seinen Bücherschatz verliehen
hatte, versuchte die 17000 Bände zunächst im Couvent des cor-
deliers unterzubringen. Die Mönche, in der Benutzung ihres Hauses
behindert, boten als Ersatz ein ihnen gehörendes Haus in der rue
de la Harpe an, in das die Bibliothek während der Regierungszeit
Ludwigs XII. [1601—1645] übersiedelte. Den Umzug leitete der
damalige grand maitre Jeröme Bignon, unterstützt von den Brüdern
Pierre und Jacques Dupuy. Die Beziehungen der Könige zu ihrer
Hauptbücherei waren damals nur noch lose. Einerseits waren die
Bourbonen weit weniger Bücherfreunde als die Valois, andererseits
hatten sie in ihren kleineren Privatbibliotheken in ihren Schlössern
und in der Bibliotheque du Cabinet du Louvre eine besondere Schau-
sammlung. Dazu kam, daß seit dem Anfange des siebzehnten Jahr-
hunderts eine straffere Verwaltung eingeführt, die bis dahin trotz
117
FRANKREICH
mancher Ordonnanzen nur mangelhaft durchgeführte Abgabe aller
im Königreiche gedruckten Bücher in einem Abzüge an die Biblio-
theque du Roi in Verbindung mit der Zensur strenger gehandhabt
wurde, so daß der amtliche Charakter der Bibliothek mehr hervor-
trat als der eines königlichen persönlichen Besitzes. Der sich jetzt
rasch ausdehnenden, selbständige Geltung gewinnenden Biblio-
th^que royale gab dann Colbert den für ihre Ausgestaltung erforder-
lichen Raum, indem er sie aus der rue de la Harpe in zwei seinem
Ministerhotel benachbarte Gebäude der rue Vivienne bringen ließ,
in denen ebenfalls die Akademie einen ihr angemessenen Platz fand.
Damit war auch äußerlich die Bibliotheque royale, die 1666 rund
35000 Bände enthielt, als ein Mittelpunkt des nationalen geistigen
Lebens gekennzeichnet, der sie fortan bleiben sollte.*
Die Bewegung der Büchersammlungen im Bücherumlaufe war
meistenteils im Paris des siebzehnten Jahrhunderts schon recht
schnell, ein Menschenleben überdauerten nicht allzu viele Privat-
bibliotheken. Der abbe de Sainte-Colombe Mathurin Mangot, der
sich 1658 das Leben nahm, gehörte zu den glücklichsten Sammlern
seiner Zeit. Über ihn vermerkte der P. Jacob: ,,L'abbe Mangot a
une grande cognoissance des bons livres qu'il a recherches pour
orner sa bibliotheque, qui a pour le present [1644] environ six mille
volumes bien choisis et des meilleures impressions." Und auch die
,Rymaille des Bibliotieres de Paris' stellte ihn an eine erste Stelle:
,, Mangot, Thou, l'Aisne et Gomin/Fournissent le Zoar-Rabin."
Trotzdem konnte 1677 MaroUes [in seiner ,Description rimee de
Paris'] verkünden: „La d'Estampes n'est plus en ses jours si nom-
breuse/ Et Ton ne parle plus de la Mangotte heureuse." Das bedeutete
indessen kein Abnehmen der Bücherliebhaberei, wohl aber eine
Änderung der Sammelrichtungen und Sammelverfahren, die auch
die äußere Gestaltung der Büchereien veränderte. Die bibliotheque-
galerie der Vornehmen, in der nun der Prachtwerkprunk des sieb-
zehnten Jahrhunderts mit den Bandreihen kostspieliger Kupfer-
stichwerke sich entfaltete, in der die Wappen der Würdenträger
auf den teueren Ziegeniederbänden funkelten, eine Augenweide des
Besitzers und seiner Besucher, trennte sich von der bescheideneren
118 * Abb. 113
17. JAHRHUNDERT
bibliotheque de travail des Gelehrten, die durch Ordnung und plan-
mäßige Anlage zu einer Auseinandersetzung mit der unübersehbar
werdenden Bücherzahl wurde, trennte sich von dem cabinet des
Amateur, der, in Buchdingen einen empfindlichen Geschmack ge-
winnend, Befreiung von der Bücherlast derart fand, daß er keine
große Sammlung, keine Vollständigkeit mehr sich wünschte, sondern
seinen Aufwand in der Auswahl suchte. Er ist jetzt der eigentliche
Kenner geworden, ihm gehörte recht eigentlich das Sammlerstück;
sei es, daß er die alten Ausgaben bibliographisch nach ihren Unter-
schieden wertete, sei es, daß er die neuen mit aller Sorgfalt sich aus-
zustatten verstand, wobei ihn die Buchbinder durch ihre Kunst-
fertigkeit unterstützten. Es war ja die Zeit einer vom Nationalstolz
anerkannten Literaturblüte. Und wenn man auch damals die „edition
originale" der „grands ecrivains** als solche nicht in die Büchereien auf-
nahm — dazu gehörte eine retrospektive Bibliographie — so kaufte
man doch die modernen französischen Werke, die etwas galten, ließ
es sich gefallen, daß die Corneille, Moliere, Racine schon bei Leb-
zeiten ihre „Oeuvres** den Privatbibliotheken erreichbar werden
ließen. Im achtzehnten Jahrhundert kam dann die elegante Buch-
mode der ,,livres ä figures*', eine Form der Liebhaberausgabe, die
die ganze Weltliteratur nach französischem Geschmack anspruch-
vollsten Buchfreunden darbot, die einen Höhepunkt des schönen
Buches erreichte, rasch emporsteigend und rasch verfallend, weil
die Vervielfachung der ,,editions de luxe'* das Buchbild zum Überdruß
werden ließ, eine Veräußerlichung der echten Buchwerte der Illu-
stration herbeiführte.
Das Beispiel der von einem französischen Bibliophilen und
Großwürdenträger des siebzehnten Jahrhunderts errichteten biblio-
theque-galerie ist die Bibliotheca Seguieriana. Der Kanzler Pierre
Seguier, comtedeGien, duc de Villemor [1588— 1672],* der achtund-
dreißig Jahre hindurch das wichtigste Ministerium des alten Frank-
reich verwaltet hat, der einer der gelehrtesten Juristen seiner Zeit war,
von umfassender allgemeiner Bildung, wie die zahlreichen ihm ge-
widmeten Werke beweisen, die ihn als Mäzenas feiern, der Richelieu
* Abb. 7 1
119
FRANKREICH
im Protektorate der Akademie folgte, mit diesem und Mazarin eng
befreundet war, fügte seinen historischen Ehrentiteln noch den
hinzu, die reichhaltigste Privatbibliothek gesammelt zu haben, die
man bis dahin in Frankreich kannte. Seit der Begründung der
Academie frangaise [1634] zu ihren Mitgliedern gehörend, wurde seine
Bücherei der Festsaal der Akademiker, soweit sie tätigen Anteil an
den Arbeiten der Akademie nahmen. Nach Richelieus Tode fanden
die Sitzungen der Akademie in Seguiers Palast statt. Für den Aus-
bau seiner Büchersammlung, die alles den Künsten und Wissen-
schaften Nützliche beherbergen sollte, wußte der Kanzler nicht allein
seine höfischen Beziehungen und seinen gelehrten Briefwechsel zu
nutzen; besondere Beauftragte von ihm bereisten auf der Bücher-
suche dauernd Europa. Sogar einen eigenen Levantedienst hatte er
organisiert, und die nach dem Morgenlande gehenden Kaufleute,
besonders häufig jüdische Händler aus Marseille, erfreuten sich
seines Schutzes und seiner Kommissionen; der P. Athanasius ver-
schaffte ihm griechische Handschriften aus dem Orient. Eine
Kontrolle aller für den Kanzler wichtigen bibliophilen Ereignisse
übte sein amtlicher Briefwechsel, besonders mit den intendants de
province. Das Ergebnis einer solchen einheitlichen, mit allen Hilfs-
mitteln jener Zeit — der Kanzler pflegte gern zu scherzen: Si Ton
veut me seduire, on n'a qu'ä m'offrir de livres — geförderten Sam-
melarbeit, die in einer allen Gelehrten geöffneten Bücherei nutzbar
gemacht wurde, entsprach dem Werte dieser Arbeit: 4000 Hand-
schriften, hauptsächlich orientalische und griechische, neben rund
20000 Druckwerken. Die Aufstellung der Bücherei im Palast der
Rue Bouloi, der Salon Seguier, wie er der Akademie vor ihrer Über-
siedlung in den Louvre diente und wie ihn die Königin Christina von
Schweden bei ihrem Besuche sah, entsprach dem Werte der herr-
lichen Sammlung. Die Büchergalerie, deren Dekorationen Dorigny
in einem Kupferwerke veröffentlicht hat, verband zwei prachtvolle
Gartenanlagen. Die Decken waren mit Mosaiken auf goldenem
Grunde nach Entwürfen von Vouet geschmückt. In ihrem Ober-
geschoß waren 12000 Bände aufgestellt, die übrigen befanden sich
in den anstoßenden Räumen; eine geräumige Halle enthielt das diplo-
120
17. JAHRHUNDERT
malische Archiv. Eine große Porzellansammlung war, nach der
1684 erschienenen Beschreibung, über den Bücherständern an den
Wänden verteilt und in kreuzförmig angeordneten Pyramiden auf
dem Fußboden aufgestellt, so daß der ganze Raum mit seinen von
Chinaporzellan umsäumten Bücherreihen den schönsten Anblick
bot. In einer Damen-Bibliothek, halb Bücherraum, halb Grotte,
wurden die Quartanten von einer Vasen-Palissade geschützt, die in
prächtige Türme auslief; die Oktavbände umkränzten Teetassen der
verschiedensten Art und die Foliantenreihen liefen in große Ge-
fäße aus Chinaporzellan aus, die aufeinandergetürmt ein Wunder-
werk der Porzellanarchitektur schienen. Nach des Kanzlers Tode
kam seine Bibliothek durch Erbgang in den Besitz seines Urenkels
Henri-Charles de Cambout, duc de Coislin [1664—1732], Fürst-
bischofs von Metz. Dieser war abbe de Saint-Germain-des-Pres und
ließ sie in diese Abtei bringen, der er sie vermacht hatte, als in einen
der bequemsten und sichersten Plätze der Republik der Wissen-
schaften. Eine Feuersbrunst vernichtete 1793 viele Druckwerke,
manches mag in der Revolutionszeit verloren gegangen sein, der
Handschriftenstamm aber ging mit den übrigen Druckwerken 1794
in den Besitz der Bibliotheque nationale in Paris über.
Ohne den Ehrgeiz einer reichen Schausammlung war Peiresc, von
dessen Bücherei man wissen wollte, daß sie die größte Pariser Privat-
bibliothek ihrer Tage gewesen sei, eine Annahme, die bei ihrer Auf-
lösung indessen nicht bestätigt worden ist. Dom Jacob weiß von
Peirescs Sammeleifer zu berichten, daß „aucun navire n'entrait dans un
port franQais sans amener pour son cabinet quelque rarete d'histoire
naturelle, des marbres antiques, des manuscrits coptes, arabes,
hebreux, chinois, grecs, des fragments trouves dans les fouilles de
l'Asie et duPeloponnese." Es war der Eifer eines Gelehrten, der über
große Mittel verfügte. Nicolas-Claude Fabri de Peiresc [1580
— 1637],* conseiller au Parlament de Provence, schon in früher
Jugend wegen seiner Gelehrsamkeit berühmt, dann auf einer großen
europäischen Reise persönliche Beziehungen mit den bekanntesten
seiner Zeitgenossen anknüpfend, Beziehungen, die er durch einen
ausgedehnten und weitreichenden Briefwechsel erhielt und er-
* Abb. 68, 69 121
FRANKREICH
weiterte, blieb mehr Anreger als Ausführer. Mitarbeiter an
wissenschaftlichen Werken der verschiedensten Art, hat er selbst,
ein Fanatiker der Wahrheit, kein Buch geschrieben, aber in seinen
Briefen den Kern zahlreicher Bücher, die andere schreiben sollten,
gesät. Und neben dieser internationalen Wirksamkeit ging die
nationale. Seine Amtspflichten ließen ihm noch Zeit, ein Archiv
und Museum zur Geschichte der Provence zu begründen, eine große
Handbücherei anzulegen. Seine Bibliothek entbehrte auch nicht
eines gewissen äußeren Prunkes, und für die Herstellung ihrer ein-
fachen, mit seinem Besitzvermerke gezierten, aber vornehmen Ein-
bände in rotem Ziegenleder unterhielt er ständig einen, zeitweise
mehrere Buchbinder in seinem Hause. Dazu kamen die von ihm
angestellten Schreiber in der Vaticana und im Escorial, seine Agen-
ten in den europäischen Ländern und im Orient — er hatte in Smyrna
einen von ihm besoldeten Angestellten zur Beschaffung von Büchern
— so daß sich wohl sagen läßt, daß diese von einem Gelehrten unter-
haltene Privatbibliothek allein in dem Aufwände für ihre biblio-
thekarische Verwaltung sehr erhebliche Ausgaben bedingte, die erst
die Ausgestaltung des buchhändlerischen Verkehrs zu vermindern
mochte; Summen, die bei den Vergleichen der Buchpreise der guten
alten Zeit meist vergessen zu werden pflegen, da sie in den Buch-
preisen selbst nicht enthalten sind. Peiresc war nicht nur ein eifriger
Büchersammler, sondern auch ein eifriger Bücherleser, der die
Ränder seiner Bücher mit handschriftlichen Bemerkungen füllte,
wie er auch die libri cum notis manuscriptis clarissimorum virorum
besonders suchte. Mit seltener Freigebigkeit hat er Bücher aus seiner
Sammlung verschenkt oder auf Nimmerwiedersehen verliehen, be-
sonders gern solche, die er durch neue Ankäufe rasch ersetzen konnte;
trotzdem hinterließ er eine noch recht stattliche Bücherei, die zehn
Jahre nach seinem Tode von den Erben nach Paris gebracht und dort
zum Verkaufe gestellt wurden, mit Ausnahme von 100 Bänden, die
er seinem Freunde Gassendi vermacht hatte.
Das Besorgen der Bücher, mehr der neuen noch als der alten,
war im siebzehnten Jahrhundert für die Gelehrten eine eigene und
zeitraubende Arbeit. Die Besichtigungen und Verzeichnisse anderer
122
17. JAHRHUNDERT
Bibliotheken mußten ebenso wie der Briefwechsel erst einmal fest-
stellen, welche wichtigen Veröffentlichungen anzuschaffen waren;
jeder Auftrag eines Bücherkaufes außerhalb des eigenen Wohnortes
wurde zu einem eigenen kleinen kostspieligen Unternehmen. Die
bibliographischen Details, die An- und Rückfragen, die sich so häufig
in den Gelehrtenbriefen dieses Jahrhunderts wiederfinden, bekunden,
wie aufhaltend dergleichen unvermeidliche Besorgungen waren,
zumal bei einiger notwendiger Sparsamkeit. Auch die bescheideneren
bibliotheques de travail hatten ihren Sammlern erhebliche Kosten
und Mühen verursacht. Da durfte man sich im glücklichen Besitze
wohl der Mühewaltung erfreuen und konnte ein Bibliosoph werden
gleich Guy Patin, der einmal einem Freunde schrieb: Mit meinen
Büchern und ein wenig Zeit fühle ich mich glücklicher als Mazarin
mit seinem Golde und seiner Unrast. Si panem et aquam habuero,
de felicitate cum ipso Jove certare paratus sum. Aber gesund muß
man sein und etwas Muße haben, damit es sich studieren läßt und
überlegen, wieviel Geduld Gott mit den Menschen hat und dem Wirr-
war der Welt von heutzutage zusehen zu können, der närrischer ist,
als er jemals war. Guy Patin [1602—1672],* Arzt wie seine biblio-
philen Freunde Naude und Camille Falconet — er war Professor
der Medizin am Pariser College Royal, dessen medizinische Biblio-
thek der Arzt Karls VII., Jacques de Pars, durch Vermächtnis seiner
Handschriftensammlung begründete — hatte gegen Ende des Jahres
1650 eine gewählte Büchersammlung von 10000 Bänden zusammen-
gebracht, als er, um sie in würdiger Weise aufzustellen, im De-
zember dieses Jahres ein geräumiges Haus an der place du Chevalier-
du-Guet erwarb. Wie er hier seinen Bücherschatz ,,quae est lumen
oculorum et laborum solatium" unterbrachte, hat er selbst in seinen
zahlreichen Briefen, in denen er fast ohne Unterlaß Nachrichten
über seine Bücher gibt, beschrieben. Sein ,,estude" war ein großer
hellerleuchteter luftiger Saal, der in Verbindung mit einem kleineren
Räume stand. In der großen Bücherei hatte Guy Patin, obwohl selbst
wenig fromm, eine Kreuzigung über dem Kamin angebracht, das
Geschenk eines von ihm glücklich operierten Malers ; rechts und links
davon hingen sein eigenes Bildnis und das seiner Frau, in den Ecken
* Abb. 79 123
FRANKBEICH
die Porträts von Erasmus und Scaliger. An einem sehr großen
Balken, der den Saal in seiner ganzen Breite teilte und die Decke
trug, waren 24 Gemälde befestigt. Eine Ausstattung, die von dem
Salon-Bibliotheque der französischen Büchersammler des zwanzig-
sten Jahrhunderts merklich unterschieden ist. In Patins Bibliothek
fanden sich neben einer großen Zahl medizinischer Werke auch
zahlreiche schönwissenschaftliche Bücher der klassischen und mo-
dernen Literaturen, mit neueren Schriften bedachte seine „biblio-
manie** [er gebraucht diesen Ausdruck in einem Briefe vom 1. Mai
1654] auch gerne die Freunde, weshalb er z. B. von d'Aubignes
Tragiques fünf Exemplare erwarb. Nur eine ,,passion malheureuse"
machten ihm manche seiner Zeitgenossen zum Vorwurfe: er sammelte
mit Eifer die „livres licencieux", ein Eifer, den sein Sohn Charles
[geboren 1633, gestorben als Professor der Medizin in Padua] an-
scheinend geerbt hat und der diesem, nach Bayles Bericht, ver-
hängnisvoll werden sollte, als er einen Auftrag Colberts, einige Li-
belle in Holland aufzukaufen und zu vernichten, so ausführte, daß
er eine Anzahl Exemplare nach Paris mitbrachte, weshalb er aus
seinem Vaterlande fliehen mußte.
Betrachteten die Gelehrten das Arbeitsmittel ihrer Büchereien,
damit es sich brauchbar erhielt, auf seine Ergänzung zur Vollständig-
keit in ihren Fächern hin — woraus dann die Entwicklung von Spezial-
bibliotheken sich ergab, die in ihrer Art, obschon den allgemein
angelegten Sammlungen sonst unterlegen, diese in einem Fache
wenigstens zu übertreffen vermochten — so lockte den nicht von einem
wissenschaftlichen Zwange geleiteten Amateur, der zu eigenem Er-
götzen und Nutzen sich der Bücherlust hingab, nicht mehr die
Quantität. Um so mehr suchte er die hohe Zahl, auf die er verzichten
mußte, durch die Qualität zu ersetzen. Nicht die Ansammlung einer
möglichst universalen Bibliothek, sondern die Auslese einer ge-
schmackssicheren Auswahl von Kabinettstücken war das Ziel.
Bibliophilentemperamente, die einen modernen Bibliophilentyp ent-
stehen ließen, zu dessen frühesten Vertretern Henri-Louis Habert
de Montmor [1600—1679],* maitre des requetes und Akademie-
mitgliedy gehörte, der die in seinen Besitz gelangte Bücherei des
124 * Abb. 75
17. JAHRHUNDERT
[übrigens nicht mit ihm verwandten] Pariser Kanonikus Isaac
Habert zum Grundstock einer Sammlung werden ließ, bei der er auf
Einband und Erscheinung eines jeden Bandes nicht geringen Wert
legte.
Das Bedürfnis einer besonnenen Buchpflege zeichnete auch
jenen Helie du Fresnoy [1614 — 1698]* aus, dessen Besitzer-
zeichen die Bücher, die einst ihm gehörten, zu einer Abstammung
anerkannten hohen Ranges macht. Man weiß freilich nicht allzu-
viel über sein Leben und seine Liebhaberbücherei. Weit weniger
als seine, auch von Madame de Sevigne beklatschte, schöne Gattin
ist er in der Gesellschaft von Paris hervorgetreten und die Bücher
werden ihm ebenso die Erholung von der amtlichen Arbeit — er
war ein erster Ministerialbeamter und Schatzmeister des Ordens
vom Heiligen Ludwig — gewesen sein wie ein Trost für kleinere Miß-
verständnisse in seiner Ehe, die ihm nicht erspart geblieben zu sein
scheinen. Jedenfalls aber ist auch er jenen Kennern einzureihen,
deren Bücherschrank im Gegensatz zu den mondänen Privatbiblio-
theken seine Türen nur einem allseitig erprobten Buche öffnete.
Jenen Kennern, die im siebzehnten Jahrhundert der französischen
Liebhaberausgabe des achtzehnten Jahrhunderts die Wege wiesen,
indem sie Bücher um sich zu haben wünschten, die in schlicht-
vornehmen, schönen Einbänden die Hand ihrer Leser zierten. Jener
Kenner, die einige Gelehrsamkeit und einige Koketterie miteinander
verbanden, wenn sie ihre nicht ausgedehnten, jedoch ausgesuchten
Bibliotheken sich einrichteten und die nicht so sehr Sammler im
strengen Wortsinne gewesen sind als einfach gebildete, geschmack-
volle Buchfreunde und Bücherleser. Du Fresnoy war ein in seinem
Berufe sehr beschäftigter und ein sehr vermögender Mann. Als er
sich um 1650 seine Bücherei aufstellte, die französischen und la-
teinischen Werke bevorzugend, ließ er ihnen rote Ziegeniederbände
geben, die sein Namenschiffre und sein Wappen trugen. Vielleicht
ist das nicht ohne Absicht geschehen, vielleicht wollte er damit eine
ungewisse Verwandtschaft zu der altangesehenen Familie de Fresnoy
betonen. Jedenfalls machte er nicht viel Aufhebens von seinen
Büchern, deren elegante Korrektheit ihm, seiner Lebensführung ent-
* Abb. 77 125
FRANKREICH
sprechend, zur Selbstverständlichkeit wurde. Darin hatte er eine
gewisse Ähnlichkeit mit dem Baron de Longepierre.
Einer bekannten Familie der Bourgogne entstammend, wurde
Hilaire-Bernard de Requeleyne [seit 1680] Baron de Longe-
pierre [1659—1721] im Jesuitenkolleg seiner Geburtsstadt Dijon,
wo sein Vater als Conseiller du Roi, Maltre ordinaire en la Chambre
des Comptes lebte, erzogen. Frühreif zeigte er eine besondere Vor-
liebe für die griechischen Klassiker, die er schon als Vierzehnjähriger
las, was ihm eine ehrenvolle Erwähnung in Baillets Abhandlung:
„Des enfants devenus cel6bres par leurs etudes ou par leurs ecrits^*
[Paris: 1688] verschafft hat. Wenig geneigt dem lauten Gesell-
schaftstreiben beendete das Wunderkind in Paris seine gelehrten
Studien, sich, ein Bücherwurm, in die Haut eines pedantischen,
doch auch gut unterrichteten, Poeten einspinnend. Denn sein Vater
hatte ihm als Gegenmittel gegen das Übermaß der gelehrten Kost
das Versemachen angewöhnt. So übertrug denn der junge Edelmann
die griechischen Erotiker in gereimte Prosa oder in prosaische Reime,
obschon er, wenn er sich am Hofe zeigte, damals selbst nichts von
der behenden Leichtigkeit seiner Favoritautoren hatte. Und bewies
das auch mit den zehn eigenen Idyllen, die den halben Band seiner
Bion-Moschus-Ubersetzung ausfüllen, ersten Versuchen, denen er bald
eine zweite Idyllenreihe folgen ließ, über sein von ihm sehr ernsthaft
aufgefaßtes Dilettantentum ist der Baron de Longepierre nicht hinaus-
gekommen; er hatte zwar die Feinfühligkeit, indessen nicht die Re-
produktionsfähigkeit eines Artisten, wie wir heute vielleicht sagen
würden, gleichwohl jedoch im hohen Maße den Ehrgeiz der Originali-
tät. Daß seine Gaben und ihre gelehrte Nutzung ausreichten. An-
sehen als bei esprit zu gewinnen, erweist sein naher Umgang mit
Racine, dem ihn wohl die gemeinsame Vorliebe für die Griechen
näher brachte, die sie im Streite der Alten und der Neuen die Partei
der Alten nehmen ließ, die Longepierre in seinem , Discours sur les
anciens' verteidigte. Auch die oft enthusiastisch geäußerte und ge-
druckte Bewunderung des Dichterlings wird dem Dichter nicht
gerade fatal gewesen sein. Von dem guten Abbe Baillet aufgefordert,
für dessen ,,Jugemens des Scavans" Corneille und Racine zu ver-
126
17. JAHRHUNDEBT
gleichen, schrieb der eifrige Besucher des Theatre frangois für den
neunten Band dieser kritischen Zeitschrift [Paris: 1686] die Ab-
handlung, der die Anhänger Corneilles mit dem Einwände begegneten,
der Silbenstecher anakreontischer Liedlein ermangele allzu sehr des
poetischen Gefühls, um Poesie beurteilen zu können. Eine längst
vergessene Polemik, an die wieder zu erinnern trotzdem nicht über-
flüssig war, weil sie erkennen läßt, daß der bibliophile lettre auch
in den Kreisen der hervorragenden Pariser Schriftsteller eine be-
achtete und bekannte Erscheinung gewesen ist, und durch solche
Beziehungen ausgezeichnet vielleicht der einzige gegenwärtig noch
berühmte Buchfreund und Büchersammler dieser Glanzzeit fran-
zösischen Schrifttums. Zwei Jahre später [Paris: 1688] ließ Longe-
pierre seine Übertragung von fünfzehn Idyllen des Theokrit als en
regard - Ausgabe erscheinen, damit andeutend, daß er auf diese
seinem Lieblingsdichter gewidmete Arbeit, deren Schwierigkeiten
geziert die Vorrede hervorhebt, besonderen Wert lege. Wie es scheint,
machte Longepierre sich einige Hoffnungen darauf, durch seine lite-
rarischen Schäferspiele in die Akademie zu kommen. Keineswegs
allzu eingebildete Hoffnungen, da er in ihr einflußreiche Freunde
hatte. Aber er ist damals und auch später nicht in sie berufen
worden. Dafür wurde er 1687 zum Prinzenerzieher gewählt, wozu
ihn Gelehrsamkeit, Lebenswandel und Stand sehr befähigten. Er
wurde dem Gouverneur des Grafen von Toulouse beigeordnet, in
eine Hofmannsstellung gebracht, mußte nun immer seinem Schüler
zur Seite stehen und blieb damit auch bei Hoffesten, auf Reisen, ja
sogar während der Feldzüge in der nahen Umgebung des Sonnen-
königs. Eine Intrigue ließ ihn sein Amt verlieren. ,Ce Longepierre
homme de peu et bei esprit de profession* [schrieb der ihm miß-
wollende Duc de Saint Simon] hatte gegen den Wunsch des Königs
die Heiratsabsichten des Grafen unterstützt. Er trat jetzt in den
Dienst des Hauses Orleans, versuchte sich ohne Erfolg als Bühnen-
dichter, wurde 1718 vom Regenten zum gentilhomme ordinaire
und secretaire des commandements ernannt und blieb bis zu seinem
Tode ein ergebener und geschickter Beistand der Familie Orleans.
Die Beschäftigungen des Hofmannes ließen den Gelehrten nicht allzu
127
FRANKREICH
viele ruhige Muße, sich seinen Büchern zu widmen. Ohne Sammler
schlechthin zu sein, denn er erwarb meist gut ausgestattete neue
Bücher, ließ er sie sorgfältig einbinden und mit seinem Bandzeichen,
demToison d'or, verzieren.* Seit dem Anfange des achtzehnten Jahr-
hunderts verheiratet, im Faubourg Saint- Honore wohnend, hatte er
hier [1703] seine Bibliothek aufgestellt, deren Bild Baron Roger
Portalis nach den Heiratsurkunden über die Vermögensauseinander-
setzung zwischen den Ehegatten wiederherzustellen versuchte. Man
trat aus einem Vorzimmer, das sechs Gobelins und zwölf gestickte
Sessel, eine kunstfertige Standuhr und bronzierte Gipsbüsten sowie
Porzellanvasen für die Blumen schmückten, in das grand cabinet des
eleganten Mannes im roten Damastanzuge mit den feinen Spitzen-
verbrämungen, den sein Porträt zeigt. Auch in diesem Räume
waren vier Gobelins an den Wänden angebracht, dazu Bildnisse
und Gemälde. Hier stand der Ebenholzschreibtisch mit Bronze-
beschlägen. Auf den zwölf ,,tablettes garnies de drap vert ä cloux
d'or", „avec des rideaux d'etoffe de la meme couleur" befanden sich
die zwölfhundert Bücher, deren Wert man auf sieben bis achttausend
livres schätzte. Sessel mit Stickereibezügen, hohe Spiegel, hollän-
dische Porzellane vervollständigten das Ameublement. Der Maler
seines Bildnisses, Fr. de Troy, hatte ihn ausdrücklich vor die Bücher-
wand gestellt und ihm ein Buch in die Hand gegeben. Das war eher
eine Huldigung für den Dichter und Gelehrten als für den Sammler.
Immerhin, sie konnte auch auf dessen Stolz deuten, eine erlesene
Liebhaberbücherei sein eigen zu nennen. Longepierre vermachte
seine Bücher dem Erzbischof von Paris, Kardinal Louis- Antoine de
Noailles [1651—1729], dem und dessen Familie er freundschaftlich
verbunden war. Dessen Bibliothek erbte der Marschall Adrien-
Maurice de Noailles [1678—1766]. So in die Noailles-Sammlungen
gekommen und mit diesen vermischt, sind auch die Longepierrebände
zerstreut worden, ohne daß sich ein Katalog der Longepierre-Biblio-
thek erhalten hätte. Ihr genauer Inhalt ist, da kein Verzeichnis
vorhanden ist, unbekannt. Doch läßt sich sagen, daß Longepierre
die antiken Klassiker in den guten und schönen Ausgaben besaß,
die damals eben in Frankreich und Holland erschienen; dazu die
128 * ^^ 78
18. JAHRHUNDERT
Werke der ihm genehmen französischen Dichter seiner Zeit, die
meist zu seinen Freunden oder Bekannten gehört haben und schließ-
lich auch noch mancherlei Tagesliteratur über die religiösen Kontro-
versen. Ebenso fehlten ihm die Klassiker der Theologie nicht. Da-
gegen scheint er das Kupferstichpracht werk nicht geschätzt zn haben.
Die alten Druckwerke als solche, die Erzeugnisse des Wiegen-
druckzeitalters, begann man erst im achtzehnten Jahrhundert zu
beachten und zu sammeln. Dem kam die Bibliographie der Inku-
nabeln zu Hilfe, deren grundlegendes Werk die 1719—1741 ver-
öffentlichten fünf Bände der , Annales Typographici* Michael
Maittaires* wurden, um das sich die Ergänzungen und Verbesse-
rungen der verschiedensten Verfasser stellten, bis endlich G. W.
Panzers , Annales Typographici*, die 1793 — 1803 zu Nürnberg in
elf Bänden erschienen waren, die Arbeiten des achtzehnten Jahr-
hunderts auf diesem Gebiete beschlossen, die mehr oder minder noch
unvollkommene Versuche geblieben sind. Der Ausgangspunkt einer
wissenschaftlichen Inkunabelnforschung wurde erst Ludwig Hains
jRepertorium Typographicum', dessen vier, in Stuttgart 1826 —
1838 herausgekommenen, Bände der Forschung neue Wege und
Ziele wiesen. War allgemein an die Stelle der Editio princeps die
Inkunabel getreten und in ihrem Gefolge überhaupt das alte und
seltene Buch, so verbanden sich damit dennoch keine richtigen
Schätzungen von dessen vollen bibliographischen und buchgeschicht-
lichen Werten. Sogar die schon sehr viel besser unterrichteten
englischen Sammler am Anfange des neunzehnten Jahrhunderts,
die ihren Inkunabelnsport sich Geld, Mühen und Zeit genug kosten
ließen, entfernten noch die alten, gut erhaltenen Einbände, um sie
durch moderne, aber prunkvolle Bibliothekbände ersetzen zu lassen.
Das war im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts, in dem der
Wappenband zum guten Ton vornehmer Privatbibliotheken ge-
hörte, ganz und gar üblich. Einer der ersten französischen Biblio-
philen, der methodisch die Monumenta typographica sammelte,
ist der Bischof von Toulouse, später von Sens, Kardinal Etienne-
Charles Lomenie de Brienne [gestorben 1794] gewesen, der sich
allerdings schon bei Lebzeiten von seiner Sammlung trennen mufite.
BOOENO 9 * Abb. 284 129
FRANKREICH
Am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts gehörten im gesell-
schaftlichen Leben von Paris die großen Sammler, die Crozat und
Gaigni^res, zu den in der feinen Mode tonangebenden Vertretern des
Wehst a dt luxus. Die Comtesse de Verrue kam nach Kosmopolis,
um jährlich 100000 livres für ihr Kabinett auszugeben, der Regent
selbst stellte sich mit seiner Galerie im Palais Royal an die Spitze
der Kunstwerkliebhaber. Auch das Buch, soweit es ein Gegenstand
der Prachtentfaltung werden kann, änderte sein Aussehen: die ge-
waltigen Kupferstichwerke, die unter Ludwig XIV. und Ludwig XV.
bändereichen Foliantenprunk den Hofberichten dienstbar machten,
verzierlichen sich, es entstand jene Vignettenleichtigkeit und Leicht-
fertigkeit, die bald zur kurzen Blüte des Pariser Rokokobuches sich
entfaltete. Die Buchgönner wurden zahlreich, sogar der Herzog
von Orleans verschmähte es nicht, mit den Buchkünstlern in Wett-
bewerb zu treten. Aber auch die Vorboten einer neuen Welt-
anschauung wurden zahlreicher, die Vorläufer einer geistigen Be-
wegung, die das Jahrhundert in politischen Wirren ausgehen lassen
sollte. Zmnächst waren es jedoch die ökonomischen Störungen, die
Sammler und Sammlungen von Grund aus veränderten, weil die
raschen Vermögensveränderungen einer schweren Wirtschaftskrise
die Beruhigung eines ,erwirb es um es zu besitzen' vereitelten. Samm-
lungen bildeten sich ebenso rasch wie sie sich auflösten; die Ver-
steigerungen vervielfachten sich, das Sammeln wurde zum Speku-
lieren. Der amateur-marchand und der brocanteur bereicherten
nicht allein das Wörterbuch mit den Namen der neu kennzeichnend
für den Kunstmarkt werdenden Erscheinungen; Handel und Lieb-
haberei verwuchsen in einem Geschäftszweige, der für die Bewohner
Europas seinen Mittelpunkt in Paris hatte. Das französische Buch
gelangte in dem Maße zur Vorherrschaft, in dem auch französische
Sitten und französische Sprache den Vorrang gewannen, in dem der
Export französischer Ideen zunahm. Auf Frankreich oder vielmehr
auf Paris, wohin sich auch die französische Provinz mit ihrem Ge-
danken- und Geldreichtum zurückzog, übte die äußere Gestaltung
der Börse für alle der Lebensgenußverfeinerung erwachsenden Lieb-
habereien einen Einfluß, der tiefer und weiter reichte als bis zu den
130
18. JAHRHUNDERT
Einrichtungen einer Großstadt, den An- und Verkauf von Lieb-
haberwerten zu vermitteln. Der Sammlersinn veränderte sich, man
wünschte sich das elegante, das flüchtige, das reizende, das den
Augenblick erhöhende und fesselnde, das, im ursprünglichen Wort-
sinne, galante. Man wünschte den Kostspieligkeiten nicht noch den
Stolz auf hohe Werte zuzumessen. Und während die Fremden
Bildhauerarbeiten und Gemälde nach Hause trugen, vergnügte man
sich mit dem bric-ä-brac, brachte dem Porzellan die gleiche Ver-
ehrung entgegen, wie die Holländer sie für die Tulpen hatten. In
diesem Capricenwirrwar hatten die nicht allzu vielen Kunstver-
ständigen, die der Tageslaune nicht Untertan wurden. Mühe, sich
ihren sicheren Geschmack zu wahren. Daß dabei nicht wenige
Bibliophilen sich selbst treu blieben, daß die Bibliothekenmode trotz
alledem wenigstens einen eigenen Stil behauptete und bisweilen
mustergültig weiterbildete, ist unter diesen Umständen für die
Einschätzung der Bibliophilie als Kulturelement und Kulturträger
nicht unwesentlich.
Wer im achtzehnten Jahrhundert in Paris eine Büchersammlung
von Rang gründen wollte, mußte reich sein. Es genügten nicht mehr
Begeisterung, Bildung und Geschmack. Die Buchbinderrechnungen
und die Bücherpreise waren gestiegen, die alten Bücher ihrem Werte
nach mehr gekannt und geschätzt, die neuen wurden in kostspieligen,
sich an die Liebhaber wendenden Vorzugsausgaben veröffentlicht.
Dazu kam, daß eine derartige Sammlung nicht allein die anerkannten
bibliographischen Merkwürdigkeiten beherbergen, ein Museum lite-
rarischer Altertümer sein mußte. Sie bedurfte zu ihrer Abrundung
auch noch einer nicht geringen Bücherzahl, die allein schon die
Ausgabenreihen der Klassiker, die man vollständig haben sollte, in
die Höhe trieben. Um den Grundstock und dessen Vermehrungen
zu schaffen, gehörte, wofern man nicht ein langes Leben darüber
verlieren wollte, das Bücherkaufen in Masse. Um ganze Büchereien
zu erwerben und sie nach getroffener Auswahl zu veräussern, wenn
auch mit starken Verlusten, um in den Versteigerungen die vielen
Wettbewerber überbieten zu können, gehörte vor allem Geld. Das
brachten auch die vornehmen Fremden nach Paris und sie wurden
9- 131
FRANKREICH
ebenfalls zu den in Frankreich nach französischer Weise sammeln-
den Buchfreunden. Mancher von ihnen hatte seinen dauernden
Wohnsitz in der französischen Hauptstadt oder war seiner amtlichen
Stellung wegen in Paris seßhaft. Das gilt auch für jenen deutschen
Sammler, der eigentlich der erste der drei großen sächsischen Bücher-
sammler des achtzehnten Jahrhunderts ist. Da aber Karl Hein-
rich [seit 1711] Graf von Hoym [1694—1736]* seine Bücherei in
Paris und nach Pariser Vorbildern schuf, da sie in Paris aufgestellt
blieb und in Paris versteigert worden ist, dürfen ihn wohl eher die
Annalen der französischen Bibliophilie den ihren nennen als die deut-
schen. Von 1714 bis 1717 hatte Graf Hoym schon in Paris gelebt,
als er 1720 zum sächsischen Gesandten am französischen Hofe er-
nannt wurde, um 1729 gegen seinen Wunsch nach Dresden zurück-
berufen zu werden. Dem Grafen Brühl verfeindet, vermochte er
es nicht, sich gegen dessen Kabalen zu behaupten. Ein Kampf, der
seine letzten Lebensjahre ausfüllte und an dessen für ihn schlimme
Wendung er durch eigene Verfehlungen nicht schuldlos gewesen sein
mochte. Gefangenschaft auf dem Sonnenstein wechselte mit einer
nur kurzen Rehabilitation, am 21. April 1736 endete der einund-
vierzigj ährige durch Selbstmord. Mit einem Aufwände von etwa
100000 livres und in etwa zehn Jahren hatte Graf Hoym die Samm-
lung geschaffen, die in seiner Pariser Wohnung in der rue Cassette
schon zwei Räume füllte; die ihn, nachdem er Paris hatte verlassen
müssen, dort verpackt erwartete und die er durch neue Ankäufe,
für die er Aufträge aus Deutschland gab, ständig vermehrte, in der
Hoffnung, sie bald in Paris wiederzusehen. Er kam nicht mehr dazu.
Und ebensowenig konnte Graf Hoym den kurz vor seinem Tode ge-
faßten Plan, die Sammlung nach Deutschland bringen zu lassen, ver-
wirklichen. Sie ist vom 12. Mai bis 2. August 1738 in Paris ver-
steigert worden. Der Erlös der 59 Auktionstage betrug nur 85000
livres, etwa 30000 livres weniger, als die Sammlung dem Grafen
Hoym selbst gekostet hatte. Damals erfreute sich die Hoym-
Provenienz noch nicht der hohen Wertschätzung, die sie, der schönen
und sorgsamen Einbände, der erlesenen Exemplare wegen, sich seit
dem neunzehnten Jahrhundert erworben hat. Wozu noch kam,
132 *Ahb. 189, 190
18. JAHRHUNDERT
daß die Bibliothek Hoym letzten Endes doch nur eine noch ent-
stehende Privatbibliothek großen Stils gewesen ist, noch nicht die-
jenige Abrundung und Ausgeglichenheit erreicht hatte, die bereits
andere berühmte Büchereien in Paris auszeichneten. Unter den
Erwerbungen, die Graf Hoym in seiner glücklichen Pariser Zeit
machen konnte, waren besonders wertvoll seine Ankäufe auf den
Auktionen der Bibliotheca Fayana [1725] und der Bibliotheca Col-
bertiana [1728] gewesen. Charles Jeröme Cisternay du Fay
[1662—1723], Kapitän in der Garde des Königs, sammelte seltene
Bücher jeder Art, er war der erste französische Bibliophile, der eine
Kollektion der alten Ritterromane zusammenbrachte. Daß ihm
seine Auslese mit Geschmack und Glück gelungen war, bewiesen die
hohen Preise, die auf seiner Versteigerung gezahlt wurden.
Der Anfang der berühmtesten französischen Liebhaberbücherei des
achtzehnten Jahrhunderts verknüpfte sich mit dem Ende der Hoym-
schen auf deren Auktion. Wenn Bücherkaufen und Büchersammeln
gleichbedeutend wären, dann dürfte Louis-Cesar de la Baume-
le-Blanc, Duc de la Valliere [1708— 1780],* den sein freilich sehr
grämlicher Bibliothekar, der Abbe Rive, für einen Dummkopf erklärte,
der weder Gelehrsamkeit noch Geschmack habe, der ausgezeichnetste
Büchersammler des achtzehnten Jahrhunderts heißen. Ob dieser
Grandseigneur ein Bibliophile war, den der Ehrgeiz, führend in einer
Mode zu glänzen, trieb, die Laune einer Sammellust, die sich ein großer
Herr wie andere Launen befriedigen durfte oder aber ein Buchfreund,
den herzliche Teilnahme für seine Bücher mit ihnen verband, das
alles sind Fragen, deren Beantwortung die Geschichte seiner Biblio-
thek gibt. Aber die Großzügigkeit und Hartnäckigkeit, mit der er
seinem Ziele zustrebte, die bedeutendste französische Privatbiblio-
thek sich zu verschaffen, die Art seines Sammeins, die große Mittel
verschwendete, weil sie Zeit sparen wollte, machen ihn zum ersten
Beispiel jener Büchersammler, die späterhin ihre hauptsächlichen
Vertreter in den Vereinigten Staaten von Amerika finden sollte.
Aufkaufen und Ausscheiden, die Bibliothek in den Mittelpunkt
finanzieller Transaktionen stellen, darin bestand das neue Samm-
lungsverfahren, das ihm seine Erfolge finden ließ. Wenn er dabei
* Abb. 82 133
j.
FRANKREICH
in einem rein geschäftlichen Sinne nicht auf seine Kosten kam,
mehr ausgab, als er einnahm, so lag das durchaus nicht an seinem
Verfahren selbst, sondern daran, daß ihm, dem französischen Herzog
und Hofmann des achtzehnten Jahrhunderts, die Gedanken eines
Geschäftsmannes fremd waren, der auch einen Bücherschatz als
eine Kapitalsanlage betrachtet, mit der keinerlei Verschwendung zu
treiben ist. Der Herzog de la ValliÄre gehörte noch zu einer Zeit,
deren Liebhaber nicht rechneten, bevor sie sich ihrer Leidenschaft
überließen.
Jedenfalls aber ist die Geschichte der Liebhaberbücherei, die
seinen Namen trug, zum großen Teile die Geschichte der französi-
schen Bücherliebhaberei im achtzehnten Jahrhundert. Und auch
in ihrer Anordnung und Aufstellung vereinte sie die beiden Formen
in sich, die noch heute die Sammlungen französischer Bibliophilen
unterscheiden: aus den Cimelien seiner Bibliothek, die ihrem Plane
nach einen universellen Charakter haben sollte, hatte der Herzog
ein besonderes Kabinett bilden lassen. Als die Bücherschätze des
Grafen Hoym unter den Hammer kamen, begann, dreißigjährig,
La Vallifere mit der Begründung seiner Sammlung, um sie in den Ver-
steigerungen der folgenden Jahre mit ungeheurem Kostenaufwande
zu vermehren. Er ist der unüberwindliche Sieger auf den ventes
Bellanger [1740], Mar6chal Duc d'Estrees [1740]; Lancelot
[1741]; von der Harley auction [London 1743] führt er zahlreiche
Beutestücke nach Frankreich. Auf der Versteigerung der Bücherei
des gelehrtesten französischen Sammlers seiner Zeit, des Abb^ de
Rothelin aus dem Hausender Orleans Longueville und Dunois [1746]
weiß er seinen Platz als erster Bibliophile Frankreichs zu behaupten.
Zehn Jahre später, inzwischen waren die ventes Gluck de Saint-
Port, der die Bücherei des Bernard de la Monnoye erworben
hatte [1749] und als Liebhaber der Mme. de Verrue in der Aus-
legung der Bibliophilen-Freundschaft sehr weit gegangen war, des
kunstsachverständigen Experten Gersaint [1750], Secousse [1755,
hier kaufte La Valli^re für 2500 livres 530 Mappen mit mehreren
tausend Flugschriften zur französischen Geschichte], die haupt-
sächlichsten Quellen für die Vermehrung der Bibliothek des Herzogs
134
18. JAHRHUNDERT
gewesen, erschien der ,,Catalogue des Livres du Cabinet de Mr. G.
avec une table des auteurs et des ^clairissemens sur la raret6 des
livres et sur le choix des editions. Paris, G. Fr. Debure: 1757**, der
die erste Bibliothek Girardot de Prefonds verzeichnete.
Paul Girardot de Prefond hat zwei Büchersammluniren
besessen. Die ebenerwähnte erste, die er auf Anraten seines Arztes,
Hyacinthe Baron, der selbst ein begeisterter Bücherliebhaber war,
zu sammeln begann, um seine Melancholie zu heilen, die ihn, den an
rege Tätigkeit gewöhnten Holzhändler, befiel, als er sich von den Ge-
schäften zurückzog. Nach der Versteigerung dieser ersten Bücherei
begründete er eine zweite, die an geschmackvoller Auswahl die erste
fast noch übertraf, so daß Charles Nodiers begeistertes Lob [Un
volume qui porte ä la garde dans un m^daillon fort gracieux orne
EX MUSAEO PAOLI GIRARDOT DE PREFOND n'a presque
plus de valeur fixe."] wohl begründet war. Den größeren Teil dieser
zweiten Bücherei, darunter die kostbar ausgestatteten Reihen der
editiones in usum Delphini und cum notis variorum aus Gascq
dela Landes Besitz, verkaufte er 1769 für 50000 Fr. an den Grafen
Mac Carthy. Neben seinen zahlreichen Käufen a\if der vente Gi-
rardot de Prefond erwarb der Duc de la Valliöre 1759 die ganze Biblio-
thek Guyon de laSardi^re und fast zu gleicher Zeit für 35000 Lire
die in dreißig Jahren zusammengebrachte, 3000 Bände zählende,
Bibliothek des britischen Konsuls in Livorno, Jackson, mit 215
wertvollen Handschriften und vielen Beständen aus den Bibliotheken
Joe Smiths und des Marchese Capponi. Aber erst Ende des Jahres
1768 bekamen die planlos von überallher zusammengetragenen und
allzuoft, namentlich von den bibliophilen Freunden des Herzogs,
Gaignat und Randon de Boisset, geplünderten Schätze, die außerdem
noch durch den Verkauf einer großen Sammlung naturwissenschaft-
licher Prachtwerke an die Bibliotheque du Roi und durch eine
Dublettenversteigerung, unter deren 5633 Nummern kaum die
Hälfte Dubletten zu kläglichen Preisen um wertvolle und unersetz-
liche Stücke gemindert worden waren, einen Bibliothekar, den Abbe
von Sainte-Genevieve, Jean- Joseph Rive [1730—1791], der zu-
sammen mit dem Ratgeber des Herzogs, Mercier de Saint-Leger,
135
FRANKREICH
als der eigentliche Schöpfer der Bibliotheque La Valliere zu rühmen
ist. Der aber auch von da an ihr eigentlicher Herr blieb. Die Sam-
meltätigkeit des Besitzers beschränkte sich darauf, die Rechnungen
zu bezahlen. Nach dem Tode des Herzogs, für seine Dienste wenig
entlohnt, folgte e^ 1786 einem Rufe nach Aix, um die Leitung der
Büchersammlung zu übernehmen, die der Marquis de Mejanes den
Etats de Provence hinterlassen hatte. Kurze Zeit vor der Berufung
des Abb6 Rive als Bibliothekar des Herzogs war Jean Louis
Geignat, ehemals receveur-general des consignations, aus Gram
um den Verlust dieses Amtes, um das ihn eine Intrigue der Duchesse
de Mazarin, die er auf einer Porzellanversteigerung überbot, gebracht
hatte, gestorben: einer der begeistertsten französischen Sammler des
achtzehnten Jahrhunderts, der außer einer großen Kunstsammlung
eine der schönsten Liebhaberbüchereien seiner Zeit besaß, für die
er 279381 livres aufgewendet hatte, während ihr Verkauf nur
227597 livres brachte. Auf der vente Gaignat, die am 10. April 1769
begann und 28 Tage dauerte, kaufte der Abbe Rive für La ValliÄre
die Hauptschätze [darunter manches von Gaignat dem Herzog ent-
liehene Stück] und bezahlte sie mit rund 90000 livres, wie er auch
1770 in der von De Bure geleiteten Versteigerung der Bücherei des
Duc de Brancas-Lauraguais zahlreiche Erwerbungen machte. 1772
ging die 853 [rund 900 mit den Doppelstücken] zählende Bibliothek
Bonnemet sehr billig en bloc [für 14598 livres] ein paar Tage vor
ihrer Versteigerung in den Besitz du ValliÄres über und bildete den
bedeutendsten Teil der modernen Bücher in der Sammlung des
Herzogs.
Bonnemet, ein reichgewordener, 1770 gestorbener, Seiden-
händler aus der rue Saint- Denys, hatte kaum ein Bändetausend zu-
sammengebracht. Obwohl wenig gebildet, er pflegte zu behaupten,
daß er nur 6ditions princesses erwerbe, wußte er doch die schönsten
der damals erschienenen 6ditions de luxe auszuwählen, die er, ein
Vorbild des heutigen amateur moderniste, aus losen Bogen zusam-
menstellte und von Derome le jeune prachtvoll binden ließ. Im
übrigen duldete er ein Betreten seiner Bücherei nur, wenn ihre
Reinigung nötig war und hielt streng darauf, daß seine Dienstboten
136
18. JAHRHUNDERT
Handschuhe trugen, wenn sie seine Bücher anfaßten. Im Januar
1773 war eine neue Guillaume De Bure fils aine anvertraute, 2812
Nummern ausbietende Dublettenversteigerung nötig geworden und
vom Abbe Rive hauptsächlich aus den Beständen der Sammlungen
Bonnemet, Guyon de Sardiere, de Bombarde bestritten worden.
In dieser letztgenannten, von La Valliere gegen 1760 en bloc er-
worbenen Bücherei befanden sich auch die Überreste der Familien-
bibliothek der Urfe, die auf dem Schlosse La Bastie insbesondere von
Claude d'Urfe vermehrt worden war. Indessen brachte diese Du-
blettenversteigerung keine sehr hohen Preise, woran der sie leitende
Buchhändler die Hauptschuld trug. In den Jahren 1772 bis 1775
fanden wenige bemerkenswerte Versteigerungen statt, die Biblio-
theken Mancini, Boullongne, de Yarenne de Beost,
Dejan, Floncel, de la Condamine, Delaleu, Pont-de-
Vesle, u. a. boten keine allzu reiche Beute, und auf der Askew-
auction [London 1775] fand La Valliöre in den reichen englischen
Bibliophilen ebenbürtige Gegner. Auch bis zum Tode des Herzogs
bot sich nur wenig Gelegenheit, seine inzwischen sehr vollständig
gewordene Bibliothek zu ergänzen. Bemerkenswerten Zuwachs
brachten ihr nur die Versteigerungen des ,Cabinet* des Duc de
Saint-Aignan [1776], der Bibliotheken Randon de Boisset
[1777], Crebillon fils [1778], Präsident de Brosses [1778], des
Buchhändlers Chardin Filheul [1779], Mac Carthy [1779, Du-
blettenauktion, veranlaßt durch den Erwerb der zweiten Bibliothek
Girardot de Prefonds]. Inzwischen hatte auch eine dritte Dubletten-
versteigerung der Bibliothek La Valliere stattgefunden. Bücherei-
erwerbungen und Büchereiversteigerungen verschafften dem Herzog
nicht die einzigen Gelegenheiten zur Vermehrung seiner Bücher-
sehätze. Sein hoher Rang, der ihm sogar den Tauschverkehr mit der
Biblioth^que du Roi ermöglichte, gab ihm die Möglichkeit, ein be-
gehrtes Buch unter Umständen auch mit Gewalt an sich zu bringen.
Zumal aus den Bibliotheken der geistlichen Orden hat er manches
Stück zur Besichtigung eingefordert, das er nicht wieder zurück
gab, dann allerdings als Grandseigneur ihnen auch eine hohe Ent-
schädigungssumme bietend. Durch ein ähnliches Machtmittel kam
137
FRANKREICH
der einzigartige Band aus der 1763 versteigerten Bibliothek des
Generalpächters La Riche dela Popeliniere [gestorben 1762] in
seinen Besitz, das Exemplar der ,Tableaux des Moeurs du Temps^
mit den eigenartigen Miniaturen. Der Herzog hatte eine lettre de
cachet vom Könige erwirkt, das Exemplar konfiszieren und ver-
nichten zu lassen, begnadigte es aber dann vom Feuertode zur Haft
in seiner eigeaen Sammlung. Noch kurze Zeit vor seinem Tode
scheint sich der Duc de la Valliere mit dem Gedanken getragen zu
haben, seine Bibliothek als Ganzes zu erhalten. Doch wurde diese
Absicht nicht verwirklicht, seine Gattin und seine Tochter, die
Duchesse de Chätillon, brachten sie zum öffentlichen Verkaufe,
nachdem sie noch manche wertvollen Werke den Bibliotheken,
denen sie der Herzog entlehnt hatte, zurückgegeben hatten. Die
Versteigerung des Kabinetts der Bücherei La Valliere führte die
berühmtesten Büchersammler Europas oder ihre Agenten in Paris
zusammen: sie begann am 12. Januar 1784 und dauerte bis zum
5. Mai 1784; in 81 Tagen wurden 5668 Nummern für 464677 livres
8 sols verkauft. Den größten Ertrag brachte der 1. März, 20762
livres, 12 sols; an diesem Tage kaufte die Duchesse de Chätillon die
,Guirlande de Julie* für 14510 livres zurück. Gegen Ende des
Jahres 1784 erschien der zweite Teil des diesmal von Jean-Luc Nyon,
l'alne, redigierten Auktionskatalogs, der 26537 Nummern enthielt.
Indessen kam es nicht zur Versteigerung. Der Marquis de Paulmy
erwarb den Inhalt des Kataloges en bloc und machte ihn so zum
Grundstock der heutigen Biblioth^que de TArsenal.
Der Gouverneur des seit 1758 von ihm bewohnten Arsenals, Marc
Antoine-Rene de Voyer d'Argenson, Marquis de Paulmy
[1722—1787] hat in den mit A. G. Constant d'Orville herausgegebenen
69 Bänden seiner ,Melanges tires d'une grande bibliothöque* [Paris:
1779—1788] einen Auszug jener 50000 Bände begonnen, die ihn seine
sich gegen die mächtigeren Mitbewerber behauptende Bibliophilie-
passionin einem Menschenalter zusammentragen ließ; eine Arbeit, die
unmöglich gewesen sein würde, wenn nicht auch er durch Aufkäufe
schon ausgewählten Sammlergutes seine Bücherwände hätte er-
richten können. Eine Auswahl vor allem der Bibliotheken Bour-
138
18. JAHRHUNDERT
gogne [1748], Secousse [1755], Prince d'Isenghein [1756],
Guyon de Sardi^re [1760], seines Onkels d'Aguesseau
[1766], Gaignat [1769], Conrart [1769], Barbazan [1771],
Picart [1780], Roger de Gaigneres [1780], Boucot [1780],
Esmonin de Dampierre [1780], Lacurne de Sainte-Palaye
[1780], Baron d'Heiss [1781], J. B. Paulin d'Aguesseau [1785]
sowie derjenigen einiger Abteien, insbesondere der der Zölestiner-
mönche in Colombier und der Augustinermönche in Lyon verband
sich mit den Erwerbungen, die er ständig bei den Buchhändlern, bei
den Büchersammlern, bei den Versteigerungen machte, unterstützt
von seinen Uterarischen Agenten und Bibliothekaren. Der Betrieb
dieser, seit 1767 der allgemeinen wissenschaftlichen Benutzung er-
schlossenen Büchersammlung näherte sich immer mehr dem einer
öffentlichen und der Marquis, um sie nach seinem Tode zu erhalten,
verkaufte sie 1785 für 412000 hvres an den Comte d'Artois, den
späteren König Karl X. [1757—1836]. Das war kein zu hoher Preis für
ihre 60000 Druckwerke [in 52657 Bänden], ihre 2412 Handschriften,
ihre 592 Kupfe'rstichmappen, ihre allein schon auf 15000 livres ge-
schätzte Münzsammlung. Allzu viel Zeit blieb dem neuen Besitzer
dieses Bücherschatzes nicht, ihn noch zu vermehren. Die Bastillen-
stürmer des 14. Juli 1789 zogen auch vor das Arsenal, um die Bücher
dieses verhaßtesten Mitgliedes des königlichen Hauses zu vernichten,
die allein die Geistesgegenwart des Bibliothekars Saugrain rettete.
Am 2. September 1792 wurde die Arsenalbibliothek als achtes D6pöt
national litt^raire de Paris erklärt, am 28. April 1797 zum Eigentum
des Volkes, am 20. Mai 1798 zur dreimal wöchentlich geöffneten
öffentlichen Sammlung, der das [indessen erst 1840 geordnete]
Archiv der Bastille, soweit es gerettet werden konnte, übergeben
wurde. Am 25. April 1816 bekam der comte d'Artois „ci-devant
^migri'' seine inzwischen beträchtlich vermehrte Büchersammlung
zurück, die nun am 16. September 1824 eine Biblioth^que Royale
wurde und seitdem ihrer alten Bestände wegen, die das Vermächt-
nis Prosper Enfantins [1796—1864] mit der bedeutendsten Saint-
Simonistischen Privatbibliothek vermehrte, zu den wichtigsten
Bibliotheken von Paris gehört. Manches auch der Nationalbibliothek
139
FRANKREICH
fehlende Buch ist allein in der Arsenalbibliothek aufzufinden, in
deren Räumen sich die Bibliophilen immer wieder trafen und unter
deren Bibliothekaren so viele bekannte Buchfreunde des neunzehnten
Jahrhunderts gewesen sind: Charles Nodier, Le Roux de
Lincy, de Montaiglon, L. Paris, Paul Lacroix, Maria de
Heredia u. a. So ist die Arsenalbibliothek, die Schöpfung eines der
hervorragendsten französischen Büchersammler des achtzehnten
Jahrhunderts, die einzige größere Privatbibliothek dieser Epoche
geblieben, die die Revolutionsstürme überdauerte, die letzte der in
der Absicht, sie zu einer Bibliotheksstiftung als Ehrendenkmal seines
Namens auszugestalten, von einem grandseigneur des ancien regime
errichteten Bücherburgen. Die gleiche Absicht hatte auch noch der
genialste Mann der französischen Revolution gehabt, Honore
Gabriel Riquetti Comte de Mirabeau [1749—1791], der Les-
sings Meinung teilte, daß es kein unnützes Buch gäbe, weil ein
schlechtes Buch wenigstens noch durch seine Fehler Gutes wirken
könne. Mit dem ihai eigenen leidenschaftlichen plötzlichen Un-
gestüm war er ans Werk gegangen, dessen Ausführung sein früher
Tod verhindert hat. Er hinterließ eine in zwei Jahren entstandene,
sehr ansehnliche Privatbibliothek, deren Versteigerungsverzeichnis
vom Jahre 1791 ein Bedauern erweckt, daß nicht er zum Napoleon
des von den Revolutionsstürmen erzeugten Bibliothekenchaos ge-
worden ist. Allerdings lassen sich die Beziehungen zwischen Biblio-
philie und Revolution nicht lediglich in der gewaltsamen Büchereien-
zerstörung, in der Änderung des Büchersammelwesens aus wirt-
schaftlichen Ursachen auffinden. Weit wichtiger erscheint der geistige
Auflösungsprozeß, dessen destruktive Tendenzen am deutlichsten
in der Abkehr vom alten Buche sich zeigten, weil es Vergangenheit
sei. Im achtzehnten Jahrhundert hat in Frankreich die ästheti-
sierende Bibliophilie sich rasch gewandelt. Anfangs eine Eleganz,
die historisierend modern war, weiterhin ein das Buch der Gegenwart
in der Form der Liebhaberausgabe fördernder Luxus, schließlich
das Verlangen, von dem Ballast retrospektiver Bibliotheken ganz
und gar frei zu werden. Es gab schon Bücherliebhaber, denen nicht
die Sammlung selbst, sondern deren rühmliche Versteigerung das
140
18. JAHRHUNDERT
Ziel war. Eine Auffassung der Bibliophilie, die ganz gewiß nicht der
Büchereienprunksucht vorzuziehen wäre, die Buch und Bücherei
nicht zum Spekulationsobjekt herabwürdigte, sondern, obschon
vielleicht nur der Eitelkeit wegen, gerade ihre hervorragendsten
Vertreter die» freilich meist mehr spielerisch sich äußernde Verwirk-
lichung dieses Zweckgedankens erstreben ließ, bleibende Bücher-
sammlungen zu schaffen. —
Der Führer, den Voltaire in seiner Reise zum Tempel des Ge-
schmackes wählte, war der Abbä de Rothelin:
eher Rothelin, vous fütes du voyage
Vous que le goüt ne cessa d'inspirer,
Vous dont l'esprit si delicat, si sage,
Vous dont l'exemple a daigne me montrer
Par quels chemins on peut, sans s'6garer,
Chercher ce goüt, ce Dieu que dans cet äge,
Maints beaux esprits se fönt gloire d'ignorer.
Er hätte keinen besseren finden können als Charles d'Orleans,
Marquis de Rothelin, abb6 de Cormeilles [1691—1744],* dessen
Bibliophilensalon in seinem Landhause bei Paris in der ersten Hälfte
des achtzehnten Jahrhunderts den Kennern und Liebhabern geöffnet
war; den Lehrmeister des Grafen Hoym, den ausgezeichneten Numis-
matiker und liebenswürdigen Menschen. Der Kardinal Polignac,
mit dem er 1724 in Rom gewesen war, hatte ihm die Herausgabe
seines Anti-Lucretius anvertraut; man schätzte seinen Geist ebenso
wie seine Gelehrsamkeit und seinen Geschmack, der auch dem
schweren Bücherwissen anmutige Leichtigkeit zu geben wußte. Von
den Fächern der Theologie hatte sich seine Büchersammlung über
die der Altertumskunde und Geschichte ausgedehnt. Den Ansprüchen
des Gelehrten an seine Bücher, die der Abb6 de Rothelin stellte, ver-
band er die des Liebhabers an ihr Äußeres. Seine Bände waren vor-
trefflich geleimt und gewaschen, dazu regliert; er vertraute sie den
besten Buchbindern an und ließ sie mit seinem Wappen zieren.
Wäre nicht der ernste, fachwissenschaftliche Ton in seiner Bücherei
der vorherrschende gewesen, dann würde sie unter den Kabinetten
* Abb. 8o 141
FRANKREICH
der modernen Sammler unbestritten an erster Stelle gestanden haben.
Ihre Versteigerung, schon für den April 1746 angesetzt, fand erst
im März 1747 statt; das nach dem eigenen Kataloge Rothelins von
Gabriel Martin redigierte Verzeichnis zählte 5036 Nummern, dar-
unter die Reihe der grands et petits voyages, die dem Abbe 3000
livres gekostet hatte und für nur 813 livres verkauft wurde.
Das „exemplaire le plus bei connu'^ war den Sammlern neuer
Bücher eher erreichbar als denen der alten Drucke, für die eine auf-
kommende Elzevieromanie dergleichen Unterscheidungen ebenfalls
schon zu bedingen begann. Da der Amateur, wenn er die einfachen
recht und schlecht hergestellten Verlegereinbände in Kalbleder ver-
schmähte, seine Abzüge in rohen Bogen erhielt, die noch zu leimen
waren, da die Beschaffung der feinen Ziegenleder Kosten und Um-
stände machte, war die Herrichtung eines neuen Buches zum
„exemplaire d'amateur'' immerhin eine Sammleraufgabe für sich.
Vorbildlich widmete sich ihr der garde de sceaux Nicolas Berryer
[gestorben 1762]. Er kaufte von manchen neuen Werken mehrere Ab-
züge, um deren beste Bogen auszusuchen, er vertauschte die Exem-
plare von alten Werken immer von neuem gegen bessere, kurz, er
trieb diese Art von Bibliothekenluxus soweit, als man sie nur treiben
konnte; freilich mit feinem Geschmack und nicht wie einige seiner
bekannter gewordenen Nachahmer dabei zum bloßen Schaubuch-
sammler werdend. Seine Bücherei gelangte nach seinem Tode in
die seines Schwiegersohnes, Chretien-Frangois de La Moignon
[gestorben 1789] und damit in eine der besten Familienbibliotheken
Frankreichs, die im siebzehnten Jahrhundert von dem Pariser Parla-
mentspräsidenten Guillaume de La Moignon und dessen Bibliothekar,
dem gelehrten Baillet, gegründet, von seinem Sohn Chretien-FranQois
erheblich ausgestaltet worden war, so daß er in ihr schon [1709]
an Chretien-FranQois 1550 Handschriften hinterließ. Dieser ließ
eine einheitliche Ordnung seines Bücherschatzes, den auch er reich-
lich vermehrte, vornehmen und, in fünfzehn Abzügen, ein von L. F.
de la Tour bearbeitetes Verzeichnis drucken. Doch sollte ihn die
Bücherei nicht allzulange überdauern, sie wurde mit Ausnahme
der französischen juristischen Werke an den Londoner Buchhändler
142
18. JAHRHUNDERT
Mr. Payne verkauft, der sie nach England überführen und versteigern
ließ, während der Rest der Sammlung, von der Th. Fr. Dibdin mit
Recht urteilte, sie wäre eine der bedeutendsten Privatbibliotheken
des achtzehnten Jahrhunderts gewesen, 1797 in Paris zerstreut wurde.
Ebenso wie die Amateure in ihren Kabinetten einzelne Aus-
gabenreihen bevorzugten, wie die [Kabinette als deren Auslese
sich in den großen Privatbibliotheken zu kleinen Schatzkammern
umbildeten, so entstanden auch in eben diesen Privatbibliotheken,
je nachdem sie auf dem einen oder dem anderen Sammlungs-
gebiete stärker waren oder die Vorliebe ihrer Besitzer ihnen solche
Wege wies, Sondersammlungen, derentwegen sie noch einen eigenen
Ruf erhielten. Im geselligen Paris des siebzehnten und acht-
zehnten Jahrhundert verband sich leicht ein Literatur - Mäzenat
mit dem des Theaters, zumal da auch das Dilettieren in den
Bühnenkünsten, das Salontheater, zu den bei der Hofgesellschaft
beliebtesten Unterhaltungen gehörte. Ihr verdankte auch die unter
dem Namen des Duc de La Vallifire veröffentlichte, von dem Abbe
Mercier Saint-Leger, Marin, Capperonnier und dem Abbe Boudot
bearbeitete ,Bibliothäque du Theätre-Frangois* [Dresde (Paris) :
1768] ihre Entstehung, deren drei Bände eine Übersicht der fran-
zösischen dramatischen Literatur versuchten, die in der Bücher-
sammlung des Herzogs einen sehr ausgedehnten Raum erhalten
hatte. Recht eigentlich eine Bibliotheca dramatica war auch die
dazu reichhaltig mit Romanen versehene Bücherei der Jeanne
Antoinette Poisson, Marquise de Pompadour [1721 — 1764].*
Das lag nicht nur daran, daß die Favoritin des Königs für die Be-
gründung ihrer eigenen Bibliothek die des Verfassers der ,Recherches
sur le Theätre en France^, de Beauchamps, angekauft hatte. Denn
die Bände ihrer Sammlung sollten sie nicht allein unterhalten, son-
dern ihr Anregungen geben, die königliche Phantasie mit immer
neuen Vergnügungen zu beschäftigen. Diese meist aus französischen
und italienischen Werken bestehende rechte Rokokobibliothek einer
geistreichen Frau, deren Bandwappen mit den drei Türmen das einer
wirklichen Bücherfreundin war, ist also keineswegs nur ein Schmuck-
stück der Appartements der Marquise gewesen, sondern eine Festung.
* Abb. 83 143
FRANKREICH
von der aus sie ihre von überallher angegriffene Stellung zu ver-
teidigen wußte, Ihr Bruder und Haupterbe, der Marquis de Marigny,
konnte allerdings mit der Nummer 18 des Inventars, unter der es
heißt: ,Ma bibliotheque y compris nombre de manuscrits 12500
francs* nichts anfangen. Er brauchte immer Geld und ließ die Bücher
sogleich versteigern.
Die Auktionssensationen zu genießen, als etwas, das den
Augenblick erheiterte, ein echtes Rokokogefühl erzeugte, und
das der Badauderie die Gelegenheit gab, sich mit der Beschäfti-
gung eines gesellschaftlichen Müßigganges zu erfreuen: dieses Ver-
langen hat den französischen, insbesondere aber den Pariser Ver-
steigerungen seit dem achtzehnten Jahrhundert eine Eigenart ge-
geben, die sie von den Bücherschlachten jenseits des Kanals und des
Atlantischen Ozeans, in denen die geschäftsmäßige Kühle vorwaltet,
noch immer unterscheidet. Der Bücherklatsch, das gefällige Gerücht
umgaben ebenso die Vorbereitungen einer Auktion von Rang, wie
sie lange nach der Vente in Kataloganekdoten und Provenienz-
exemplarnotizen noch nachwirkten; eine Buchgeschichte aus per-
sönlichen Erlebnissen von Vorbesitzern zusammenwebten. Ist da und
dort in der Bibliophilietradition Englands die Katalogreferenz eine
sachliche Verweisung auf gedruckte oder geschriebene Preislisten,
so ist sie in derjenigen Frankreichs ein heiteres Blättern in Memoiren,
die aus einem nicht gerade belangreichen Geschehnis, aus einem
lachenden Witzwort einen Erinnerungsreichtum zu machen wußten.
Die Beschreibung, die ein einsichtiger Mann von den Auktionen, die
um 1780 in Paris stattfanden, gegeben hat, sie paßt auch heutzutage
auf die Stimmungsreize, die die Atmosphäre eines Versteigerungs-
saales bilden, vortrefflich. [Reflexions sur la peinture et la gravure,
accompagnees d'une courte dissertation sur le commerse de la
curiositÄ et les ventes en general, par C. F. JouUain fils aine. Metz:
1786]: „L'homme que la simple curiosite attire ä une vente, est
toujours surpris de voir succeder en un instant sur un meme objet,
la chaleur a l'indifference, la lenteur des encheres sol ä sol la marche
rapide des pistoles, des centaines de livres. II se platt a contempler
sur le visage de Tamateur cette ind^cision qui accompagne visi-
144
18. JAHRHUNDERT
blement son goüt le plus decide, le desir qu'il auroit que Ton pro-
longeät Tintervalle des encheres. II sourit de la figure composee
du marchand qui feint a chaque instant d'abandonner un objet
qu'il brüle d'avoir en sa possession, et qui n'agit ainsi que pour
presser de plus en plus l'amateur ä se determiner; conduite d'autant
plus adroite qu'il sait que par un pareil moyen, ou il lui fera sauter
le fosse, ou il Ten emp^chera enti^rement. Le z^le de l'huissier-
priseur n'echappe point k son oeil observateur; car celui-ci le re-
doublant k proportion de la somme attachee ä l'article, a grand soin
de reveiller l'engourdissement de l'amateur par les repetitions con-
tinuelles de ces mots: „dites vous; dit-on? M. dit-il? Personne ne
dit mot? je vais adjuger; vous ne dites mot, M., je vais adjuger, etc.",
Sans cependant aller aussi vite qu'il parait le promettre, esperant
toujours que la valeur augmentera, ainsi que son b^n^fice, et, par
contre-eoup, celui de la bourse commune. Enfin, dans une vente
publique, tout est 6galement susceptible d'interesser; depuis l'offi-
cier en exercice qui adjuge, jusqu'ä celui qui ne vient que pour se
chauffer ou dormir, tout sert de le$on aussi utile qu'agr^able.*'
Das achtzehnte Jahrhundert ist, besonders in Frankreich, durch
das Bestreben, Allgemeinbildung zu gewinnen, ausgezeichnet, der
Charakter der Enzyklopädien, der Bayleschen [um 1700], der d'Alem-
bert-Diderotschen [um 175|0] und der Agasse-Panckouckeschen
[gegen 1800] prägte sich auch in dem der Privatbibliotheken aus.
Dadurch aber bekamen die Fachbüchereien etwas vom Wesen der
Liebhaberbfichereien, die Berufsbücher hatten in ihnen kaum noch
das Übergewicht, wofern sie nicht schon gelehrte Sondersamm-
lungen wurden. Die Bibliothekenmode gehörte zur literarischen
Mode, zum guten Ton, die Anzahl mittlerer Privatbibliotheken in
Paris und in den Provinzen war nicht gering. Eine bibliographische
Statistik, die Daniel Moret [1910] versuchte, wobei er 500 zwischen
1750 und 1780 veröffentlichte Kataloge französischer Privatbiblio-
theken zugrunde legte, von denen 330 unter 1000 Bänden, 424 unter
2000 Bänden, etwa 140 zwischen 2000 und 3000 Bänden, etwa
30 über 3000 Bände zählten, zeigte zunächst eine gewisse Gleich-
mäßigkeit aller dieser Büchersammlungen, eine Art gesellschaftlicher
BOGENG 10 145
FRA NKREICH
Übereinstimmung ihrer Bücherwahl. Ihre Besitzer, unter denen
62 Angehörige des hohen und 34 Angehörige des niederen Adels,
45 Geistliche, 29 höhere Verwaltungsbeamte, 8 Notare, 43 Rechts-
anwälte, 14 Ärzte und Apotheker, 16 Universitätslehrer, 2 Offiziere,
2 Baumeister, 74 mittlere Beamte, 1 Kaufmann, 1 Maler, 63 ohne
Berufsangabe und 106 nicht zu ermittelnden Namens und Standes
waren, repräsentierten nicht den Beruf ihrer Sammler, sondern
deren Bildung. Die Juristen, Mediziner, Theologen besetzten die
Fächer ihrer Wissenschaften mit den notwendigsten gelehrten Schrif-
ten; eine Sparsamkeit, für die sie sich schadlos hielten durch die Be-
vorzugung jener Bücher, die die modernen Gedanken vertraten.
Ein Wandel in der Zusammensetzung der Büchersammlungen, der
sie, denen des sechzehnten und ziebzehnten Jahrhunderts verglichen,
in einer inneren Auflösung zeigt. Es fehlte ihnen der feste, methodisch
gesicherte Mittelpunkt, nach dem sich ein Bibliothekensystem richten
konnte. Man hatte viel mehr Büchereien als damals, weit weniger
geschlossene Sammlungen als früher.^
Abwehr oder Anerkennung der revolutionierenden Ideen unter-
scheiden die 500 Bibliotheken durch ihre Auswahl. Doch sind die
Zahlen zufälliger, weil sie sich auf Privatbibliotheken recht ver-
schiedenen Umfanges und Wertes beziehen. Der Bayle war noch
das Hauptwerk, ihn besaßen 288 Bibliotheken [in 299 Exemplaren].
An Beliebtheit stand ihm nur der Buff on nach, den 202 Bibliotheken
hatten. Seine Zoologie war also neben dem freidenkerischen Diction-
naire das eigentliche französische Bibliothekswerk dieser Epoche,
da die eben erscheinende große Enzyklopädie, die in 82 Biblio-
theken zu finden war, vielen zu teuer gewesen sein wird. Verhältnis-
mäßig wenig war Voltaire beliebt. Die , Henriade' fand sich [mit
249 Exemplaren] in 181 Bibliotheken vertreten. Ausgaben seiner
jOeuvres* waren in 171 Bibliotheken [mit 207 Exemplaren] vor-
handen. Selbst die bekanntesten geschichtswissenschaftlichen Bücher
Voltaires fehlten den meisten dieser Privatbibliotheken. [Siecle de
Louis XIV.* in 167 Bibliotheken, Histoire de Charles XII.* in 150
Bibliotheken.] Die verbotenen, aber in einer stattlichen Auflagen-
und Nachdruckreihe verbreiteten ,Lettres philosophiques* hatten
146 * Abb. 85, 86
18. JAHRHUNDERT
sich 41 Bibliotheken verschafft. Ähnliche Verhältnisse zeigten sich
für Rousseau. Sein epochemachendes literarisches Auftreten fand
in den Privatbibliotheken nur einen schwachen Wiederhall. Den
,Discours sur les Arts et les Sciences' hatten 15 erworben, den , Discours
sur r Inigalite' 76, die ,Nouvelle Heloise* 165, Ausgaben der , Oeuvres*
33. Der , Emile' fehlte in den Katalogen als verbotenes Werk zu-
nächst und wurde er angeführt, so geschah das in der hierfür üb-
lichen Weise, indem man auf seinen Titel durch eine punktierte
Zeile verwies, die zwischen die Titel ihn bekämpfender Schriften
gestellt wurde. Indessen ist der , Emile* auch von 1773 an [bis 1778]
nur achtmal vorhanden gewesen und der ,Contrat social* nur ein-
mal in einem Kataloge des Jahres 1778. Den , Discours sur Tecono-
mie politique* hatten fünf Bibliotheken erworben. Ebenso sind die
anderen , Modernen* nur wenig berücksichtigt. Doch auch die Mode-
romane sind nicht gerade häufig angekauft worden, indessen die
Vorliebe für die ältere Literatur, selbst für die Bearbeitungen der
Bücher des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts erkennen
läßt, daß immerhin das Festhalten an einer guten literarischen
Tradition den Besitzern dieser Büchersammlungen wichtig erschien,
die auch die Zeitschriften und Zeitungen sorgfältig aufbewahrten,
so daß in den 500 Bibliotheken 50000 Zeitschriftenbände gezählt
werden konnten, darunter Desfontaines ,Tournaux* in 110 Biblio-
theken [mit durchschnittlich 39 Bänden] und der ,Mercure de
France* in 45 Bibliotheken [mit durchschnittlich 344 Bänden].
Der Abkehr von der Berufsstrenge und Fachgelehrsamkeit, die
diese Zahlen einer allerdings nicht endgültigen bibliographischen
Statistik zeigen, entsprach die Änderung des Buchgeschmackes,
dessen Repräsentant das typische Rokokobuch, das livre ä figures
wurde. Es machte das Buch zum Hausgerät der vornehmen Welt
und aller derer, die vornehm sein wollten. Aber die Formen einer
Liebhaberausgabe, die es wählte, die Ausstattungskunstfertigkeiten,
die es in seinen Dienst stellte und unter denen der Prachtband nicht die
geringste Rolle spielte, blieben doch von den Bemühungen um eine
Buchkunstentwicklung noch weit entfernt. Erst die Buchpflege, die
einige Sammler den neuartigen Werken zuwendeten, gaben nicht
10* 147
FRANKREICH
allein einer solchen Entwicklung ihre Richtung, sie bestimmten auch
die Bibliophilien-Gewohnheiten, die seitdem die herrschenden blieben
für diejenigen Büchersammler, die auch die Bücher ihrer Zeit nicht
verschmähten, die sie sogar zum Hauptgegenstande ihrer Sammel-
tätigkeit zu machen wünschten. Nachdem schon einige Vorläufer —
ein Repräsentant der Übergangszeit ist etwa Claude Gros de Boze
[1680-1753]* — die bezeichnenderweise denjenigen Kreisen entstamm-
ten, in denen Gelehrsamkeitsprätentionen geschmacklos gewesen sein
würden, das Beispiel derartiger Liebhaberbüchereien gegeben hatten,
mehrten sich die neuartigen Sammlungen. Künstler und Schriftsteller,
denen antiquarisch-historische Neigungen ferner lagen, mußten finden,
daß diese Bibliotheken neuen Stils ihre eigenen Arbeiten förderten;
die buchgewerblichen Unternehmungen wandten sich in erster Linie
an die Buchbildfreunde. Es war eine Auseinandersetzung zwischen
der früheren und der kommenden Bibliophilie, die, vor der Revo-
lution einsetzend und sie überdauernd, seitdem sich zu behaupten
wußte, obschon sie in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahr*
hunderts infolge der buchgewerblichen Umwälzungen und der
Wiederaufnahme der historischen Traditionen nicht die ausschlag-
gebende Bibliophilenmode blieb. Immerhin aber bedeutete sie die-
jenige Bewegung, die die Liebhaberbücherei im neuzeitlichen Sinne
schuf, in der die Dichtung die Gelehrsamkeit ersetzte, in der an die
Stelle der Fachwissenschaften die schönen Wissenschaften traten,
Philosophie und Poesie, die in ihrer Art dem Bibliotheksideal der
Humanisten zwar mehr entsprach als etwa eine philologische Privat-
bibliothek, die jedoch einen allein ihnen bevorzugten Platz den
antiken Klassikern nicht mehr zugestand.
Der antiquarisch-historischen Bibliophilie und Bibliotheken-
Repräsentation stellt der Brief, den Merard de Saint-Just 1785
dem Comte Auguste Nadaillan schrieb, die Bücherlust der Modernen
gegenüber: ,, — — — Comte, n'ayons point la Bibliomanie, mais
aimons les livres. Que ce goüt se fortifie avec Tage; non pas au
point de faire desirer de r^unir indistinctement et les ouvrages qu'on
peut lire, soit pour son Instruction, soit pour son amusement, et ceux
qui ne sont point ä notre usage ou qui, n'ayant ainsi que les vieux manu-
148 •Abb. 87
18. JAHRHUNDERT
scrits, d*autre merite que de coüter fort eher, par la difficulte de
se les procurer ne devraient etre que dans la bibliotheque du Roi,
comme simple objet de curiosite, et servant ä l'histoire de la biblio-
graphie. Que contiennent-ils? Rien qui ne soit mieux exprime,
mieux presente, mieux developpe par les auteurs modernes, qui ont
trait^ des memes objets."
„Ne rirait-on pas aujourd'hui d*un Prince qui ne garnirait ses
arsenaux que d'armures portees jadis par les Gaston, les Bayard
et tous les preux Chevaliers, avant qu'on eüt invent6 la poudre
ä canon; qui n'armerait ses troupes que de vieilles et massives es-
copettes, dont on garde encore quelques-unes dans des cabinets de
curieux de choses antiques; que de ces longues flamberges, especes
d'epees qui, depuis quatre cents ans, rouillees dans leur fourreaux,
loin d'etre d'un usage utile dans une bataille, ne seraient qu'un
poids fort incommode pour l'offieier et pour le soldat? Je com-
pare, en quelque sorte, celui qui fait emplette de livres qu'il n'ouvrira
jamais, a Tavare enfouissant son tresor. Tun et Tautre ont des richesse
en pure perte.**
„Sur ses bouquins dores, acquis de toutes parts,
Le sot antiquares promene ses regards:
Ah! c'est pour lui vraiment une relique sainte!
S'il y porte la main, c'est toujours avec crainte;
Et Ton ne peut assurer que des livres si beaux,
Ne sont dans son logis que comme des tableaux:
Loin que ce riebe fonds serve ä son avantage,
II n'en connut jamais le precieux usage.*'
[Horace, satyre 1'® du 1«' livre, vers 70.]
,,Combien d'hommes de la Cour, de gens dans la haute finance,
meme dans le haut clerge et dans la haute magistrature, qui, ä 40
ou 50 ans, n'entendent plus que tr^s-peu, ou point du tout, le grec
et le latin; quoiqu'ils aient pass6 six, sept, ou dix-huit ann6es dans
les Colleges et les seminaires? Que ces personnes-lä se gardent donc
bien d'acheter jamais:
Thesaurus Graecac linguae, ab Henrico Stephane, constructus. Excu-
debat idem, Henricus Stephanus, 1572. 5 vol. in-folio, eharta magna.
149
FRANKBEICH
Homeri Uias et Odyssea, graece, studio Demetrii Chalcondilae. Floren-
tiae, 1488, Merlius, editio princeps.
Hesiodi Ascroei quae supersunt, cum notis Variorum: Edidit Thomas
Robinson, gr. et lat. Oxonii, h theatro Scheldoniano ; 1737, in-fol.
Euripidis tragoediae 17, gr. Venetis, apud Aldum, 1503, 2 vol. in-8^
Aristophanis Comoediae undecim, gr. et lat. ex recensione, et cum notis
Ludolphi Kusteri. Amstelodami, Fritsch, 1710, in-folio, charta
magna.
Demosthenis Selectae Orationes, gr. et lat. ex recensione et cum notis
Ricardi Mounteney. Cantabrigiae, Typis Academicis, 1731, in-8®,
Charta magna.
Virgilii opera. Birmingham, Baskerville, 1757, 1 vol. in-4^, grand papier.
Horatii carmina. Londres, Pine, 1733, 2 vol. in-4^, grand papier.
Senecae Tragoediae. Delphis, Beman, 1728, 1 vol. in-4^, grand papier.
Terentii Comoediae. Hagae-comitum, Johnsonius, 1726, 3 vol. in-4®,
grand papier.
Ciceronis opera. Paris, Coignard, 1740, 9 vol. in-4^, grand papier.
etc.
,,I1 semble en verite, qu'on sc fasse un honneur de ne composer
sa biblioth^que que de livres ecrits en langues etrangeres. On
i magine obtenir par-la la reputation d'erudits. On aurait honte,
on apprehenderait de n'etre pris que pour un hemme tres-superficiel,
en n'offrant k la curiosite des amateurs, que des ouvrages frangais,
de ces ouvrages classiques reconnus bons par tout le monde. Mais
au contraire, on croit se donner un grand relief, et passer pour
savant, lorsqu'on peut etaler une ou deux pieces meublees, garnies
du haut en bas d'in-folio, d'in-quatro, d'in-octavo, grecs, arabes,
coptes, syriaques, etc.
Dans sa biblioth^que, il va bientöt se rendre.
Suivez-le, et vous verrez les airs qu'il ose prendre,
Et comme il s'applaudit d'avoir, ä si grands frais,
Rassemble tant d'auteurs dont pas un n'est frangais.
[Horace, Ep. 2de du 2<io liv. v. 92.]
„Tel, nourri k Caen, ou ä Toulouse, ou k Marseille, ou k Stras-
bourg ne veut que des livres anglais. Jamais Pascal, Racine, Massil-
lon, Vertot, Montesquieu ni Voltaire n'entreront dans sa biblio-
150
18. JAHRHUNDERT
theque; parce qu41s ont eu, eux, nes en France, la maladresse, le
ridicule de ne pas se servir, pour vendre leurs id6es, de Tidiome
qu'on parle a Londres. Ce tres-bizarre amateur se persuade qu'on
Testime an grand philosophe, parce que Neuwton et Locke etaient
de grands philosophes. Tel autre borne ses desirs a rassembler dix
mille volumes Italiens, et se fait, ä ce sujet, une teile illusion, qu'il
reve le jour comme la nuit, que tous les lettres d' Italic, depuis Turin
jusques ä Naples, ne parlent, ne s'occupent que de Timportant
Service qu'il rend en France ä la gloire du Tasse, de 1' Arioste, et gene-
ralement de tous les auteurs de cette belle partie de l'Europe, qui
a ete le berceau de la Littirature, des Arts et des Sciences, ä la Re-
naissance des Lettres. Ces deux Stres singuliers, et tous ceux qui
leur ressemblent, ont Timbecille vanite de pretendre ä la conside*
ration; et cependant la plupart de ces Messieurs qui se disent en
etat de traduire Milton, l'Arioste, le Camoens ou Gessner, savent ä
peine parier leur langue, et sont incapables d'en ecrire, un peu cor-
rectement, deux phrases de suite»
„Ouvrez, feuilletez, nou pas un, mais trois, quatre, cinq cata-
logues des plus recher ches; vous y trouverez ä coup sür, tous les
auteurs qui ont rapporte, en grec ou en latin, les evenements arriv^s
dans leur pays. Pour une histoire generale de France, n' y comptez;
ä moins que ce ne soit de Thou, par la raison seule qu'il a ecrit en
latin, et qu'il se vend un prix considerable. Comment faire quelque
cas de Velly et de Villaret, que nous avons tous vus, et de M. Gar-
nier, leur continuateur, qui vit encore? Comment se resoudre ä
mettre sur un rayon de bibliotheque des volumes d'histoire, n'ayant
pas au moins deux mille ans d'antiquite? Comme il est des chapitres
et des ordres militaires dans lesquels on ne peut pas etre regu, si
Ton ne prouve deux, trois, quatre, cinq, ou six si^cles de noblesse,
de meme certains amateurs s'embarrassent peu que les livres soient
bons, pourvu qu'ils soient anciens ou rares, exigent, pour en faire
emplette, qu'on les convainque que ces livres uniques, ou presqu'
uniques, ou extremement chers, ou des commencements de
l'Imprimerie, ne peuvent vraiment appartenir qu' k des curieux
distingues; titre auquel il se reconnaissent visiblement: et voili
151
FRANKREICH
mes nigauds qui, pareils au corbeau de la Fable, et alleches par
Tappas d'une foUe louange, payent, au poids de Tor, des rames de
vilain papier, gätees encore par des macules noires, mais super-
bement reli^es pour l'ordinaire, et qu'il faudrait plutöt porter chez
r^picier, que de les ranger, que de les accumuler, dans une biblio-
theque.
,,Ne comprenant point les originaux, qu'on se contente donc
de lire Homere, Hesiode, Euripide, Aristophane, Demosth^nes, Vir-
gile, Horace, Seneque, T6rence, Cir6ron, Tacite etc., dans les moins
infidelles traductions qu'on nous en a donnees. II vaut mieux
faire Taveu de son ignorance, que de vouloir en imposer par un faste
scientifique : et pour un plaisir froid, factice et imaginaire, se priver
d'auteurs qui ont ecrit en langue frangaise.
„Si Ton veut s'en tenir aux livres qui fönt penser, il ne faudra
pas des vaisseaiix immenses pour les contenir/*
„Croyez-moi; que la coUection de vos livres soit peu nombreuse,
mais faite avec goüt. En entrant dans le Museum d'Antiquar&s, je
ne puis m' empecher de lui adresser mentalement ces vers:
Ldrsque tu me conduis dans ta biblioth&que,
Pleine du haut en bas, dont au moins la moitie
Est en langue latine, et Tautre en langue grecque.
Riebe ignorant, que tu me fais piti6!
Va; du savoir tu n'as que Tombre.
Des livres de Damis je fais bien plus de cas:
Ils sont pourtant en petit nombre:
Mais j'en aime le choix et ne les compte pas.
[Non numerandi, sed ponderandi.]
„Mon eher ami, il nous manqiue un catalogue — je m'occupe
d'en faire un pour Thomme du monde, qui ne sait ni le gree, ni
le latin, ni aueune langue 6trang^re — qui indique les plus belles
editions, non les plus anciennes, moins soignees, plus fautives que
les nouvelles.
A quoi bon acquerir quatre mille articles, plus ou moins, qu*on
entasse dans une biblioth^que, avec la certitude de n'en jamais
152
18. JAHRHUNDERT
faire usage? Par quoi les compilations, magnifiquement inutiles,
sont-elles recommandables? Parce que tous les volumes qui les
composent sont d'une grande rarete; parce qu'on ne les rassemble
qu'ä gros frais. Aussi ne servent-ils qu'ä prouver seulement la for-
tune mal employee d'un particulier, plus curieux de richesses ima-
ginaires, que d'avoir des livres pour s'instruire, ou pour s'amuser:
semblable ä ces antiques gentilshommes qui deployent, affichent
avec orgueil les titres de leur noblesse, et qui ne sauraient prouver,
pour leur compte, un seul acte de grandeur d'äme.
„Lorsqu'on a arrete en soi de former une bibliotheque, il fau-
drait se dire: Imitons l'abeille: que la coUection que je vais rassem-
bler soit un parterre de fleurs, sur lequel je puisse, a mon gre, pro-
mener mon imagination et en tirer un miel delicieux qui me nour-
risse Tesprit, fortifie mon äme et me rejouisse le coeur. La oonver-
sation des morts nous rend plus aimables ä ceux avec qui nous
vivons. Instruisons-nous, non ä la mani&re des p^dants; mais afin
de n'etre jamais a charge ni ä nous-meme, ni aux autres. On nouj
recherche; ou d6sire notre societ6; ou se soumettra sans peine ä nos
decisions, lorsqu'on aura remarque, et cette remarque n'echappe ä
personne, que sans faire parade de savoir, sans en paraitre plus
orgueilleux, ni moins honnetes, nous raisonnons bien; et qu'on ne
sort jamais d'avec nous, sans avoir ete dans le cas d'apprendre
quelque chose d'interessant et de nouveau.
,,Pardonnez-moi de me citer; tous mes livres sont des plus
belles impressions, comme vous ne l'ignorez pas, mais n'imaginez
point que le desir pueril d'etaler aux yeux un luxe niais, ait deter-
min^ ma depense. C'est en moi un goüt r^flechi et louable. Inde-
pendamment de la satisfaction premiere plus grande, plus vraie
que j'eprouve, en admirant des productions du genie; ma vue est
bien moins fatigu^e, en se reposant sur un papier et des types amis
de Toeil. En outre je täche, autant que mes facultes me le per-
mettent, de conserver aux imprimeurs ä venir des modeles qu'ils
doivent sans cesse tenter de surpasser. Le progres de tous les arts
utiles, et surtout d'un art aussi n6cessaire que celuici doit Stre un
des principaux objets des occupations et des amusements d'un
153
FBANKREICH
homme ä qui les Sciences ou la Litterature ne sont pas tout-ä-fait
6trangeres.
,,Comme vous le pensez bien, je n'ai en vue personne, en d6s-
approuvant les Rechercheurs de vieux bouquins. Je serais bien
fache d'offenser qui que ce füt, ni directement, ni indirectement.
II faut toujours laisser chacun maitre de son goüt bon ou mauvais.
le consens, et de bon coeur, qu'on bläme le mien, s'il parait futile
et roturier aux Luculus bibliomanes.
Je ne veux point aux autres refuser
La liberte dont je pretends user.
[Veniam petimus damusque vicissim. Hör.]
„le vous avertis, mon ami, que le luxe des reliures est fort
dispendieux. Loin d'exciter personne de s'y livrer, je conseille au
contraire aux amateurs de se contenter de faire brocher seulement
avec un dos de maroquin, en se servant pour cela de De Rome le
jeune, le plus eher, mais aussi le plus adroit de tous les ouvriers de
sa profession." — — —
Die Gesamtzahl der Bände, die sich vor dem Bastillensturm in
französischen Privatbibliotheken befanden, ist auf dreizehn Millionen
geschätzt worden, von denen etwa zehn Millionen in einem Jahrfünft
ihren Aufbewahrungsort in Büchersammlungen wechselten oder ganz
und gar zerstreut worden sind, in den Verwirrungen einer Zeit, in
der die Bücher auf der Straße lagen, ohne daß man Lust hatte, sie
aufzuheben. In diese Büchermassenumschichtung kam erst einige
Ordnung, als in Paris und in den Provinzen die Bibliothekenkonfis-
kationen geregelter wurden, die Bestände in Bücherspeichern ,zur
Verfügung des Volkes* gehalten wurden. Aber die Besitzergreifung
der kirchlichen Anstalts- und Klosterbibliotheken führte auch sehr
beträchtliche Büchermassen den großen öffentlichen Sammlungen
zu. Allein die etwa 80 in Paris bestehenden geistlichen Bibliotheken
enthielten über eine halbe Million Druckwerke und Handschriften.
25 von ihnen, die den Frauenorden gehörten, hatten weniger als
1000 Bände, 17 mehr als 1000, 11 mehr als 2000, 5, darunter Port-
Royal, mehr als 3000, 1 mehr als 4000, 3 mehr als 5000, 2, darunter
die der Missions Etrang^res, mehr als 7000, 5, darunter die der Nötre-
154
18. JAHRHÜNDEBT
Dame, mehr als 8000, 2 mehr als 9000, 2, die von Grand Picpus und
die der Karthäusermönche, mehr als 10000, 1, die der Cölestiner-
mönche, mehr als 13000, 1, die der Jacobins Saint- Dominique, mehr
als 14000, 1, die der Barnabitermönche, mehr als 15000, 3, die der
Carmes dechaux, der Grands-Augustins und der Minimes de la place
Royale, mehr als 18000, 1, die des CoUege-Egalite, mehr als 20000,
und 2, die von Saint-Sulpice und die der Sorbonne mehr als 28000.
Eine Statistik, die erweist, daß die Auflösung und Zusammenfassung
dieser Bibliotheken entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung des
öffentlichen Büchersammelwesens gewinnen konnte. Besonders die
Bibliotheque Nationale erwies sich als e^n vortrefflicher Zentralisator.
Die drei oder vier Millionen Bände, die noch in den Depots lagerten,
wurden mit Rücksicht auf ihre Bedürfnisse verwertet, die neu ent-
stehenden Verwaltungsbehörden fanden hier die Bestände für neue
Amtsbibliotheken. Was übrig blieb, wurde in einer Anzahl Depots-
auktionen, deren letzte 1816 stattfand, dem Schicksal alten Papieres
überlassen. Die ebenfalls in den Depots befindlichen konfiszierten
Privatbibliotheken der Emigrierten wurden, soweit sie noch vor-
handen, in den Jahren 1798 bis 1814 denen, die die Restitution aus-
drücklich forderten, zurückgegeben. Trotz alledem standen von
1792 bis 1815 die Preise des Altbüchermarktes in Paris am tiefsten,
unablässig folgten sich die planlosen, schlechtgeleiteten Versteige-
rungen. Eine solche UberfüUung des Büchermarktes konnten unter
den unsicheren Zeitumständen Bücherliebhaberei und Bücher-
sammelwesen nicht ausgleichen. Zwar waren die billigen guten
Bücher im Überfluß vorhanden, aber sie hatten keinen hohen Lieb-
haberwert; die Kontinentalsperre und die Kriege Napoleons ver-
hinderten dazu die Ausfuhr. Die Buchhändler wurden zu unfrei-
willigen Büchersammlern. Mit Napoleons Sturz begann dann der
Abfluß der angehäuften Bücherschätze ihrer Lager nach England,
und in Frankreich besann man sich wieder auf die Annehmlichkeiten
des Lebens ; die Bibliophilie erstarkte von neuem und mit ihr wuchsen
die Bibliotheken.*"
Als Napoleon den Thron der Yalois und Bourbons bestiegen
hatte, schien es ihm nötig und zweckmäßig, die alten höfischen Tra-
* Abb. 87 155
FRANKREICH
ditionen zu beleben, auch für die Büchersammlungen des kaiser-
lichen Hauses. Daß der Kaiser als Bibliophile indessen selbst seine
eigenen Wege ging, zeigte er, als er im Jahre 1808 seinem Bibliothekar
Barbier den Befehl gab, eine Reisebibliothek von 1000 Bänden für
ihn drucken zu lassen; ein Befehl, den er dann mit Rücksicht auf den
ihm gemachten hohen Kostenanschlag widerrief. Erst 1798 hatte der
General Bonaparte die Mittel, eine eigene Bibliothek begründen zu
können, die Bände aus jener Zeit trugen auf dem Rücken ein ver-
schlungenes B(onaparte) P(agerie). Der erste Konsul richtete sich
dann im Schlosse Malmaison eine Privatbibliothek von ungefähr
7000 Bänden ein, deren Bibliothekar auch die anderen napoleonischen
Privatbibliotheken in den Tuilerien, in Grand Trianon, Compiegne,
Rambouillet, St. Cloud, Fontainebleau sowie die der Kaiserinnen, die
zuzusammen etwa 100000 Bände umfaßt haben dürften, verwaltete.*
Aus ihnen gingen von Napoleon befohlene Bücher in die Hand-
bibliotheken, die ihm auf seinen Feldzügen folgten. In den letzten
Jahren seines Lebens auf Elba und St. Helena waren die Bibliotheken
Napoleons weniger glänzend, wurden aber um so eifriger benutzt.
Nach Elba sandte Barbier die Novitäten, die nach Napoleons Rück-
kehr mitgenommen und in der Tuilerienbibliothek aufgestellt
wurden; nach St. Helena hatten Napoleon ungefähr 600 Bände
aus der Trianonbibliothek begleitet. Ständige Büchersendungen aus
Europa ergänzten diesen Grundstock, die einzelnen Exemplare
trugen als Ex libris den Stempel: Napoleon from E. V. Holland by
Lord Bathursts permission. Eine Anzahl Bände dieser letzten
Napoleonischen Bibliothek, die verloren und zerstört worden ist,
brachte Napoleon IIL in die Bibliothfeque du Louvre.
Die ansehnlichste Bibliotheksgründung selbständiger Art, die,
in der Epoche des ersten Kaiserreiches entstanden, den Glanz des
zweiten vermehren half, ist mit ihm vernichtet worden: die Biblio-
thÄque du Louvre. In der Nacht vom 23. zum 24. Mai 1871 haben
die Brandstifter der Kommune, nachdem sie die Tuilerien und das
Palais Royal angezündet hatten, auch aus den 100000 Bänden in
den Büchersälen des alten Königsschlosses eine Brandstätte gemacht,
von deren einstiger Pracht nun nur die wenigen Cimelien zeugen,
156 * Abb. 92
19. JAHRHUNDERT
die, obschon der Bücherei des Louvre zugehörend, an anderer Stelle
aufbewahrt waren. Der Bibliograph Antoine Alexandre Bar-
bier [1765—1825]* ist der Schöpfer der Louvrebibliothek gewesen,
deren Entstehungsgeschichte die Entwicklung des französischen
öffentlichen Büchersammelwesens von der Revolution zur Restau-
ration erkennen läßt. 1794 war der ehemalige Geistliche nach Paris
gekommen, wo er eine Anstellung als Bibliothekar fand; seit 1798
zunächst, indem er mit Hubert Pascal Ameilhon als Mitglied der
Section de bibliographie die Ordnung und Verwertung der depo-
nierten konfiszierten Büchersammlungen leitete. Dabei bildete er
die Bibliotheque du Directoire, die nach dem 18. Brumaire
unter den Konsuln geteilt und in ihrem Überreste zum Grundstock
der Bibliotheque du Conseil d'Etat wurde, deren Katalog
Barbier 1803 in zwei Bänden herausgab. 1807 ließ der Kaiser diese
Büchersammlung nach Fontainebleau überführen und ernannte
Barbier zu seinem Bibliothekar. Als dann nach Napoleons Sturz
Barbiers bibliothekarische Vertrauensstellung bei dem Kaiser vor-
über war, setzte er sie in einer ähnlichen bei dem Könige fort. Er
erhielt den Auftrag, die Bibliotheque dite du Cabinet du Roi
aus der Büchersammlung des Staatsrates umzubilden und die ande-
ren königlichen Privatbibliotheken zu verwalten. Die Bibliotheque
du Conseil d'Etat, ursprünglich in den Tuilerien und 1807 nur teil-
weise nach Fontainebleau versetzt, gab mit ihren übriggebliebenen
Werken den Anfang der neuen Louvresammlung, dessen Fortführung
sich schnell vollzog, weil Barbier auf das von ihm 1807 angelegte
Magazin für die kaiserlichen Büchersammlungen zurückgreifen
konnte, das seinerseits wiederum die kostbare Liebhaberbücherei
eines Herrn d'Ambreville aufgenommen hatte, die dieser sich ge-
schmackvoll und kenntnisreich ohne allzu große Unkosten aus dem
Depot de la culture Sainte-Catherine ausgesucht hatte. In der
Gallerie des Louvre, der 1793 zum Museum der Nation geworden
war, fand die neue Sammlung nun ihre Aufstellung, deren Ver-
mehrung auch der Zufluß aus den sonstigen königlichen Privat-
bibliotheken regelte. Dabei entwickelte sie sich weiterhin aus einer
juristisch-historisch-politischen und militärischen Privatbibliothek
* Abb. 91 157
FRANKREICH
zu einer repräsentativen Schausammlung. Zwar hatte Barbier,
persönlicher MißheUigkeiten. mit einem Minister wegen, 1822 sein
Amt aufgeben müssen und war dadurch sogar gezwungen worden,
teilweise noch kurz vor seinem Tode die eigene ansehnliche Privat-
bibliothek zu verkaufen. Aber die Dynastie Barbier blieb und sein
Sohn Louis hat der Bibliotheque du Louvre, welchen Namen
die Sammlung unter der Regierung des Bürgerkönigs erhielt, bis
zu deren Untergange vorgestanden. Aber die Bedeutung als die
eigentliche Bücherei des Herrscherhauses behielt die Bibliotheque
du Louvre unter dem gleichen Namen auch unter Kaiser Na-
poleon in. Schon unter König Louis Philipp war sie nach einigen
Umzügen endlich im Nordflügel in den an der Wasserseite gelegenen
Räumlichkeiten untergebracht worden. Als Napoleon IIL die
Mus^es du Louvre neu ordnen ließ, wurde auch sie in diese Ordnung
einbezogen ,so daß sie schließUch mit ihren 100000 Bänden zu einer
der besten und größten öffentlichen Bibliotheken von Paris ge-
worden war.
Der repräsentativen Bedeutung der Bibliotheque du Louvre
entsprach ihre Ausstattung. Über eine prachtvolle, mit Skulpturen
von Mme Claude Vignon geschmückte Freitreppe gelangte man in
die der allgemeinen Benutzung zugänglich gemachten Lesesäle, von
denen der erste mit Brunes die neun Musen darstellenden Decken-
gemälde verziert war. Der große Saal, in drei Schiffe geteilt, wurde
im Mittelraume von zwölf großen Pfeilern getragen, während die
beiden durch eichenhölzerne Scheidewände abgeteilten Nebenräume
die Bücherwände bildeten. Seine allegorischen Deckengemälde,
von Biennoury, Theologie — Jurisprudence — Sciences et Arts —
Litterature et Poesie — Geographie et Histoire — Histoire generale
versinnbildlichend, entsprachen den der Einteilung des Bibliotheks-
kataloges. Von Denuelle stammende Medaillonbildnisse berühmter
Schriftsteller verbanden sich mit ihnen zu dem weiteren malerischen
Schmuck dieser Galerie, an die ein großer, auf die Cour Napoleon
hinausgehender Ehrensaal stieß, dessen Deckengemälde eine Wieder-
holung des von Abel de Pujol 1819 für die große von Percier und
Fontaine aufgeführte, später von Visconti niedergelegte Freitreppe
158
19. JAHRHUNDERT
des Louvre gemalten Freskos war. Über den beiden prachtvollen,
in Holzbildhauerei von Lepetre /ausgeführten Kaminen waren
Heberts Bildnisse von Napoleon I. und Napoleon III. angebracht,
die noch durch die ausführliche Beschreibung, die Th6ophile Gautier
von ihnen in seinem Salon de 1866 gab, berühmt sind.
Die Bestände der Louvrebibliothek hatten einen hohen biblio-
graphischen und historischen Wert. In ihnen waren nicht allein die
militärischen [Sammlungen Napoleons I. und III. zusammen-
gekommen, dazu nicht wenige Einzelstücke ersten Ranges, die
griechischen und römischen Klassikereditionen aus dem Besitze
König Ludwigs XVIII. und ähnliche Ergänzungen einer fürstlichen
Hausbibliothek, sondern auch berühmte Liebhaberbüchereien. Vor
allem die 1826 von König Karl X. angekaufte Petrarca-Sonder-
sammlung des Professors Antonio Marsand aus Padua mit ihren
800 Werken und die von Motteley 1856 Kaiser Napoleon III.
hinterlassene Kollektion, eine Bibliophilenbibliothek, die für die
Bücherliebhaberei Frankreichs in der ersten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts kennzeichnend war.
Ein Vermittler vielseitiger Art des Buches und der Bücherlieb*
haberei zwischen der Bibliophilengeneration, die die Revolution ver-
nichtet hatte, und deren Bibliothekenruinen und den in der Restau-
rationsepoche wieder zu einem ruhigeren Sammeln sich gewöhnenden
Buchfreunden ist Antoine-Augustin Renouard [1765—1853]*
gewesen. Liebhaberausgaben veranstaltend, mehr zu eigenem Ver-
gnügen als des geschäftlichen Nutzens wegen, wurde er ein erfolg-
reicher Verleger; seine Privatbibliothek vermehrend, die er mit dem
ersten ihm von seinem Vater geschenkten Thaler 1778 gegründet
hatte, für^den er einen Horaz erwerben konnte, eine Zeitlang zum
Altbuchhändler europäischen Rufes; als Bücherforscher und Bücher-
herausgeber erwarb er sich nicht geringe Verdienste; die Buchkunst
hat er kräftig gefördert und in seiner eigenen Sammlung der Aus-
stattung seiner livres ä figures viel Sorgfalt zugewendet. Wie er zum
Buchmann wurde, hat A. A. Renouard selbst [1796, in einem seiner
hübschen kleinen Verlagsverzeichnisse] geschildert: ,,D*une pro-
fession tout-ä-fait etrangfere aux lettres, fabriquant de gazes, de ces
* Abb. 90 159
FRANKREICH
riens elegans qui servent ä la parure des femmes, et dont beaucoup
d'hommes s'occupent avec une attention souvent plus suivie que
Celle qu'obtient T^tude de la morale et des sciences^ je me suis livre
a un genre de travail qui semble bien peu comparable avec les occu-
pations d'un manufacturier. Pendant la d^plorable inertie oü les
circonstances politiques avoient jette mon commerce, je me suis
refugie chez les Muses, et ce qui avant 1792 faisoit seulement l'amuse-
ment de mes loisirs, a, pendant ces dernieres annees, fait mon occu-
pation presque entiere. Passionne pour Tart de la typographie,
je n'ai pas pense qu'il me füt süffisant de rassembler aupr^s de
moi les chefs d'oeuvre des plus habiles imprimeurs; j'ai voulu aussi
contribuer ä les multiplier. Dans les imprimeries les plus celebres
de la France et de T Italic, j'ai fait reimprimer un certain nombre
d'excellents ouvrages latins et francais: depenses, soins assidus,
rien n'a ete epargne pour donner k ces editions toute la perfection
qui a dependu de moi. le me suis surtout applique a ce qu'elles ne
fussent point de simples et inutiles reimpressions. Tai cherche a les
rendre autant que possible recommandables aux litterateurs, et ä
leur donner, pour ainsi dire, un caractere qui leur füt propre, soit
par quelque addition inedite, ou par la vie de Tauteur, ou par une
coUation plus scrupuleuse et une meilleure distrubition des pieces
qui les composoient, ou par une notice litteraire des precedentes
editions du meme livre, etc. Si je n'avois en vue qu'une speculation
utile a mes interets, si j'avois entrepris ces impressions comme une
af faire de commerce, je devrois trouver qu'elles auroient fort mal
r6compense mes soins: mais le plaisir de me livrer ä mon goüt do-
minant est entr6 pour beaucoup dans mes calculs, et m'a fait laisser
de cöte toute autre consideration. D'ailleurs, dans ces temps de-
sastreux oü Ton imputoit egalement ä crime de parier ou de se taire,
de rester nul chez soi, ou d'avoir quelque existence politique, j'ai
regarde comme un bonheur de pouvoir me concentrer en moi-meme,
et me livrer ä des travaux assez arides, il est vrai, mais capables
d'^tourdir mon imagination sur l'etat affreux dans lequel ou nous
forgoit de vivre. Maintenant qu'il est permis d'esperer un avenir
moins malheureux, et que les liaisons commerciales commencent ä se
160
19. JAHRHUNDERT
retablir, je sacrifie mes goüts ä mes devoirs, j'abandonne les travaux
d'editeur, pour reprendre la profession dans laquelle j'ai ete eleve, pour
redevenir fabriquant de gazes; et au moment ou je cesse de faire
imprimer, je crois devoir joindre ä mes dernieres editions une notice
exacte de toutes celles que j'ai publiees . . . Lorsque, dans un age
plus avance, je pourrai revenir ä des occupations conformes ä mes
inclinations les plus cheres, je ferai imprimer [ces editions en pre-
paration]".
Das Buch ließ den Gazefabrikanten Renouard nicht mehr frei,
in seinem Dienste stand auch das ihm noch gegönnte Halbjahr-
hundert seines erfolgreichen Lebens; als er starb, hinterließ er eine
der bedeutendsten französischen Liebhaberbüchereien des neun-
zehnten Jahrhunderts.
Bereits 1788 konnte er dank der bald erworbenen Bücher-
kenntnisse auf der Vente Soubise viele Werke aus der Bibliothek
de Thous in seinen Besitz bringen und auch in den stürmischen Re-
volutionsjahren wußte er die damals besonders zahlreichen Gelegen-
heiten zum billigen Büchererwerb zu nützen, mit steter Rücksicht
auf seine bibliographischen Untersuchungen an einer möglichst
vollständigen Reihe der Aldus- und Stephanusdrucke sammelnd.
So kaufte er die Aldinen der Bücherei Lomenie-Brienne, die der
Pariser Altbuchhändler und Verleger G. C. Molini, ebenfalls ein
tüchtiger Bücherkenner, erworben hatte, von diesem en bloc, er-
setzte aber später die vielen minderwertigen Exemplare, die sich
unter ihnen fanden, durch schönere. Von dem Straßburger Philo-
logen R. F. Ph. Brunck [1729—1803] erwarb er den ihm angebote-
nen besten Teil einer schönen Liebhaberbücherei zusammen mit der
de Lunas, wobei er Gelegenheit hatte, den Bibliophilenspekulanten,
als den sich Brunck erwies, gründlich kennen zu lernen. Ausgedehnte
Reisen Renouards und seiner Söhne, vielfache geschäftliche Be-
ziehungen, vor allem auch der eigene Altbuchhandel, der ihm den
steten Austausch schlechterer Stücke gegen bessere bequem machte,
waren den Teilen seiner Bücherei, die die bis zur Mitte des 18. Jahr-
hunderts erschienenen Werke umfaßten, zugute gekommen, die
Beziehungen des Verlegers den neueren Büchern, über die Ergeb-
BOQENG 11 161
i
FRANKREICH
nisse seiner Sammeltätigkeit erstattete der ^^Catalogue de la biblio-
thöque d'un Amateur. Avec notes bibliographiques, critiques et
litt^raires. Paris: 1819." IV. einen Bericht, der von F. A. Ebert
[Hermes V, 130 ff.] mit Recht als ein für späte Zeiten noch inter-
essantes Aktenstück zur Geschichte der französischen Bibliophilie
bezeichnet worden ist. Nachdem Renouard 1824 seine geschäft-
lichen Unternehmungen den jüngeren Händen seiner Söhne anver-
traut und sich auf seinen Landsitz, die alte Abtei St. Yalery-sur-
Somme, zurückgezogen hatte, begann er, seine umfangreiche
Bücherei allmählich zu verkleinern: die Aldinen wurden in London
versteigert, anderes verkaufte er „ä Tamiable" und in einigen Pariser
Auktionen, wie er schon 1804, 1808, 1811 größere, ihm überflüssige
Teile seiner Bücherei verauktioniert hatte, um Raum zu schaffen
und seine Dubletten zu verwerten. Die so getroffene Auswahl, die
er noch durch manche wertvolle Erwerbung ergänzte, wurde im
November und Dezember 1854 in der berühmten Vente Renouard
zu Paris dem Büchermarkt überlassen; sie enthielt immerhin noch
3700 Nummern.
Ein Menschenalter vorher waren in Paris die Cimelien der Biblio-
thek Macarthy-Reagh unter den Hammer gekommen, aber damals
hatte diese Auktion, die um 1860 die glänzendste französische
Büchereiversteigerung des neunzehnten Jahrhunderts hätte werden
können, nur eine verhältnismäßig geringe Beachtung gefunden.
Allerdings entbehrte diese Bibliophilen-Schatzkammer, ein Ex-
trakt aus rund neunzig Liebhaberbüchereien, einer gewissen
inneren Gleichmäßigkeit. Überreich an typographischen Kostbar-
keiten, wie den frühesten Wiegendrucken, und an prachtvollen
Pergamentdrucken [602 Werke in 826 Bänden], fehlten ihr nach dem
Urteile Renouards einige tausend wirklich nützliche Bände, die Aus-
gaben neuerer Schriftsteller und andere Bücher, die zum Lesen dienen
konnten, um nicht bloß eine Schausammlung, sondern auch eine
benutzbare Bücherei zu sein.
Comte Mac [C]arthy-Reagh [1744—1811], der in Tou-
louse starb, hatte sein ganzes Leben der Schöpfung einer Privat-
bibliothek gewidmet, als deren Grundstock er 1769 die [bereits
162
19. J AHRH UNDEET
erwähnte] zweite Büchersammlung Girardot de Prefonds erworben
hatte. Schon elf Jahre später machten die zahlreichen Vermehrungen
seiner Bücherei eine Dublettenversteigerung nötig, die im Januar
1780 stattfand. Nach dem Tode des Grafen bot der Herzog von
Devonshire vergeblich 20000 Pfund Sterling für den Ankauf der
Bibliothek en bloc, indessen ergab auch die Auktion, die in den
Jahren 1815 bis 1817 stattfand, [mit Ausschluß der zurückerstande-
nen und anderweit ausgebotenen Bücher] nur 407746 Fr. 50 c;
immerhin der bedeutendste Erlös aus einer französischen Lieb-
haberbüchereiversteigerung des neunzehnten Jahrhunderts bis zum
Jahre 1867.
Die Auflösung der Macarthy-Reagh-Sammlung fiel in eine Zeit,
in der die Bibliophilien sich mühten, einen Ausgleich zwischen
Gegenwart und Vergangenheit zu finden, die gewaltsame Trennung
zweier Epochen zu überbrücken, weil sie weder ihre eigene Gegenwart
leugnen noch die Vergangenheit verschweigen wollten; in eine Zeit,
die wieder einen in ihren Anschauungen begründeten Bibliotheken-
stil brauchte und ihn historisierend suchte. Das Bibliophilen-
interesse am achtzehnten Jahrhundert wandte sich vorerst den Doku-
menten seines blutigen Endes, der Revolution, zu. Unter manchen
anderen Büchereien dieser Art war die Bibliothöque Bedoyere die
hervorragendste. Allerdings wurde der gelehrte und strenge Aristo-
krat, der Noel-FranQois-Henri Huchet Comte de La Be-
doydre [1782 — 1861]* war, durch seine literarischen Studien und
Veröffentlichungen zunächst dazu geführt, den Plan einer Bücherei
zu entwerfen, die die besten V^erke der Geschichte und des Schrift-
tums aller Völker und aller Zeiten enthalten sollte. Schon um 1810
auf den Ventes Caillard, Didot und d'Ourches machte er diesem Plane
entsprechende bedeutende Erwerbungen, wobei er auf die Auswahl
der einzelnen Exemplare alle Rücksichten nahm, die ein amateur
impeccable nur nehmen kann. Seit 1814 in den Gardes du corps hatte
er 1826 an dem Feldzuge in Spanien teilgenommen; die Revolution
von 1830 veranlaßte ihn, als Oberst aus dem Dienste zu scheiden.
Die politischen Ereignisse jener Jahre verstimmten ihn dann 90,
daß er mit aller Lebenslust auch seine Sammlerpassion verlor:
n* * Abb. 93 163
FRANKBEICH
1837 ließ er seine Bibliothek versteigern. Aber gerade die Auktion,
die Zerstreuung der ihm lieben Bücher, erweckte aufs neue sein
bibliophiles Temperament. Schon auf der Versteigerung kaufte er
selbst die wertvollsten Stücke zurück, und nachdem sie beendet war,
suchte er mit besonderem Eifer wieder die Bände, die ihm einst
gehört hatten, um sie noch reicher mit Vignetten und Zeichnungen
zu schmücken. Indessen gründete sich der Bibliophilen - Ruhm
seiner späteren Sammlerzeit doch hauptsächlich auf die Collection
revolutionnaire. Obwohl La Bedoyere, ein gentilhomme royaliste,
bis zum letzten Atemzuge niemals die tatsächlichen Folgen dieser
Revolution anerkannt hat, machte er sich zum Aufseher eines der
größten Archive ihrer Geschichte. Schon von 1805 an hatte er ge-
legentlich revolutionäre Flugschriften und Zeitungen erworben, die
ihn als Kuriosa reizten. Aber erst nach 1830, als er den Buchhändler
France, den Vater des Dichters kennen lernte, der eine Spezialität
in dem Handel mit Schriften des Revolutionszeitalters gefunden
hatte, erweiterte La Bedoyere seine Sammlung, die zuletzt auf
rund 100000 Stück anwuchs, nachdem für sie manche ähnliche
Bibliotheken [Portier de l'Oise, Alissant de Chazet, Deschiens,
Colonel Marin] en bloc erworben waren. Da standen nun in seinem
Pariser Hause in der Rue Saint- Dominique in einem großen Saale
des Erdgeschosses, kostbar in Maroquin gebunden, in den hohen
Bücherständen aus Acajouholz mit ihrem Bronzebeschlag, deren
Gitterwerk so fein war, daß die Mücken und Schmetterlinge nicht die
Bandrücken berühren konnten, jene Drucke, die in der Revolutions-
epoche über die Straßen geflattert waren, wohlbehütet und wohl-
verschlossen, um nach des Sammlers Tode für die Bibliotheque
Imperiale angekauft und so vor dem Schicksal einer neuen Zer-
streuung bewahrt zu werden. Die anderen Bestände von La Be-
doyeres Bibliothek, eine ausgezeichnete Liebhaberbücherei für sich,
kamen 1862 zur Versteigerung.
Die Epoche der Restauration führte über Kaiserreich und Re-
volution zurück, sie sollte das ancien regime wieder anerkennen,
blieb jedoch nur der Anfang einer neuen , bürgerlichen' Epoche, in
der die Industrie die Umgestaltungen des Wirtschaftslebens vor-
164
/
19. JAHRHUNDERT
nahm und war auch die Epoche einer das , Mittelalter' neu erdichten-
den Romantik. Ihren Ausdruck fanden diese beiden Entwicklungs-
richtungen im Buchwesen. Das Buchgewerbe kam in sein Maschinen-
zeitalter und mit ihm, da jetzt seine Ideale Billigkeit^ Massenhaftig-
keity Schnelligkeit hießen, in eine Übergangszeit des Verfalls der
Buchschönheit. Der Geschmack der gotischen Mode und der keines-
wegs schon verlorene Geschmack des klassischen Stils wirkten dem
Buchgeschmack der nächsten Vergangenheit ebenfalls entgegen.
Die Bibliophilen erfreuten sich an den pieces gothiques oder ihren
Faksimilierungen und fanden in den Ecrivains des Grand siecle
die Favoritautoren, für die ebenso die Beziehungen bibliographisch-
literarhistorischer Richtung wie die der historisierend-nationalen Ten-
denzen gegeben waren und die gleichzeitig den französischen Samm-
lern als die Spitze der schönen Wissenschaften erschienen. Es war
kein Umweg, den die Buchfreunde machten, wenn sie über die Bücher-
straßen des siebzehnten Jahrhunderts in die des neunzehnten zu-
rückkehrten, die edition originale nach ihren richtigen Werten als
Sammlerstück schätzen lernten. Die Anwendung der Bezeichnung
Editio prinoeps auf die Erstdrucke antiker Klassiker und das Be-
gehren dieser Erstdrucke durch die Sammler hatte eine historische
und praktische Tendenz gehabt, war Bemühung um die Antiquität
und den authentischen Kodexersatz gewesen. Als dann der Rang
einer Wissenschaft auch von der Schrifttumsgeschichte gewonnen
wurde — entscheidende Einflüsse übten hier die als Romantik be-
zeichneten literarischen Strömungen — als die Gesamtausgaben der
französischen Klassiker, sich auf die Erstausgaben aufbauend, eine
wissenschaftliche Gestaltung erfuhren, entwickelte sich auch der
Begriff der edition originale mit immer stärker werdender Bestimmt-
heit und wurde zum bibliographischen Wertmesser der Bibliophilie,
die damit dem Druckwerk als Schrifttumsträger eine selbständige
Wertung zuteil werden ließ, die ihre Sammlungsverfahren vervoll-
kommnete, den Bibliophilenbibliotheken eine wissenschaftliche
Grundlage gab. Der neue Bibliothekenstil war gefunden, er beruhte
auf der Erkenntnis, daß je näher ein Druck dem Verfasser eines
Werkes stand, desto mehr sein Wert wuchs. Sie fand Anwendung
165
FRANKREICH
auch auf die sonstigen Bucheigenschaften, auf das Verhältnis eines
Druckwerkes zu den buchgewerblichen Leistungen seiner Hersteller;
auf die geschichtlichen Überlieferungen, die für eine Ausgabe vor-
handen waren; auf die Herkunft eines Abzuges aus bestimmtem
Vorbesitz. Kurz und gut, es war eine geschichtliche Betrachtungs-
weise gewonnen worden, die, soweit sie sich auch in Kleinigkeiten
und Nebensächlichkeiten verlieren konnte, doch die Kuriosität und
die Rarität verdrängte und sich allmählich auf allen Sammlungs-*
gebieten bemerkbar machte. Einer der ersten, der nachdrücklich
auf die edition originale verwies, ist Charles Nodier gewesen. Wenn
er meinte, daß ihre vorerst noch wenig gesuchten Reihen bald die
Aufmerksamkeit der feinfühligsten Sammler auf sich lenken würde;
wenn er fragte, wer solche Ehrentitel des französischen literarischen
Ruhmes verschmähen möchte, Ausgaben, deren geringste Lesarten
den Leuten von Geschmack unschätzbar sein müßten, da dergleichen
Varianten die bemerkenswertesten Geheimnisse des künstlerischen
Schaffens enthüllten und die Entwicklung des Genies, wie es durch
die Erfahrungen des Lebens geklärt würde, anzeigten, so bemerkte er
damit, daß in eben diesen Varianten eine über ihre philologische
Ausnutzung für die Textkritik hinausreichende Bedeutung zu finden
sei, kam er aus Psychologie zu einer literaturwissenschaftlichen Ein-
schätzung der edition originale. Das war ein der Entdeckung des
Buches durch die Bibliophilie des Humanismus zu vergleichender
Fortschriftt, den die Bibliophilie der Romantik gewann.
Als der englische Bibliograph der romantischen Epoche der
Bibliophilie, Th. Fr. Dibdin, 1821 die Beschreibung seiner Bücher-
reise durch Deutschland und Frankreich herausgab, fanden ihre
französischen Übersetzungen manchen Widerspruch. Denn der
durchaus nicht überall genaue und sachverständige Reverend hat
über viele Dinge in einem sehr insularen Tone überheblich abgeurteilt,
die keineswegs so waren, wie er sie gesehen hatte. Die Buchfreunde
im Buchgewerbe und unter den Büchersammlern ließen es an ehr-
lichem und auch schon erfolgreichem Willen nicht fehlen, in der
Bibliophilie Frankreichs wieder einen bestimmten Mittelpunkt
seines Buchwesens zu finden. Vielleicht war der sonst französischer
166
19. JAHKHUNDEBT
Art wenig geläufige Zug einer literarhistorischen Internationalität
in der Ausdehnung der Bücherwahl nie so stark hervorgetreten wie
in den zwanziger bis vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts.
Zu den Männern, die auf einen solchen Weitblick stolz sein durften,
gehörte Charles Emmanuel Nodier [1780—1844]*, seit 1824
Bibliothekar und später Oberbibliothekar der Arsenalbibliothek.
Ein bibliophile lettre, der die richtigen Worte fand, um die Biblio-
philie - Romantik zu verteidigen. Wenn die Bedeutung Charles
Nodiers für das französische Schrifttum am besten dadurch gekenn-
zeichnet wird, daß man ihn einen Vorläufer und Schutzherrn der
Romantik nennt, so ist ähnlich auch seine Stellung in der Biblio*
philiegeschichte zu bestimmen. Nicht der Nodier ,de l'Acad^mie
fran^aise' ist es, dem sie ein ehrenvolles Gedenken widmet. Es ist
der Bücherforscher Nodier, der seiner Liebe zu den Büchern Worte
leihen konnte, die noch immer süß in den Ohren eines jeden wieder-
klingen, der diese Liebe teilt. Aber doch auch ein Buchkundler, der
selbst das von ihm verlangte und verteidigte für die Wissenschaft
vom Buche noch nicht leistete.
„Apres le plaisir de posseder des livres, le plaisir d'en parier'^
war der Bibliophilen- Wahlspruch von Charles Nodier, dessentwegen,
denn er handelte und — schrieb nach ihm, Nodier der Katalog-
Romantiker heißen sollte. Die Bibliographie, die für Charles Brunet
das Ergebnis langer, mühseliger und trockener Untersuchungen
wurde, nahm Nodier leichter; für ihn wurde sie ein Gegenstand, über
den sich amüsant und scharmant schreiben ließ, ohne daß gerade
seine Untersuchungen immer vorbildlich gewesen wären, obschon
ihm böse Zungen nachredeten, sie hätten wenigstens den Zweck ge-
habt, den amateur-marchand Nodier zu fördern. Wie dem auch sei,
seine bibliographischen Dissertationen und Notizen für die Biblio-
philen brachten in das Sammeln einen neuen Ton. „Si Nodier n'avait
pas cree la Bibliophilie, il Tavait, on peut le dire, invente. II Tavait
presente au monde et lui avait delivre son etat-civil. II Tavait si
bien invente qu'il en etait devenu lui-meme Tincarnation et le type.
On ne pouvait lire le mot ou l'entendre prononcer, sans imaginer
aussitöt ce personnage long et maigre, un peu voute^ (ju'pn avait
* Abb. 95 167
FRANKREICH
I
tant de fois renconträ cheminant, les mains derriere le dos, sur les
quais et dans les rues, et langant un regard oblique vers les vitrines
des libraires, ou vers les etalages des bouquinistes.'^ [Charles Asse- >
lineau.] Das Bibliophilenporträt ließ Nodier in seinen Novellen von
allen Seiten sich wiederspiegeln: da ist Theodor, der abbe Lowrich,
der reisende Büchersammler, Don Pic de Fanferluccio des Roi de i
Boheme. Die kleinen Züge zu diesen Bildnissen trug er in den zahl-
reichen Abhandlungen und Anmerkungen nach, die er dem Buche
und den Büchern widmete. Anregend mit heiterer Vielseitigkeit
auf Vorbilder und Vorbildliches weisend, warb er für Bücherlieb-
haberei, ein Missionar des guten und schönen Buches in der literarisch-
mondänen Welt von Paris. Ganz gewiß, er hat keinen bibliographi-
schen Kosmos geschrieben wie der ernsthafte Brunet. Was Nodier
deutlich machte und womit er den Geschmack der Romantik aufs
glücklichste traf, war, daß er zeigte, in der Bibliophilie vereinige sich
künstlerisches und wissenschaftliches Streben zur Bücherlust, die
Besonnenheit des Forschers und die Leidenschaft des Liebhabers,
je nach der Persönlichkeit der Bibliophilentemperamente. Buch-
pflege sei Geschmack haben; Bücher kennen und lesen sei Klugheit,
die bis zur Weisheit reiche; die Bücherei ein Vergnügen, eine Welt-
anschauung und ein Werkzeug sondergleichen. Und gerade die
Kleinigkeiten, dieses um die Bücher herumsehen, sei nicht wenig.
Denn es komme aus der Tradition und werde zur Tradition. Das
Ahnentum der Büchersammler, das sich in der Entdeckung des
Provenienzexemplares festigte, führte auf die Betrachtung des Biblio-
philen als einen Kosmopoliten aller Zeiten und Zungen. Oder doch
wenigstens auf den Badaud, der ebenso im alten Paris zu Hause war
wie im neuen und dann und wann auch die Ausflüge in entferntere
Bücherländer nicht scheute. Die Sprache, das Schrifttum, das Buch
dessen Träger, und die Geschichte der Bücher die Geschichte des
Geistes der Menschheit, oder doch mindestens die des eigenen Volkes ;
auch das waren die Weiser eines von Nodier eingeschlagenen Weges,
der zur vergleichenden Bücherkunde mit dem Ziele der edition ori-
ginale wies. Wobei dann auch die Beschäftigungen mit dem Buche,
bis es ganz und gar fertig, ein Sammlerstück war, nicht vergessen
168
19. JAHRHUNDERT
wurden. Vom Entdecken der Seltenheit beim Büchertrödler* und ihrer
Durchforschung zu Hause an bis zu der Fürsorge des Buchbinders
und Bücherwäschers, ohne die kein Einlaß unter die Erlesenheiten
eines Schrankes zu finden war, der nur Bände barg, die exemplaires
d'amateur hießen. Damit war dann der Bibliophile zum Erneuerer
eines jeden alten Buches geworden, zum Erneuerer seiner Gestalt
und seines Wesens. Begabung, Liebe, Wissen machen den Biblio-
philen aus, das war die Anschauung Nodiers, der als der Entdecker
eines besonderen Bibliophilentalentes gelten kann, das sich in der
selbstschöpferischen Tätigkeit des Buchfreundes äußert, als welche
nicht bloß die Sammlung, die sich jedes einzelne Sammlungsstück
gewinnt. Niemand hatte noch so fein wie Nodier die Einbandlieb-
haberei zu entschuldigen und zu erklären verstanden, diese Lieb-
haberei, die ebenso in der Anerkennung des alten Besitzes, des histo-
rischen Einbandes, wie in der des neuen, des zunächst die geschicht-
lichen Erinnerungen wieder aufnehmenden neuen Einbandes, kenn-
zeichnend für die französischen Bibliophilenbibliotheken des neun-
zehnten Jahrhunderts werden sollte. ,,Un des premiers besoins de
Thomme est d'orner ce quil aime. Quand son coeur s'ouvre aux
passions de la vie, il prodigue ä sa maitresse les fleurs et les rubans ;
quand son esprit pergoit des jouissances plus durables, il regrette
que lemaroquin, la soie et l'or nesoient pas assez riches pour decorer
les chefs d'oeuvres de ces amis immortels que l'intelligence lui a
donnes" hat Nodier einmal die Einbandfreuden umschrieben. Mit
dem Buchbinder Thouvenin, der für die gotisierenden Romantiker
in der Verzierung a la cathedrale einen freilich mißverstandenen
gotischen Stil erfand, dessen Künstlichkeit sich bald überleben
sollte, war Nodier, ihn anregend und fördernd befreundet; in dem
von ihm zusammen mit dem Antiquar Josephe Techener [1802
— 1873] 1834 begründeten ,Bulletin du Bibliophile* schuf er den
Büchersammlern eine eigene Zeitschrift. Die Bedeutung Nodiers
des Sammlers entsprach der seiner sich für das Buch und dessen
Freunde einsetzenden Tätigkeit, seiner Autorität in Buchdingen
freilich nicht. Nacheinander besaß Nodier drei Büchereien, die nicht
allzu umfangreich waren, aber nur gewählte Stücke enthielten. Und
* Abb. 99 169
FBANKBEICH
das Museum Nodier, wie der Besitzvermerk seiner Bücherei mit einer
hübschen humanistischen Wendung sich ausdrückte, ist auch kaum die
Ausgestaltung eines methodisch-systematischen Planes gewesen, erst
die Auktionskataloge dieses Klassikers der Anmerkung machten es zu
einer von persönlicher Eigenheit getragenen Einheit. Wie er es denn
auch liebte, Anmerkungen in den Bänden vorgesetzten Blättern fein^
sten Chinapapieres kalligraphisch zu notieren, Anmerkungen, die bis-
weilen mehr blendend als richtig waren. Daran mag die Selbsttäu-
schung des Enthusiasten schuld gewesen sein. Grämliche Urteilerhaben
deshalb Nodier den Vorwurf gemacht, er sei ein marchand-amateur,
der mit den Kunstfertigkeiten des Literaten seiner Buchware einen
guten Markt schaffe. Aber es ist doch wohl mehr ein äußerer Zwang
gewesen, der den armen Buchfreund, gleich seinem Gesinnungsgenossen
Viollet-le-Duc,* zwang, sich von seinen Lieblingen zu trennen.
Die Ahnung einer Bücherdämmerung, die in der zweiten Hälfte
des neunzehnten Jahrhunderts den Altbüchermarkt und die Bücher-
sammlungen veränderte, ließ Nodier den Amateur de livres 1842
[in dem Curmerschen Sammelwerke ,Les FranQais peints par eux-
memes'] zeichnen: „Le bibliophile de notre epoque, c'est le savant,
le litterateur, l'artiste, le petit propri6taire ä modiques ressources
ou ä fortune congrue, qui se desennuie dans le commerce des livres
peut-etre, mais innocent, console plus ou moins de la faussete de nos
autres affections. Mais ce n'est pas lui qui pourra former d'impor-
tantes coUections, et trop heureux, helas ! si ses yeux mourants
s'arretent encore un moment sur la sienne; trop heureux s'il laisse
ce faible heritage ä ses enfants ! J'en connais un — et je vous dirais
son nom si je voulais — qui a passe cinquante ans de sa laborieuse
existence ä se composer une bibliotheque, et ä vendre sa bibliotheque
pour vi vre. Voila le bibliophile! et je vous notifie que c'est un des
derniers de l'espfece. Aujourd'hui l'amour de l'argent a prevalu:
les livres ne portent point d'interet." In der Bibliophilie eines juste-
milieu war die Bibliophilie der französischen Romantik zu Ende
gegangen, an ihre Stelle trat, im aufgehenden Glänze der großen
Sammlungen und — Versteigerungen, entsprechend der biblio-
graphischen Erklärung der Originalwerte, eine von dem Altbücher-
170 * Abb. 97
19. JAHRHUNDERT
markt ausgehende Beeinflussung des Büchersammelwesens : die
Bücher waren in den hohen Liebhaberwerten auch zu kaufmännisch
nachrechenbaren Zahlen geworden. Auf dem Titel des Vademekums,
das für die französischen Liebhaberbüchereien des neunzehnten
Jahrhunderts durch sein bibliographisches und bibliophiles System
maßgebend wurde, so daß sein Verfasser der geistige Vater der
klassischen Sammelrichtung dieses Jahrhunderts zu nennen ist,
steht der Buchhändler vor dem Büchersammler.
War Charles Nodier der Bannerträger der französischen biblio-
philen Romantik gewesen, dem es nicht allzu viel darauf ankam,
große Behauptungen aus kleinen Irrtümern zu machen, so wurde
der ihm gleichalterige Jacques Charles Brunet [1780—1867]*
ein bibliographischer Gesetzgeber, der aus dem Überschwang ge-
fühlsmäßiger Begeisterung die Bibliophilen zu einer methodischen
Sammelsicherheit weiterführte. Ein Bekenntnisbuch hat er der
französischen Bibliophilie seiner Epoche in seinem Hauptwerke, dem
, Manuel du Libraire et de l'Amateur de Livres' hinterlassen, von dem
er [in einem Briefe vom 27. April 1860 an Baron de Reiffenberg, den
Herausgeber des ,Bulletin du Bibliophile beige*] mit Recht sagen
durfte, es sei ,un livre qui depuis cinquante ans n'a cessede jouirdela
faveur des bibliophiles et de l'estime des bibliographes". Als Biblio-
graph hatte Brunet, in der Buchhandlung seines Vaters tätig, schon
durch kleine Probestücke seine ausgedehnte Bücherkenntnis ge-
zeigt, als er 1810 zum erstenmal in drei Bänden sein Handbuch her-
ausgab, dessen stete Verbesserung bis zu der 1860 bis 1865 in sechs
Bänden veröffentlichten fünften Auflage seine Lebensarbeit
wurde. Brunet hatte rasch die Reife des Urteils gefunden, um die
Fehler seines Vorbildes, der , Bibliographie instructive* [die es aber
nach einem Bonmot des abb6 Rive sehr wenig ist] von F. G. de
Bure [1732 — 1782] zu erkennen und zu vermeiden. Seine Verdienste
schmälert es nicht, daß nach einem Jahrhundert sein veraltendes
Werk allmählich überholt worden ist. Denn sie liegen in der Begrün-
dung einer angewandten Bücherkunde im Sinne F. A. Eberts; in
der Ausbildung bibliographischer exakter Methoden, die für immer
die allgemeinen Behauptungen durch Einzeluntersuchungen und
* Abb. 96 171
FRANKREICH
Feststellungen der bibliographischen Tatsachen ersetzten; die von
dem Einzelfall ausgingen, von der Autopsie der beschriebenen
Exemplare und nicht von vorgefaßten Meinungen. De Bure, „le
gros Guillaume'', hatte sein Nachschlagewerk dem Büchersammler
Gaignat gewidmet und dieser hatte die Widmung durch eine Pracht-
kutsche mit zwei schönen Pferden vergolten. Brunet hat seine ent-
sagungsvolle Arbeit Bücher sammelnd sich selbst gelohnt, indem er
deren Ergebnisse für seine kostbare Liebhaberbücherei verwertete.
Ein feines Gefühl für das Echte, verbunden mit der Sicherheit, die
Kenntnisse verleihen, machten ihn zum Entdecker malichen neuen
Sammlergutes. Er fand geschätzte Provenienzen, er erklärte die
Gründe für die Einschätzung der editions originales [die er in die
vierte Auflage seines Manuel aufnahm]. Derart gelang es ihm, mit
verhältnismäßig bescheidenen Mitteln sich eine Privatbibliothek zu
erwerben, deren Versteigerung im Jahre 1868 ein Aufsehen erregen-
des Ereignis wurde.
Am 1. Januar 1820 wurde die Societä des Bibliophiles
FranQois von acht bekannten Buchfreunden, den Herren Marquis
de Chäteaugiron, de Pixerecourt, Baron Walkenaer, de
Malartie , Durand de Langon, Berard, Vicomte de Morel
de Vinde, Comte Edouard de Chabrol gegründet. Von
Anfang an war Rene-Charles Guilbert de Pixerecourt [1772
— 1844]*, der Shakespeare der Vorstadtbühnen, ein beliebter Theater-
dichter und Theaterleiter, die Seele dieser ersten französischen
Büchersammlergesellschaft gewesen, bis Krankheit — er erblindete
am Ende seines Lebens — und mißliche Vermögensverhältnisse ihn
aus der Bücherwelt sich zurückziehen ließen. Seine Bücherei mußte
er im Januar 1839 von dem Buchhändler J. Crozet, dem Schwager
Techeners, versteigern lassen. Die Auktion, die erste von Crozet
geleitete, brachte die damals noch hoch scheinende Summe von
82000 Francs. [Einschließlich einiger unter der Hand verkaufter
besonders wertvoller Werke.] Damals erwarb die in einhundert
Cartonniers eingeordnete CoUection revolutionnaire, eine Flug-
schriftensammlung ersten Ranges, die Bibliotheque de la Chambre
des Pairs [die spätere Bibliotheque du Senat] für 5000 Francs, wäh-
172 * Abb. 94
19. JAHRHUNDERT
rend die Bibliotheque du Louvre eine Reihe von 400 in der Revo-
lutionsepoche erschienenen Theaterstücken kaufte, die mit ihr ver-
nichtet worden ist. Manche Bibliophilenmode hatte Pixerecourt
ihre beispielgebende Erneuerung und Umbildung zu verdanken; er
war der erste Biblio-Autograpophile, der Drucke durch eingefügte
Handschriften ihrer Verfasser und sonstige Urkunden dokumentierte,
eine seitdem in Frankreich beliebt gebliebene Übung, Bücher aus-
zustatten. Bei ihrer Begründung und im ersten Vierteljahrhundert
ihres Bestehens war die Societe des Bibliophiles Frangois von keinem
allzu erheblichen Einfluß auf die Bibliophilie in Paris gewesen; erst
als der Baron Pichon an ihre Spitze trat, erlangte sie als die Ver-
einigung der führenden Pariser Sammler eine lange unbestrittene
Vorrangstellung.
Baron Jerome Pichon [1812-1896]*, der schon 1846 die
kaum begonnene amtliche Laufbahn verließ, war einer jener ge-
borenen Bibliophilen, in denen die Bücherliebe und die Sammel-
leidenschaft von Jugend an mächtig und mitbestimmend für ihre
Lebensgestaltung wurden. Aber auch ein Mann, der durch ernst-
hafte Forschungen seine Liebhabereien zu umgrenzen verstand;
eine Persönlichkeit von vornehmen ausgeglichenen Wesen, die im
Bannkreise der Bücher und der Wissenschaft vom Buche nicht die
Verbindung mit den anderen Dingen dieser Welt verlor. Ein ver-
hältnismäßiger Wohlstand erlaubte es ihm, seine Neigungen zu
pflegen. Immerhin war er nicht reich genug, um überall den Wett-
bewerb mit den den Altbüchermarkt beherrschenden reichen Händ-
lern und Sammlern aufnehmen zu können, deren Beweise für einen
Liebhaberwert die runden Summen waren, die sie mühelos zahlten.
Da Baron Pichon allein mit seiner Brieftasche den Bücherschatz,
den er sich zu eigen machen wollte, nicht gewinnen konnte, ersetzte
er diesen Mangel durch andere ihn ausgleichende Vorzüge: durch
Geist und Geschmack, durch Kenntnisse und Sammlerfleiß. Damit
allmählich zu einem Amateur heranreifend, dessen Beispiel deutlich
zeigte, daß die Bibliophilie, die edle Bücherlust, zur Aneignung einer
Büchersammlung und nicht zu deren Zusammenkaufen führen muß.
Von seinem Bibliophilentemperament zeugt ein Brief, den der Greis
*Abb. loo 173
FRANKREICH
im Dezember 1892 an Georges Vicaire schrieb, einen raschen Rück-
blick auf die Anfänge seiner Bücherliebhaberei werfend: „Depuis
ma plus tendre jeunesse j'ai aime, adore les livres, et, comme tout
homme qui aime, j'ai tout aime d'eux, le fond et la forme. Plus tard,
j'ai appris a apprecier leur reliure et leur provenance. Quel charme
de tenir dans ses mains un livre elegamment imprime, revetu d'une
reliure contemporaine de son apparition, donnant la preuve par un
signe quelquonque, qu'il a appartenu ä un personnage illustre ou
sympathique, et de penser qu'en touchant ce volume qu'il a touche,
lu, aime, on entre avec lui dans une mysterieuse communion. La
premiere fois que j'ai connu l'emotion des encheres, c*est ä la vente
de La Mesangere, en 1831. Tallais atteindre mes dix-neuf ans;
j'achetai Ik pour 20 francs un süperbe exemplaire des ,Heures de
Ma?on*, de Simon Vostre. Ce n'etait pas trop mal debuter. Alors et
quelques ann^es plus tard, le goüt et le marche des livres etaient
fort diff6rents de ce qu'ils ont ete depuis. II n'y avait que peu de
gens riches s'occupant activement de livres; je citerai parmi eux
M. B6rard, le duc de Foix, M. de Soleinne, MM. Coste et Yemeniz,
a Lyon. Le duc de Rivoli et M. Cicongne paraissaient un peu plus
tard et avec quel eclat ! Le reste des acheteurs se composait de petits
amateurs ou de quelques chätelains de province consacrant seule-
ment une faible partie de leur revenu aux livres. M. Leber suivait
assidüment les ventes et faisait la patiemment son admirable coUection
en depensant relativement fort peu. Je fus traite de fou lorsqu'a
la vente Pixerecourt je payai 500 francs la ,Bible* de Vitre, de
Longepierre [depuis M. de Sauvage Ta achet^e 15000 francs] et ce
fut au milieu des eclats de rire de la salle Silvestre [je ne dis la que
l'exacte verite] que me fut adjuge, ä 95 francs, le delicieux ,Petrone'
d'Hoym, de 1677 . . . Tout ce que je recevais de mes parents, sauf
ce qüi m'etait n^cessaire pour mon entretien, passait en livres;
mais je devenais plus avide ä mesure que ma bibliotheque devenait
plus riebe. MM. Debure s'^taient mis ä ma disposition pour mes
acquisitions k la vente Richard Heber. Ils me laissaient toute la
latitude possible et jamais je n'oublierai les bons procedes de ces
excellents amis non plus que ceux de Joseph Techener pere, qui
174
19. JAHRHUNDERT
lorsque ma bourse ätait vide, attendait patiemment qu'elle füt re-
venue a un etat plus satisfaisant. II arriva cependant que depassai
les limites de mon credit. Pour acheter une ,Bible* in-folio, aux
armes d*Hoym, j*avais, pour la premiere et unique fois de ma vie,
mis ma montre et sa chatne au Mont-de-piete. Je devais 6000 francs
presque exclusivement aux libraires; il fallut Tavouer k mon p^re.
Je le fis en tremblant qu'il ne me forgät ä vendre mes chers livres;
mais si mon pere etait severe, il avait trop d'esprit et bon sens pour
ne pas apprecier les motifs de ma gene et il paya sans m'imposer
aueun sacrifice, en disant qu'il etait toujours fächeux de faire des
dettes, mais que la nature des miennes me faisait honneur. Puis
j'eus plus d'argent, je me mariai, je devins pire; mais Tamour des
livres resta le mSme et se doubla de l'amour des curiosit6s, des
medailles, de Targenterie, etc. I'achetai ma maison du quai d'Anjou,
je pourrai dire ä la risee presque universelle comme pour le ,Petrone\
Pouvait-on aller demeurer k l'Ile Saint-Louis! Et comment meubler
une pareille maison ! Mais je laissai dire et je poursuivis mon chemin.
On vient chez moi par curiosite, puis on trouva qu'apres tout on
pouvait vivre k l'Ile Saint-Louis, puis apres m'avoir blämä, on me
loua, on me vanta et . . . il y a 43 ans que j'y suis.*'
Der Ankauf eines Baudenkmals, der den mondänen Parisern selt-
sam schien, bewährte Pichon den Sammler. Denn dieses 1657 er-
baute sogenannte Hdtel Pimodan, dessen bekanntester Besitzer [seit
1682] der Duc de Lauzun gewesen ist, war eine Wohnung, die sich
besser gar nicht ein Buch- und Kunstfreund wünschen durfte, dessen
Leitspruch: ,Memor fui dierum antiquorum' hieß. Der Sammler
Pichon hatte das Haus gekauft, das ebenso mit den überlieferten
Erinnerungen der Vergangenheit wie mit den ihm noch verbliebenen,
der Fassade, dem Innenhof, den Holzschnitzereien und Wand-
gemälden, selbst ein Sammlerstück war. Und der Sammler Pichon
hat es eingerichtet. Die alterhaltene Innenausstattung gab den
Rahmen der Sammlungen, die für ein Halbjahrhundert hier vereint
werden sollten und die auch die Räume der Pariser Akademie der
Bibliophilen in dieser Zeit gewesen sind. Baron J. Pichon, der 1843
als Mitglied der Soci^te des Bibliophiles frangois aufgenommen war,
175
FRANKREICH
wurde 1844 ihr Präsident und blieb es bis 1894; von da an bis zu
seinem Tode ihr Ehrenpräsident. Der Aufschwung, die Blüte und
die Leistungen der Societe des Bibliophiles frangois sind vorwiegend
auf seine Leitung zurückzuführen, in ihr gestaltete er einen äußeren
Mittelpunkt derjenigen Bestrebungen, die die ihm gesinnungs-
verwandten Buchfreunde und Büchersammler verbanden. Das
Pariser Bibliophilenleben in der Zeit des Baron Pichon, der der
Herrschaft der Brunet-Schule, war anregend und eigenartig. Es
gab Leute, die das Sammeln als eine Art Beruf übten, jeden Tag und
überall konnte man noch Kostbarkeiten unter Trödelwaren auf-
stöbern. Baron Pichon hat eine der merkwürdigsten Epochen der
französischen Bibliophiliegeschichte durchlebt; ihre Anfänge, ihre
Höhepunkte und ihren Ausgang kennen gelernt. Als er jung war^
suchte man die aus den Wirrnissen der Revolution und der Na-
poleonischen Kriege geretteten Bibliothekentrümmer zusammen;
der im Mannesalter stehende nahm teil an der Auflösung der derart
entstandenen Liebhaberbüchereien in berühmten Versteigerungen
und mußte selbst durch eine solche wertvolle Teile der eigenen
Sammlung zerstreuen lassen; der Greis war ein emeritierter Biblio-
phile, einer der letzten Hüter der alten Mode und die Nachlaß-
versteigerungen, dis seinen Namen trugen, waren am Ende des neun-
zehnten Jahrhunderts eines der letzten , Ereignisse* des Pariser
Altbüchermarktes.
Die ,curiosite', die Mannigfaltigkeit der Sammlerneigungen, die
sich dem alten, dem schönen, dem seltenen zuwendeten, ließ den
Baron Pichon noch andere Sammlungsgebiete bestellen; den Büchern
gesellte er Griffelkunstblätter und Handschriften, Kleinkunstwerke,
Münzen, Porzellane, Silberarbeiten, ein buntes Durcheinander von
Cimelien und Studienobjekten, die er systematisch vereinte. Die
Eigenart seines Sammlertums, die einen sehr erheblichen Einfluß
auf das seitdem üblicher werdende Verfahren übte, Sammlerstücke von
geschichtlichem Wert zu beschreiben und zu bestimmen, zeigte sich
darin, daß er die Urkundentreue den Vermutungen vorzog. Er be-
herrschte die alten Inventare, Korrespondenzen, Memoiren und die
ihnen verwandten Hilfsmittel, die es ihm erlaubten, die Geschichte
176
19. JAHRHUNDERT
eines kostbaren Sammlerstückes zu schreiben; seine Vergangenheit
mit Sicherheit aufzuklären; durch persönliche Zuweisungen es ein
Dokument aus einem Monument werden zu lassen, das frühere und
gegenwärtige Besitzer zusammenschloß. Damit gab er der , Pro-
venienz*, deren Reize sein Brief an Vicaire schilderte, einen weiteren
wissenschaftlichen Sinn, zu ähnlichen Untersuchungen Anregung und
Beispiel. Selbst aber gewann er mit derartigen Feststellungen ano-
nymer Stücke häufig ein von anderen verschmähtes Wertstück und
diese Bereicherungen seines Besitzes kamen dann wieder der For-
schung zugute. Hierin, und gerade hierin, lag die Bedeutung einer
Sammeltätigkeit, die bleibend weiterwirkte, obschon ihre eigentlichen
Ergebnisse längst in den Pichon -Versteigerungen wieder zerstreut
worden sind; hierin das vorbildliche dieses Bibliophilen für die
Bibliophilie: nicht mit dem Haben von Büchern zufrieden zu sein,
sondern erst mit dem Kennen; mit dem Kennen des sich dem Leser
erschließenden Werkes, das ist selbstverständlich. Aber darüber noch
hinaus mit dem Kennen der Ausgabe, des Exemplars aus einer ge-
schichtlichen Betrachtungsweise heraus.
Aus der Einschätzung des Sammlerstückes ohne Fehl und Tadel;
des Exemplares in bester Erhaltung und womöglich in einem reich
verzierten Einbände eines berühmten Buchbinders seiner Ur-
sprungszeit, bildeten sich die Anschauungen über das Provenienz-
exemplar, die für die französische Bibliophilie des neunzehnten
Jahrhunderts kennzeichnend wurden. Eine Vereinigung vieler Vor-
züge ausgesuchter Bücher in ausgewählten Abzügen, in besonderer
Ausstattung fand man immer wieder bei den Bänden einiger alten
Bibliotheken. So kamen die Namen der Grolier, Thou, Longepierre
und anderer zu einem erneuerten Ansehen, das sie aus der Ver-
gessenheit wieder aufleben ließ. Gelehrte Untersuchungen verfolgten
die einmal aufgefundenen Spuren weiter, verflochten die Biblio-
philentraditionen der Gegenwart von neuem eng mit der Ver-
gangenheit. In diese reichten, durch ihre historischen und politi-
schen Anschauungen, auch viele der tonangebenden Sammler zurück.
Bei ihnen verband sich der Buchkultus, die Genealogie der illustre
provenance, häufig mit der betonten Verehrung des ancien regime.
BOGENO 12 177
FRANKREICH
Die Blüte der Einbandkunst in der Regierungszeit des Hauses
Valois gab solchen familiengeschichtlichen und kunstgeschichtlichen
Überzeugungen, zu denen sich bald auch diejenigen Sammler be-
kannten, denen die Nachahmung dieses feinen Tones gefiel, einen
festen Stützpunkt. Von den Anfängen kam man rasch vorwärts.
Bibliophilen waren die Könige des Hauses Bourbon nicht gewesen.
Aber doch Könige. Aus den Blättern der exemplaires de provenance
ihrer Jahrhunderte wehte die Hofluft von Versailles. Man meinte
sich den anmutigen femmes bibliophiles selbst gegenüber zu sehen,
wenn man einen Band zur Hand nahm, der ihr Bibliothekssignet
trug. Und die Bibliophilie blieb nicht ohne einen gewissen polemisch-
politischen Reliquienkult, wenn man etwa einen Band aus den Biblio-
theken Marie Antoinettes mit seinem Goldgewichte aufwog, den die
Königin selbst vielleicht nie betrachtet hatte, der ein Buch ohne
sonstige Vorzüge umschloß. Illusionen, denen ein sentimentales
Interesse zugrunde lag. Indessen, Illusionen, die nicht an Biblio-
philen zu tadeln sind, die in der Phantasie das glücklichste Mittel
sahen zur Belebung einer bibliographischen Datendürre; zur Er-
heiterung trockener Wissenschaftliohkeit.*
Um 1850 war das Büchersammeln in Paris eine noble Passion
gleich anderen noblen Passionen, die ein reicher und vornehmer
Weltmann haben konnte. Der Amateur, der sich als Bibliophile aus-
zuzeichnen wünschte, durfte und mußte Ansprüche an das Buch
stellen, das in die Reihen seiner Sammlung treten sollte. Die ele-
gante Beschäftigung des Bücherkaufens verlangte eine Tagesein-
teilung, durch die man sich im engeren Kreise immer wieder zu-
sammenfand. Geld und Zeit waren für den Bibliophilen von Rang
und Ruf eine selbstverständliche Voraussetzung. Es war ein edler
Sport, den man, alle seine kleinen Konvenienzen beachtend und nuan-
cierend, trieb, ohne daß bereits die geschäftliche Nüchternheit, die
Macht der runden Summen endgültig entscheidenden Einfluß ge-
wonnen hatte. Noch gab es begehrenswerte Stücke in reicher Zahl,
noch brauchte man die Phantasie im Sammlerleben nicht zu ent-
behren. Damals fanden die Versteigerungen des Abends in der
salle Silvestre der rue des Bons-Enfants statt. Hier saßen in den
178 * Abb. 49, 50, 51» 84,98
19. JAHRHUNDERT
ersten Reihen die führenden Sammler, die Majores, wie man sie
nannte, als seit 1852 die Ereignisse des auf dem französischen Alt-
büchermarkt Epoche machenden Auktionen sich rasch folgten: der
Comte de Ligner oll es, den von ihm beauftragten, für ihn bieten-
den Buchhändler durch unmerkliche Zeichen Weisungen gebend;
G. de Villeneuve, das Monokel im Auge, gelassen ein erlesenes
Sammlerstück erwartend, das er suchte; der Marquis de Ganay,
dessen Geschmack die historischen Wappenbände waren; der
Comte de la Beraudiere, ein gefürchteter Kenner; der Baron
de Lacarelle höflich, kalt, auch er ein Kenner; Marcelin de
Fresne und Baron Roger Portalis, beide eben in den An-
fängen ihres Sammeins. Andere bekanntere Pariser Bibliophilen
dieser Jahrzehnte, Baron Pichon, Comte de Lurde, abbe
Bossuet, Comte Octave de Behague, Baron L. Double,
Edouard Bocher, Ambroise-Firmin Didot, Lebeuf de
Montgermont, Eugene Dutuit aus Ronen, Ernest Odiot,
Baron James de Rothschild erschienen meist nicht selbst
auf dem Schauplatz ihrer Siege, sondern ließen sich vertreten.
Für sie traten die fashionablen Altbuchhändler ein, die La bitte,
France, Claudin, Durand jeune, die beiden Tross, Saint-
Denis, Mallet, Aubry, Bachelin-Deflorenne, Gouin,
Baillieu, Rouquette, Caen, Pillet, Henaux, Porquet,
Miard, Techener, Fontaine. Als Expert leitete Potier die
Versteigerungen des zweiten Kaiserreiches, die vor diesem Parkett
stattfanden. Es waren die Ventes de Bure,* Renouard, Giraud,
Comte de la B6doyere, Prince Radzi will, van der Helle, denen
von 1861 bis 1870, in dem jetzt mondäner werdenden Hotel Drouot*
die Ventes Baron Double, Yemeniz, Brunet, Baron Pichon,
und des Buchhändlers Potier sich anschlössen, die die neuen auf-
schnellenden Preise, den neuen Sammlergeschmack festigten. Die
Buchbinder in der Mode, vor allen Trautz,* den 1869 das Kreuz
der Ehrenlegion auszeichnete, bewiesen Geschicklichkeit und Ge-
schmack in der Herstellung ihrer kostspieligen Liebhabereinbände,
deren Verzierungen die Einbandmuster früherer Jahrhunderte
wiederholten. Die Kriegsjahre 1870 und 1871 hatten Bücherpreise
12» * Abb. 88, 115, 116, 117 179
.1
\
FRANKREICH
und Sammlerbegeisterung nicht hemmen können. Von 1875 bis
1882 stieg das Buch der alten Bibliophilenschule immer mehr im
Preise. Dann trat ein Rückschlag ein. Teils waren die großen
Sammler unter seinen Verehrern mit der Ausgestaltung ihrer
Büchereien nahezu zum Ziel gekommen, teils ließen sich diesen gleich-
wertige neue Büchereien auch mit höchstem Aufwände nicht mehr
schaffen. Die besten Sammlerstücke waren in festen Händen; wer
jetzt wieder bei der nächsten Gelegenheit um sie werben wollte,
durfte kein Gebot mehr scheuen. Das hatte manchen jungen Samm-
ler schon von den noch bevorzugten Sammelgebieten ferngehalten.
Aber auch die Gesinnungen und Richtungen des Sammelwesens
hatten sich verändert; waren vom toten Buche, von der biblio-
graphisch-historischen Reliquie bis zum lebenskräftigen neuen ge-
langt.
Die beweisende Zahl, daß die Bücherliebhaberei und die Lieb-
haberbüchereien in Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts
wieder auf die Höhe des achtzehnten Jahrhunderts angelangt waren,
lieferte 1867 die Vente Yemeniz. N. Yemeniz, ein in Konstanti-
nopel geborener Grieche, der 1799 nach Lyon gekommen und hier
ein erfolgreicher Seidenindustrieller geworden war, hatte seit etwa
1800 gesammelt; dabei seine bibliographisch-literarischen Studien,
deren Ergebnisse er in einor Anzahl von ihm geleiteter oder heraus-
gegebener Veröffentlichungen vorlegte, nicht vernachlässigend.
Seine Absicht war nicht auf eine Auswahl von Schaustücken ge-
richtet geblieben, so ^viele Kostbarkeiten und Seltenheiten er auch
in seinen Schränken vereinen konnte. Er bemühte sich, eine ab-
gerundete Büchersammlung zusammenzubringen; in Anpassung an
das von Brunet aufgestellte Bibliothekssystem, das wenigstens den
äußerlich gleichbleibenden Rahmen für die Kataloge französischer
Privatbibliotheken schuf, indem sich bequem größere. und kleinere
Büchermassen verteilen ließen; ein Vorzug, der diesen Bibliotheken
heute noch auch eine gewisse innere Verwandtschaft gibt. Tief er-
schüttert von dem [1860 erfolgten] Tode seiner Frau verlor Yemeniz
alle Bücherlust, er schloß sein Bücherzimmer, um es fortan zu meiden,
und hatte schon lange von seinen Büchern Abschied genommen,
180
19. JAHRHUNDERT
als er sich endgültig von ihnen trennte. Das Ergebnis der Bücherei-
versteigerung Yemeniz, 725000 Francs, ist erst zehn Jahre später
von dem Gesamterlöse der Ventes Didot übertroffen worden.
Der Familie Didot, die sich seit 1713, in welchem Jahre der
spätere Verleger des Abbe Prevost, Frangois Didot [1689—1759],
in die Gilde der Pariser Buchhändler aufgenommen wurde, um die
Förderung des französischen Buchhandels und der Buchdruckerkunst
die vielfachsten Verdienste erwarb, gehören zwei berühmte Biblio-
philen an. Pierre Didot [1764 — 1836], der sich um die Ver-
besserung der Stereotypie mit Erfolg bemühte und damit für die
Herstellung guter, billiger Bücher ein wichtiges Hilfsmittel gab,
hat eine schöne Liebhaberbücherei besessen, deren Grundstock die
von ihm en bloc erworbene Büchersammlung Naigeons bildete,
und die er bis 1810 vermehrte, dann aber auflöste, da ihm seine ge-
schäftliche Tätigkeit ihre Nutzung nicht erlaubte. Die bedeutendste
Büchersammlung aber, die jemals ein Mitglied der Familie Didot
gesammelt hat, war die vonAmbroise-Firmin Didot [1790—1877],*
der in einer großen Anzahl von wissenschaftlichen Werken seine
gelehrte Bildung bewies und, unterstützt von seinem Bibliothekar
Pawlowski und reichen Mitteln, einen überreichen Bücherschatz
erwarb, der von 1878 bis 1884 versteigert worden ist. Freilich
scheint Ambroise- Firmin Didot nicht die gleiche persönliche Teil-
nahme für seine Bücher gehabt zu haben, die ein anderer Bücher-
freund seines Kreises, dem gleich ihm nicht materielle Hindernisse
die Verwirklichung seiner bibliophilen Träume versagten, zeigte,
der Duc d'Aumale.
Doch sahen die Buchfreunde Frankreichs, unter denen viele
Royalisten nicht nur der bibliophilen, sondern auch der politischen
Gesinnung nach waren, in dem Herzog mehr noch als den Besitzer
einer berühmten Liebhaberbücherei, wenn sie ihn den ersten der
ihren nannten. In seiner liebenswürdigen Persönlichkeit verkörperte
sich eine historische Tradition, die der gegen ihn geführte Kampf
der Machthaber noch mehr verstärken mußte. Henri-Eugene-
Philippe-Louis d'Orleans, duc d'Aumale [1822-1897]* von
1839 bis 1848 im französischen Heeresdienste, meist in Nordafrika,
*.Abb. loi, I02 181
}
FRANKREICH
von 1848 bis 1870 in England im Exil, dann seit 1871 in Frankreich,
mit einer nochmaligen Exilierung von 1866 bis 1889, hatte auf dem
englischen Landsitze seiner Familie, Twickenham, lebend, die ihm
auferlegte Muße dazu benutzt, sich in an die Überlieferungen seines
Hauses anknüpfende geschichtliche Untersuchungen zu vertiefen
und seine ähnlich historisierend orientierten Sammlungen zu ver-
mehren. Unter diesen stand ihm die Bibliothek am nächsten, der
er 1861 mit dem Erwerb der Bücherei Armand Cigongnes [für
375000 Francs] eine Liebhaberbüoherei ersten Ranges einverleibt
hatte und die er ähnlich bedachtsam wie freigebig, unermüdlich in
Einzelerwerbungen, vermehrte. In Chantilly, dem Schlosse des
großen Conde, dessen Familiengeschichte der Herzog geschrieben
hat, blieb sie auch nach seinem Tode erhalten; er hatte sie mit samt
den anderen Sammlungen und dem Schlosse selbst dem Institut de
France vermacht.
Von den ihr ähnlichen Liebhaberbüchereien ließ sich der Chan-
tillysammlung an Umfang nur die Bibliothek vergleichen, die
Raoul-Leonor L'homme-Dieu du Tranchant comte de
Lignerolles [1816—1893]* in einem langen Leben, das er ganz
und gar ihr gewidmet hatte, errichtete. 1840 auditeur im Conseil
d'£tat geworden, wo Baron J. Pichon sein Amtsgenosse ihn in den
Kreis der Soci6te des Bibliophiles Frangois einführte, schied er,
streng royalistisch' gesinnt, 1848 aus dem diplomatischen Dienst.
Anders als die meisten seiner Mitsammler zog er sich mehr und mehr
aus dem geselligen Verkehr zurück und vermied schließlich sogar das
laute Treiben der Versteigerungen; unaufhörlich mit der Bereicherung
seines Bücherschatzes beschäftigt, sammelnd und weitersammelnd.
Allein in dem Bemühen um seine Bücher fand er Genügen und
Glück, über ihnen vergaß er Essen und Trinken, man sah ihn oft
statt der Mittagsmahlzeit eine beim nächsten Bäcker gekaufte
Semmel verzehren, um sich nicht in den Gängen zwischen seinem
Buchbinder Trautz und den Buchhändlern seiner Wahl aufzuhalten.
Dabei ließ er es auch sonst an manchen bibliomanischen Sonderbar-
keiten nicht fehlen, wenn er bei den Vorbesichtigungen mit einem
mitgebrachten Papiermaß die Randgrößen verglich; wenn er stun-
182 * ^^' '^^
f
19. JAHRHUNDEET
denlang in seinen Büchersälen saß, um mit einer Federpose alte
Bände zu reinigen; wenn er seinen Besitz und seine Erwerbungen
standhaft verleugnete. Trotzdem sich ihm die Dubletten zu den
Dubletten häuften. Denn bei seinem Streben, durch bessere die
schlechteren Exemplare zu ersetzen, entschloß der Comte de Ligne-
roiles sich nicht, wie die anderen Bibliophilen, eine Dublette mit der *
nächsten sich bietenden Gelegenheit günstig zu verwerten. Und
seine Abneigung gegen das neunzehnte Jahrhundert ging soweit,
daß er das eine oder das andere Hauptstück zwar kaufte, es dann
aber unberührt in seiner Verpackung jahrzehntelang liegen ließ.
Aber dergleichen Eigentümlichkeiten verband sich doch auch ein
kenntnisreiches und zielsicheres Sammeln, das sich nicht auf die
gerade in der höchsten Gunst stehenden Ausgaben beschränkte,
sondern mit bibliographischer Kritik Ausgabenreihen aufstellte, die
Nebenwerke nicht verschmähte, außer den editions originales auch
die geschichtlich sonst bemerkenswerten Bücher ihrer Zeit aufsuchte.
In der Fürsorge selbst für diese Werke geringeren Liebhaberwertes
ging er weit; an dreitausend kostspielige Bände hat ihm die Werk-
stätte von Trautz-Bauzonnet und von Trautz im Laufe der Jahr-
zehnte für sie liefern müssen. Der Comte de LigneroUes hatte zwei
Wohnungen in Paris, in der rue Frangois I®' und in der rue M arignan,
von denen er die eine lediglich zur Aufstellung seiner Bibliothek be-
nutzte. Ob ihm seine niemals aussetzenden Bemühungen, Bücher
zu erwerben, herzurichten und zu prüfen auch noch Zeit ließen zum
Lesen, mag zweifelhaft sein. Indessen verstand er sich, wie die Aus-
wahl, die er zu schaffen wußte, erwies, bis in alle Einzelheiten auf
die Bücher; ohne doch jemals, forschend und mitteilend, diese
Kennerschaft allgemein nutzbringend verwertet zu haben. Das
mag, zumal das Ergebnis einer solchen angestrengten Sammeltätig-
keit, die Sammlung selbst, mit ihrer Auflösung verloren ging, ihn
mehr als einen Bibliomanen denn als einen Bibliophilen erscheinen
lassen. Doch ist hier nicht zu vergessen, wie sehr gerade die Art der
Buchpflege, die der Comte de LigneroUes meisterhaft zu üben ver-
stand, ihn zu einem Bücherretter werden ließ, der viele Bücher vor
dem Verdorbenwerden und Vergessenwerden schützte, um sie der
183
FRANKREICH
Nachwelt zu überliefern. Ein bescheideneres Verdienst vielleicht,
indessen doch ein nicht zu unterschätzendes Verdienst, wenn es
guten Büchern und Werken wissenschaftlichen Wertes zugute kam.
Und dann, das Erbübel so mancher französischer Bibliophilen seit
dem achtzehnten Jahrhundert, das Spekulieren in Buchwerten,
ist ihm immer fremd gewesen; in seiner vornehmen Weise hat er
niemals an die Berechnung seiner Bibliothek, für die er ein Angebot
von zwei Millionen Francs ausgeschlagen hatte, als einer Kapitals-
anlage gedacht, als die sie schließhch auch die Vente LigneroUes
nicht zeigte. Ihr Datum [1894/95] ist das des Tiefstandes der Lieb-
haberwerte der Brunet- Schule, ihr Erlös [1136407 Francs] blieb
weit hinter dem der Didot- Versteigerung [2612743 Francs] zurück;
hinter der höchsten Summe, die die Auktion einer französischen
Privatbibliothek im neunzehnten Jahrhundert erbrachte.
Ist der Comte de LigneroUes trotz allen seines Eifers, erlesene
Sammlerstücke zu gewinnen, nach der Art seines Sammeins ein Auf-
häufer von Büchern geworden, so ist sein gleichaltriger Freund
Jean- Joseph-Sosthene baron de La Roche Lacarelle
[1816—1887]* als Auswähler der Hauptvertreter der klassischen
französischen Bibliophilie des neunzehnten Jahrhunderts. Nur Aus-
gaben, die nach dem wohlüberlegten Plan seinem Bibliothekssystem
zugehörten, wünschte er sich und diese Ausgaben in der in jeder
Beziehung vollendeten Ausstattung eines historischen Stückes ohne
Fehl und Tadel. Bereits in frühen Jahren hatte er, nach dem Muster
Nodiers, eine kleine Privatbibliothek gesammelt, die er eines schweren
Augenleidens wegen, von dem ihn die Kunst des Berliner Augen-
arztes A. V. Graefe später befreite, 1858 dem Buchhändler Potier
verkaufte. Gesundet begann er, mit allen Elementen der Sammel-
technik wohl vertraut geworden, eine neue Bücherei, Band für Band
nach den Anforderungen eines fast nicht zu befriedigenden Biblio-
philen prüfend. Nur 540 Nummern enthielten die drei Bücher-
schränke im Stil Ludwigs XVL, deren goldenen Schlüssel der alternde
Bücherfreund, den Krankheit zwang, oft fern von seiner Pariser
Bibliothek in Florenz und auf seinem Schlosse Sassangy zu leben,
stets an einer goldenen Kette mit sich trug. Aber diese 540 Nummern
184 * Abb. 104
19. JAHRHUNDERT
einer ausgewählten Bücherei, keiner Schausammlung ohne inneren
Zusammenhang, brachten 1886 bei ihrer Versteigerung rund 575000
Francs, in einem Zeitpunkt, von dem an die Herrschaft der ,histori-
schen Schule^ zu schwinden begann.
Damals, als die ,jeunes^ eben mit lautem Rufen im Streit für
das Buch ihrer Gegenwart eintraten, waren die Mehrzahl der ,vene-
rants*, als welche sie von jenen verspottet wurden, gestorben oder
müde geworden, weiter zu sammeln. Die Auflösungen bedeutender
Büchereien folgten sich rasch, ohne daß ein aufnahmebereiter
Nachwuchs sich zur Weiterführung des bisherigen systematischen
Bibliotheksideals entschlossen hätte. Seit 1888 fielen die ins Über-
maß gesteigerten Preise, die Versteigerungen de la Roche-Lacarelle,
de Fresne, Destailleur, de Mosbourg, Tandeau de Marsac und andere
Auktionen erwiesen, daß die Begeisterung für die edition originale
in ihrem klassischen Bibliophilenstil erheblich nachgelassen hatte.
Da mußte 1894 der Überreichtum der Vente Lignerolles den alten
Liebhaberwerten verhängnisvoll werden. Hier waren die bekannte-
sten Seltenheiten nicht bloß in einem, sondern in einer ganzen Anzahl
von Exemplaren vorhanden; hier stand ein abschreckender Umfang
notwendiger Vollständigkeit dieses regelrecht durchgeführten Biblio-
thekssystems vor Augen. Aber es war nur eine kurze und die letzte
Überfüllung des Marktes mit den editions originales gewesen. Ein
Menschenalter hindurch hatten die hohen Preise für sie überall, in
Paris, in der Provinz, im Auslande Exemplare entdecken und in die
hervorragenden 'Liebhaberbüchereien Jretten lassen. Die biblio-
graphische Feinarbeit, die seit Brunet und Nodier geleistet war,
hatte zu einem endgültigen Abschluß geführt; aber auch zu einem
nahezu endgültigen Abschluß der Entdeckung von Sammlerstücken,
die allmählich in die öffentlichen Bibliotheken aufgenommen, in
erheblicher Anzahl in das Ausland, insbesondere in die Vereinigten
Staaten von Amerika, gekommen waren. Der kurze scheinbare Über-
fluß konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Angebot die
Nachfrage nicht mehr befriedigte. So brachte 1900/1901 die Bücherei-
Versteigerung des Nachfolgers des Baron Pichon in der Präsident-
schaft der ,Societe des Bibliophiles Frangois*, Guyot deVilleneuve,
185
FRANKREICH
eine neue Aufwärtsbewegung. Seit 1854 hatte er, langsam und sorg-
fältig wählend, Stück nach Stück seinen Bücherreihen eingefügt,
in denen auch die Bände standen, die ihm nach seiner Heirat mit
Mlle de Montaliet durch die kleine und kostbare Bibliothek seines
Schwiegervaters zugefallen waren. Die Auflösung [1904/05] der
Bücherei des Präsidenten des Tribunal de commerce E. Daguin
[1818—1892],* die fast lückenlose Reihen der editions originales
zierten, bestätigte zwar, daß jene Ermattung der Teilnahme für die
alten französischen Klassikerausgaben nur eine vorübergehende ge-
wesen war, aber die einstige Begeisterung weckte auch sie nicht
wieder. Das von E. Picot herausgegebene Verzeichnis der berühmten
im Familienbesitz erhalten gebliebenen Rothschildbibliothek, dessen
Veröffentlichung erst vierzig Jahre nach dem Tode ihres Sammlers
beendet wurde, ist ein Ehrendenkmal der Bibliophilengeneration
des zweiten Kaiserreiches geworden; um so mehr, als die Rothschild-
bibliothek trotz allen Aufwandes eine bibliotheque de travail war,
die ihre wissenschaftlichen Zwecke nicht verleugnete, sich auch dem
Buch ohne hohen Liebhaberwert nicht verschloß, wenn es dem Bücherei-
plane nach notwendig war. Ein vielleicht selbstverständlich er-
scheinender Umstand. Immerhin, es gab gerade unter den Ci-
melienkollektionen der venerants manches Kabinett, das, so wert-
voll es auch in den Einzelheiten sich gestaltete, doch zu der Ab-
rundung einer Privatbibliothek nicht gelangt ist, weil es geringeres
Büchergut verschmähte.
Baron James de Rothschild [1844— 1881]* vereinigte in seiner
Person alle Eigenschaften, die Gladstone für den erfolgreichen
Büchersammler forderte. Obwohl von Geburt zur Mitwirkung an
der Leitung der Geschäfte des Welthauses berufen, dessen Namen
er trug, und obwohl er schon mit einundzwanzig Jahren seine ju-
ristischen Studien vollendet hatte und zur Advokatur zugelassen
wurde, fand er doch noch Zeit, sich eine sehr umfassende Kenntnis
der älteren französischen Literatur anzueignen und in mehreren
von ihm besorgten Ausgaben zu verwerten. Dieser Literatur galt
auch seine bibliophile Neigung. In einem kurzen Leben, das noch
viele andere Anforderungen an ihn stellte, blieb sie seine größte
186 * ^^' 'OS. I09
19. JAHRHUNDERT
Vorliebe, der eine der kostbarsten französischen Liebhaberbüchereien
ihre Entstehung verdankte. E. Paillet hat die herrliche Sammlung
beschrieben: ,,Zwei ernstdekorierte, mit geschmackvollen Boiserien
Louis XIV. geschmückte Salons beherbergen die Bücherschränke.
Die einen enthalten die Auslese in ihrem urpsünglichen Einbände,
die anderen sind dem großen modernen Meister Trautz geweiht,
der für seinen Mäcen wahre Wunder vollbrachte. Da gibt es reliures
jansenistes, streng wie Port Royal, ernste Hand -Vergoldungen, un-
übertreffliche Mosaiken. Mag man mich der Übertreibung beschuldi-
gen, ich behaupte, ohne Furcht widerlegt zu werden, daß eine solche
Sammlung nur an diesem Orte vereinigt werden konnte. Die alten
Einbände sind durch Erhaltung und Schönheit ihres hohen Ur-
sprunges würdig. Sie stammen aus den Büchereien der Chamillart,
Longepierre, comte d'Hoym, La Valliere, der Könige Heinrich IIL,
Ludwig XIL, Ludwig XIV., der Königin Marie Antoinette usw.,
und sie beschützen die wertvollsten Werke. Welche von diesen
soll ich aufzählen, wenn ich eine Auswahl treffen muß? Die Wahl
ist schwer, aber da ich mich entschließen soll, nenne ich zwei Perlen:
die Louise Labe von 1555 und ihre Kusine Pernette, und einen
Diamanten, den Marot von 1532. Dann die Reihe der Romane der
Table ronde, die Flugschriften zur französischen Geschichte, die
poetes troubadours und die ganze Plejade, die Urausgaben von
Corneille, Moliere und Racine, eine wundervolle Daphnis von 1718,
ein Vergil Elzevier, den verloren zu haben, ich ewig bedauern werde
[Rothschild hatte das Exemplar von Quentin-Bauchart, dieser von
Paillet erworben], endlich die hübschen Conteurs Louis XV., mit
ihren koketten Künstlern. Neben seinen Büchern bewundere ich
bei Herrn de Rothschild die schönsten Handzeichnungen von
Boucher, Moreau, Marillier, Eisen und Monnet. Dann auch die
Phalanx der Romantiker, an ihrer Spitze Lamartine, Victor Hugo,
Alfred de Musset, Theophile Gautier, Balzac . . .**
Bücher in Kunstsammlungen pflegen in deren Rahmen nur die
Rolle eines Schaustückes zu haben, die Sammlungsgebiete in ihnen
nur mit ihren Spitzen vertreten zu sein, so daß sich von einer Bücherei
im eigentlichen Sinne nicht immer sprechen läßt. Meist überwiegt
187
PRANKKEICH
das Bibeloty die dekorative Ornamentik in den prachtvollen Bücher-
schränken dieser Art von Büchersammlungen. Ein Kabinett aus-
erlesener Buchkostbarkeiten hatten von den bekannten französi-
schen Kunstsammlern des neunzehnten Jahrhunderts Leopold
Double und die Brüder Dutuit. Allerdings, Leopold Double,* der
zwar seinen Kunstbesitz bis zu seinem Tode [1880] hütete, sammelte
seine Bücher, für die er jährlich 50000 Franken ausgegeben hatte
ebenso rasch in vier Jahren wie er sich schnell von ihnen durch
eine Versteigerung im März 1863 trennte, in der 396 Nummern
340000 Francs erzielten. Die Brüder Auguste [gestorben 1902] und
Eugene [gestorben 1886] Dutuit, die ihre auf 10000000 Francs
geschätzten Sammlungen der Stadt Paris hinterließen, waren ge-
borene Sammler, die sich selbst den bescheidensten Komfort ver-
sagten, um mit reichen Mitteln, doch auch mit reichem Sammler-
glück und Sammlersinn, unterstützt von einer nicht versagenden
Kennerschaft eine Sammlung zu schaffen, in der das Buch einen
festen, aus kunstgeschichtlichen Gesichtspunkten ihm bestimmten
Platz erhielt. Die Absicht der Bibliothek Dutuit war nicht die Voll-
ständigkeit im Sinne eines bibliographischen Systems, sondern die
Vollständigkeit einer buchgeschichtlichen Reihe. Und diese Voll-
ständigkeit repräsentativer Typen hat sie erreicht. Das Kabinett,
das den bric-a-brac des bibliophile nevreux enthält und dem ama-
teur speculateur die erwünschte Deckung für seine Geschäfte gibt,
läßt sich freilich, dank dem Brunetschen Katalogisierungssystem,
so ^ verzeichnen, daß es wenigstens äußerlich das Gefüge einer
Bücherei erhält, wie denn die bekanntesten französischen Kabinette
des neunzehnten Jahrhunderts mit den echten Liebhaberbüchereien
zusammen genannt werden. Man kann sagen, daß oft nur der In-
halt eines berühmten Bücherschrankes versteigert wurde. So in
der Vente Louis-Marie-Armand Bertin [1801—1854] am 4. Mai
1854 jene 402 Nummern einer prunkvollen Sammlung, die bis dahin
den von Duponchel entworfenen Eichenschrank, dessen Bronze-
beschläge von Klagemann ziseliert waren, geschmückt hatten.
Augenblickssammler, deren Bestände ständig in ihren Vitrinen
wechselten, lassen sich die Eklektiker nennen, die immer von
188 * Abb. HO
19. JAHRHUNDERT
neuem wählten unter dem, was der Zufall ihnen gerade zutrug.
Ein Beispiel für sie ist der Marquis de Ganay, der seine Bücher in
eigener Art schätzte. Ich liebe schöne Bücher, erklärte er einmal,
ich liebe sie leidenschaftlich . . . aber nicht mehr als fünf oder sechs
auf einmal, und diese trage ich gewöhnlich mit mir herum. Nach ein
paar Monaten wird meine Liebe zu dem einen oder dem anderen
kälter, ich finde ein anderes Buch, in das ich mich verliebe, und
dieses nimmt den Platz der bisherigen Favoritin ein. Und des
Nachts bewahre ich es unter dem Kopfkissen, um es jederzeit be-
wundern zu können. Dank dieser Eigenart hinterließ dann der
Marquis de Ganay als endgültiges Ergebnis seiner Sammlertätigkeit,
er hatte vielfach seine alten Lieben billig gegen die jeweilige neue
Buchgeliebte eingetauscht, eine kleine Zahl sehr kostbarer Bände,
deren Katalog nicht mehr besagte als eine Buchhändlerpreisliste.
Die Bibliophilie-Romantik, deren Entwicklung sich in dergleichen
einseitigen Übertreibungen verlor, hatte eine sie eingrenzende Ein-
schränkung nötig. Sie fand sie in der bestimmten, die literar-
historische Betrachtungsweise des Buches verlassenden, Wendung
zum Buchkunstwerk.
Das alte Buch als solches wie ein noch greifbares Stück der Ver-
gangenheit anzusehen; es seines Alters, seiner Schicksale, seiner Vor-
besitzer wegen wie eine historische Reliquie zu verehren; durch
seinen Besitz, seinen Gebrauch Empfindungen und Erlebnisse zu
gewinnen, die von romantischer Phantasie eingegeben waren, das
alles hatte schon zu einer neuen Betrachtungsweise der Bücher, zu
einer sentimentalischen Bibliophilie geführt. Mochte ein biblio-
graphisch-objektiver Wert des altes Buches durch seine Güte, seine
Schönheit, seine Seltenheit oder sonst irgendwie schon immer be-
stimmt sein, der romantische Bibliophile, der sich diesem alten Buche
als Sammler näherte, gab ihm dazu eine eigene, subjektive Bewer-
tung, die er aus seinem Gemütsleben ableitete. Er schenkte dem
alten Buche sein Herz und verband so sein Leben mit dem des alten
Buches. Die sentimentalische Bibliophilie hatte das Buch, das
alte Buch, als einen Stimmungsträger erkannt, als einen Vermittler
geistiger Genüsse aller feinen Sinne. Damit war dann auch eine
189
FRANKREICH
Nutzanwendung für das neue Buch gegeben. Den Stimmungsgehalt,
den man in alten Büchern zu finden meinte, wollte man den neuen
Büchern verleihen. Man glaubte, bei der Herstellung von Büchern
Wirkungen berechnen zu können, die sich hier jeder genauen Be-
rechnung entziehen, weil sie nicht von den Absichten der Buchher-
steller, sondern von den Empfindungen der Buchbenutzer abhängig
sind. Und Uberfeinerung aus Schwäche, die trotz aller Reizmittel-
empfindungen schwach bleibende Genußfähigkeit, die man vor der
künstlerischen Kraft als Artistentum entschuldigen möchte, ver-
bunden mit der konventionellen Schulung des Geschmackes, die sich
ebenso sehr auf das Suchen nach möglichst differenzierten Stim-
mungen wie nach möglichst harmonischen Elementen solcher Stim-
mungen gründen wollte, gewannen Einfluß auf die neuen französischen
Bücher des neunzehnten Jahrhunderts, die als Liebhaberausgaben
erscheinen wollten: als durch das Temperament eines Bibliophilen
gesehene gute und schöne Bücher.
Vermittler zwischen der ,alten' und der ,neuen' Bibliophilen-
Generation waren die Brüder Edmond [1822—1896] und Jules
[1830 — 1870] de Goncourt,* vergleichbar ihrer literarischen Stel-
lung und ihrem Wesen nach den Brüdern Schlegel. Als Sammler-
Schriftsteller tonangebend, brachten sie manche moderne Buch-
mode zur Geltung, ohne daß doch die eleganten Kritiker eine eigene
Richtung festzulegen vermochten. Demgemäß schwankte auch das
Urteil über sie, von der Ablehnung ihrer Arbeiten durch die ihnen
Unwissenschaftlichkeit zum Vorwurf machenden Fachgelehrten bis
zu ihrer eigenen Meinung, die, ihres schriftstellerischen Wertes sich
wohlbewußt, die dünkelhafte Einseitigkeit jener mit mondänem
Witz abwehrte. Asthetizismus war ihre Weltanschauung, die des-
halb leicht wandelbar, sie zu Impressionisten machte. Das bunte
Durcheinander ihres Weltbildes spiegelte sich sogar in ihrer Woh-
nung, in deren bis in die Kleinigkeiten wohlgeordneten Stillosigkeit.
Aber wenn die Brüder sich auch dem neuen Eindruck hingaben, in der
historischen Tradition nicht deren einheitliches Bild, sondern die
Einzelheiten aufsuchten, die es bildete, so blieben sie trotzdem, dank
ihrer Anlagen, dank ihrer Selbstschulung Künstler, und zum
190 * Abb. io6, 107
I
19. JAHRHUNDERT
Künstlertum wurde ihnen auch ihr Umgang mit den Büchern. Den
Ausdruck einer Empfindung klar zu erfassen, ihn derart zu ge-
stalten, daß er zu einer graziösen Selbstverständlichkeit wurde, war
ihnen ein Bedürfnis. Das Bemühen um die Originalität hinderte sie
oft an der scharfen Scheidung des Unwichtigen von dem Wichtigen,
des Beiwerkes von seinem Gegenstande, an dem sie vielleicht weit mehr
das anekdotische, das, was sich als sein Milieu erkennen ließ, reizte,
als er selbst. So kamen die Brüder Goncourt, obschon sie als Autoren
Moderne waren, in ihrer Bibliophilie weder Historiker noch Ro-
mantiker, dazu, als Sammler die Rokokoseele wiederzufinden. Durch
Einzelforschungen peinlichster Genauigkeit, deren Ergebnisse sie
freilich in eigenwilliger Formung verlegten, erschlossen sie bei-
spielgebend ein versunkenes Buchland von neuem; warben sie durch
die Anlage und die Art ihrer Werke für die Beachtung der Buch-
kunstwerke dieses Sammelgebietes; stellten sie das livre ä figures
des achtzehnten Jahrhunderts wieder in seine Umwelt hinein, indem
sie es nicht als eine buchgewerbliche Einzelleistung, sondern als eine
Zeiterscheinung erkennen lehrten. Die Kunst- und Literatur-
psychologie, die Sozialpsychologie des achtzehnten Jahrhunderts,
für die die Brüder Goncourt Muster aufstellten, ließ erst die Ver-
bindung zwischen dem alten und neuen französischen Buche voll-
ständig wiederherstellen. Der ganze Bereich des Bild- und Buch-
druckes, der Handschriften, Urkunden und Zeichnungen aus dem
achtzehnten Jahrhundert Frankreichs blieb für die Brüder Goncourt
selbst das dokumentierende Material, das sie für ihre sittengeschicht-
lichen Werke brauchten. Alles was ihnen erreichbar wurde, sam-
melten und sichteten sie hier für ihre Zwecke. Von den billigen Flug-
schriften, die in den Bücherkästen der Quais zu finden waren bis zu
den Kupferstichprachtwerken, von den Bilderbogen bis zu den er-
lesenen Griffelkunstblättern der Rokokokünstler, von den Auto-
grammen hohen Liebhaberwertes bis zu irgendwelchen dem Alt-
papier entrissenen Aufzeichnungen. Mit einer Einschränkung freiUch.
Zwar durften sie sich einigen Aufwand gestatten und die Aufwen-
dungen, die sie für die Vorarbeiten ihrer Werke machen mußten,
überstiegen weit ihre Honorare. Aber mit den reichsten Sammlern
191
FRANKREICH
konnten sie in keinen Wettbewerb mehr treten, soweit er den Samm-
lerstücken ersten Ranges des livre a figures galt. Hier mußten sie
sich mit einem guten Durchschnitt begnügen. Denn als sie auch auf
diesem Gebiete planmäßiger zu sammeln begannen, hatte es schon
seinen fester geregelten Markt. Bevor die Kunst des achtzehnten
Jahrhunderts zu einem allgemeinen Sammlungsgegenstande wurde,
hatten sie nur Handzeichnungen und Stiche gekauft. Für das neun-
zehnte Jahrhundert änderte die Bibliothek Goncourt ihren metho-
disch-systematischen Charakter, wurde mehr wählerisch und mehr
zufällig. Nur die Balzac- und Gavarinireihen wurden für sie noch auf
Vollständigkeit hin gesucht. Sonst begnügten sich die Brüder für
die Romantik mit den Büchern, die sie fanden und die ihnen gerade
gefielen. Von 1856 bis 1870 stellten sich dann bei ihnen die Aus-
gaben ihrer literarischen Kampfgenossen in Vorzugsausgaben, in
erlesenen Widmungsexemplaren, ein, die damals noch nicht, wie es
späterhin üblich wurde, in dieser Ausstattung auch in den Handel
gegeben wurden. Der alternde Edmond hatte für die Bücher dieser
Jahre eine Vorliebe, er stattete sie mit Beilagen von Bildern und
Handschriften aus; er wählte diejenigen, die ihm als die Haupt-
werke erschienen, um sie in Pergament binden zu lassen, damit der
Deckel ein von einem berufenen Künstler ausgeführtes Autoren-
porträt trage. Solche Bände, ausgelegt in Schaukästen, bildeten ihm
einen bibliographischen Freundschaftstempel. Ähnliche Fürsorge
ließ er den eigenen und vor allem den noch gemeinsam mit seinem
Bruder unternommenen Werken angedeihen; gab ganz neue Bei-
spiele für die Ausgestaltung des Autorexemplars, für die Eleganz der
Druckvorlagen, für die Einschätzung von Korrekturbogen, Manu-
skripten, die mitgebunden wurden, Probedrucken, unterdrückten
nicht zur Veröffentlichung gekommenen Blättern und Bogen, Ein
buntes Durcheinander, das aber doch bis auf den Kunsteinband, der
es schmückte, überdacht war und nicht allein von persönlichem
Reiz, sondern auch von bibliographisch-literarhistorischem Interesse.
Ein artistischer Eklektizismus, der das psychologische Element in
der Bibliophilie kennzeichnete. Abrundend beschlossen die Bücherei
Edmonds die ihm von 1870 bis 1896 von den jungen Schriftstellern
192
19. JAHRHUNDERT
überreichten Werke mit schmeichelhaften Widmungen, eine fast
vollständige Sammlung der editions originales dieses Zeitraumes,
Die Beispiele, die für die Biblio- Ikonophilie von der Bücher-
sammlung Goncourt ausgingen, blieben vereinzelt, wofern man nicht
ihre Hinweise auf das ostasiatische Buchbild — sie enthielt eine der
ersten europäischen Sammlungen japanischer Holzschnittbücher — '
dazu rechnen will. Weit mehr wirkten die Muster, die sie für das
livre contemporain aufstellte, indem sie das exemplaire d'amateur
aus dem exemplaire d'auteur entwickelte. Die Besonderheit des
Buches in seinem Persönlichkeitsreiz zu gewinnen, ergaben sich ganz
neue Sammlungsverfahren. Biblio-biographisch, aber auch buch*
gewerblich wurde die ganze Buchgeschichte an einem erlesenen
Exemplare erläutert, aus dem livre contemporain ein livre docu-
ment6 gemacht. Die Beachtung der Bibliophiliemode verstand sich
von selbst. Die bedruckten Umschläge, die seit dem neunzehnten
Jahrhundert üblich geworden waren, durften zur Vollständigkeit
ebensowenig fehlen wie die Voranzeigen; die Erhaltung des Buches
in der Frische seines ursprünglichen Zustandes wurde zum Gesetz,
das die Einbandkunst einschränkte. Man begnügte sich mit einem
leichten Einbände; oder aber man suchte die Persönlichkeitswerte,
die Beziehungen zwischen Besitzer und Buch, durch einen Phantasie-
einband zu erhöhen, damit die Buchbinderei von der Nachahmung
nur geschichtlicher Vorbilder auf neue Wege weisend. Das ,exem-
plaire unique* war nicht mehr ein Erbe der Vergangenheit, es ließ
sich auch unter den Büchern der Gegenwart auffinden. Und die
fernere Vergangenheit trat hinter der näheren zurück. Man begann
auf die Romantiker aufmerksam zu werden; den Begriff der Edition
originale nicht allein mehr auf die Klassiker zu beschränken, sondern
ihn auch den neuen und neuesten Werken zuzugestehen. Nichts
zeigt deutlicher die Änderung in der Betrachtung des Buches, als
ein Vergleich der bibliographischen Notizen, die E. de Goncourt
und Ch. Nodier auf die Vorsatzblätter eintrugen : dieser war um die
Ausschmückung der historischen Referenz besorgt, jener um den
Beweis der Beziehungen, die das Buch zu ihm selbst hatte. Das ist
eine Auffassung, die E. de Goncourt noch in seinem Testament zum
BOOENG IS 193
FRANKREICH
Ausdruck brachte : ,,Ma volonte est, que mes dessins, mes estampes,
mes bibelots, mes livres, enfin les choses d'art qui ont fait le bonheur
de mä vie n'aient pas la froide tombe d'un musee, et le regard bete
du passant indifferent, et je demande qüelles seront toutes epar-
pillees sous les c6up de marteau du comissaire-priseur et que la
jouissance que m'a procuree Tacquisition de chacune d'elles, soit
redonnee, pour chacune d'elles, ä un heritier de mes goüts." —
Das Arbeitsgebiet und der Mitgliederkreis der ,Societe des
Bibliophiles Frangois* entbehrten nicht der Exklusivität; die Be-
schränkung auf das Buch der Vergangenheit, die Bevorzugung der
royalistischen Traditionen, gaben ihr eine gesellschaftliche Haltung,
die nach 1871 hoch schärfer hervortreten mußte. Sie war die Hoch-
burg der ,alten^ Büchersammlerschule, der gegenüber eine neue
seit den Jahren des zweiten Kaiserreiches sich durchsetzte, für die
die antiquarisch-historischen Studien hinter die bibliographischen
Zurücktraten; die, hierin noch übereinstimmend mit der alten Schule,
die 6ditions originales der grands ecrivains frangais sammelte, dann
aber den livres k figures des achtzehnten Jahrhunderts einen bevor-
zugten Platz in ihren Bibliotheken gönnte und, sich von den ,alten^
Anschauungen trennend, nun auch dem Buch des neunzehnten
Jahrhunderts Sammelwert zuerkannte, zumal in der dem Buchkunst-
werk passendsten Form der Liebhaberausgabe, deren erfolgreicher
und tatkräftiger Verkünder der Verlagsbuchhändler Leon Conquet
[1848 — 1897]* geworden war. Diese Richtungsänderungen des Sammel-
wesens setzten sich in den sechziger und siebziger Jahren des neun-
zehnten Jahrhunderts durch, indessen bereits mustergebende Samm-
lungen des neuen Stils entstanden. Eine Anzahl bedeutenderer Bücher-
freunde in Paris gehörte nicht mehr der ,Societe des Bibliophiles
Frangois' an, fand sich in der 1880 gegründeten ,Societ6 des Amis
des Livres' zusammen, deren Aufgabe die Buchkunstförderung sein
sollte; eine Abkehr von den Erinnerungen der Vergangenheit, ein Ziel
das in die Zukunft wies. Sie konnte keinen besseren Führer erwählen als
den Mann, in dessen Bibliotheksalon sich eben so gern die ,alten' wie
die , neuen' Sammler trafen; der selbst in seiner Bücherei einen glück-
lichen Ausgleich der verschiedenartigen Sammelrichtungen zeigte.
194 * Abb. 114
/
19. JAHBHUNDEBT
In den letzten Jahren des zweiten Kaiserreiches war die ele-
gante Erscheinung Eugene Paillets [1829—1901]* bei den Bächerei-
versteigerungen im H6tel Drouot und den sonstigen Gelegenheiten, die
das „Bibliophilen Tout Paris" zusammenführte, rasch in den Vorder-
grund getreten. In amtlich angesehener Stellung — er war Richter —
beliebt im gesellschaftlichen Verkehr, liebenswürdig und wohlhabend;
die besten Beziehungen zu den Bibliophilen der alten Schule unter-
haltend, folgte er dennoch keineswegs überall den von diesen ein-
geschlagenen Wegen, sondern suchte Neuland für sein Sammeln
aufzufinden, ohne sich deshalb von der historischen Tradition ganz
und gar zu trennen. Auch er begehrte das Sammlerstück im Sinne des
historischen Stils der französischen Bibliophilie, soweit er es in be-
zeichnenden Beispielen für seine Bücherei erwerben konnte. Aber da,
wo die alten Bibliophilen aufhörten, beim Buche des achtzehnten
Jahrhunderts, fing er recht eigentlich erst die eigene Sammeltätig-
keit an, mit der er, ein Neuerer oder doch ein Erneuerer, für die
Bibliophilie-Moderne vorbildlich wurde. Entschlossen ging er hier
von der Buchkunst aus, nicht vom Provenienzexemplar. Das exem-
plaire d'amateur auszustatten, so daß es die Buchkunstwerte eines
alten oder neu«n Druckwerkes in ihrer Vollendung zeigte, war sein
SammlerzieU Das exemplaire exceptionnel sich selbst zu schaffen
wie das die alten Buchfreunde getan hatten, sein erfolgreicher Ehr-
geiz. 1870 hatten durch ihre Bibliographie der am kaiserlichen
Münzkabinett angestellte Konservator Henri Cohen und der Buch-
händler A. Rouquette den ersten Versuch gemacht, dem bis dahin
geringer geschätzten französischen illustrierten Rokokobuch all-
gemeine Anerkennung zu gewinnen. Eugene Paillet erwies, welche
Werte in diesen Büchern steckten, wenn man sie nur richtig auszu-
deuten verstand. Achtsamkeit' auf die belle epreuve war eine erste
Notwendigkeit, wofern das Bild im Buch zur Geltung kommen
sollte. Sie zu erlangen, durfte man nicht mit den recht und schlecht
vorhandenen alten Exemplaren zufrieden sein, mußte man die
Probedrucke, Vorzugsausgaben, Zeichnungen zusammenstellen. Das
alles ließ sich nicht auf einmal zusammentragen, obschon damals
hierfür die Gelegenheiten noch günstig waren. Erst in jahrelangem
13» * Abb. III, 112 195
FRANKREICH
mühseligem ) planvollem Aufstöbern, Kaufen und Tauschen fand
man die Einzelteile eines Buches, wie man es sich wünschte. Auch
die geschäftliche Geschicklichkeit durfte nicht fehlen, um in dem
bald beginnenden Wettbewerb reichster Sammler standhalten zu
können. Und dann endlich blieb noch, nachdem alles beisammen
war, in bester Erhaltung und Frische beisammen war, ein Einband
zu finden, der endgültig das einzigartige Exemplar zustande brachte.
Auch darin bewährte sich Eugene Paillet als ein erfolgreicher
Neuerer. Er verschmähte es, den Einbandschmuck nach den alten
Vorbildern wiederholen zu lassen; fand, hiermit den Gegensatz
zwischen der alten bloß historisierenden und der ganz und
gar auf die Überlieferungen verzichtenden neuen Einbandkunst
überbrückend, ein Mittel, beider Bestrebungen zu vereinen^ indem er
den Mustern folgend, die die Buchkupferverzierungen selbst gaben.
Einbandentwürfe und Einbandzeichnungen herstellen ließ. Der
Bibliothöque-Salon Eugöne Paillets in seiner Pariser Wohnung in
der rue de Berlin, in dessen beiden Eichenschränken die so wieder-
gewonnenen Wunderwerke der französischen Buchkunst des acht-
zehnten Jahrhunderts standen, umgeben von den anderen Büchern
des geschmackssicheren und kenntnisreichen Mannes; der, von den
Wiegendrucken bis zu den letzten Liebhaberausgaben,« eine Band-
reihe um sich vereinte, die nicht bloß die Buchkunstentwicklung
in erlesenen Exemplaren zeigte, die ebenso nach den literarischen
Qualitäten bestimmt war; dieser Bibliothdque-Salon erwies, daß die
Buchpflege der französischen Liebhaberbücherei am Ende des neun-
zehnten Jahrhunderts die Synthese der von den Bibliophilen bisher
gemachten Anstrengungen, zum guten und schönen Buch zu kom-
men, geglückt war. [Erwies es allerdings nur an Ausnahmefällen,
deren Beispiel die Gefahr nicht vermeiden lehrte, äußere Buchwerte
mit den inneren zu verwechseln, aus denen sie hervorgingen und
solcher Art sich in der Biblio- Ikonophilie von der Beschäftigung mit
dem Buche selbst zu entfernen oder sogar im spielerischen zu ver-
lieren.] Aber es kam auch der Tag, an dem das tempus colligendi,
tempus spargendi für Eugene Paillet zu einer Wahrheit wurde. Als
die Bücherei den Rahmen, den er ihr hatte geben wollen, nahezu
196
20. JAHRHUNDEBT
ausgefüllt hatte, das Sammeln für ihn beendet war und er sich die
Frage vorlegen mußte, ob und wie er für die Erhaltung seiner kost*
baren Privatbibliothek sorgen könne, da schien ihm, einer ungewissen
Nachlaßversteigerung, mit der er rechnen mußte, die schnelle Tren-
nung in der Zeit einer günstigsten Marktlage vorzuziehen. Morgan,
ebenso schnellen Entschlusses, kaufte die Bibliothek Paillet 1887
für die damals erstaunliche Summe von 700 000 Francs. Eine merkan-
tile Spekulation, die er nicht zu bereuen brauchte, denn der Anti-
quariatskatalog, der sie mit neuen Preisen ausbot, war im Nu aus-
verkauft. Weniges hatte Eugene Paillet zurückbehalten oder zurück-
gekauft, um es für eine neue Sammlung zu verwenden, in der das
schöne Buch des neunzehnten Jahrhunderts, die Liebhaberausgabe,
die die Soci^te des Amis des Livres pflegte, den Vorrang hatte. Eine
Versteigerung löste, nach seinem Tode, seinem Wunsche gemäß, 1902
die zweite Bücherei Eugene Paillets auf. Aus der ersten hatte Henri
Beraldi nicht weniger raschen Entschlusses als sein Freund die meisten
Hauptstücke erworben, um sie der eigenen Sammlung zuzuführen,
deren halbtausend Werke in einer ständig erneuerten Auslese bester
Exemplare schon damals einen sehr hohen Stand erreicht hatte.
Henri Beraldis Bücherei, mit einer gleichfalls sehr qualitäts-
starken Griffelkunstblättersammlung verbunden, sollte die Ent-
wicklung der französischen Illustrationskunst seit dem achtzehnten
Jahrhundert zeigen. Ihre moderne Tendenz bewies sie nicht allein
in der Anlage ihres Planes, der keine Nebenwerke zuließ, dafür die
kritische Auswahl bis auf die möglichste Vollkommenheit erstreckend
[so daß sie in ihrer Art die ausgezeichnetste französische Liebhaber-
bücherei des neunzehnten Jahrhunderts wurde], sondern auch darin,
daß sie bewußt die Bibliophilie nicht zu einem bloßen Vorwande
der Ikonophilie werden ließ. Beraldi verlangte in seinen witzigen
und trotz ihres leichten Tones scharf das Wesentliche hervorheben-
den Schriften die Anerkennung des Buchkunstfreundes als eines
Sammlers selbständiger Geltung; er gewann sie für sich und die zahl-
reichen Amateure, die seitdem die moderne Richtung der fran-
zösischen Bibliophilie vertraten. Dem bibliophile lettre, mit den
bibliographischen Anschauungen der Brunet-Schule, stellte er den
197
FBANKBEICH
coUectionneur schlechthin gegenüber, dem das Bibelot, das Buch-
kunstwerk ein Sammlungsgegenstand war. Die Bächerei , ein nur
angenommenes Empfangsraum der edelste^ Geister des Schrifttums,
deren eingebildete gelehrte Leser sie im humanistischen Stil als ihren
Tempel der Weisheit rühmen, schien ihm eben so viel oder so wenig zu
bedeuten wie die ästhetische Betrachtungsweise des BuchäuBeren.
War dort der Buchgehalt in der erlesensten Textform das Biblio-
theksideal, so war hier die Buchschönheit, die ebenfalls in der Einzig-
artigkeit eines Exemplares erst vollkommen sich enthüllte, ein
anderes. Und den venerants, die allein die Vergangenheit in Ehren
hielten, die gegen ihre Gegenwart künstliche Grenzen zogen, nicht
bedenkend, daß das Buch von heute kommenden Sammler-Ge-
schlechtern ein geschichtliches Vermächtnis ihrer Vorgänger sein
werde, hielt er die Anforderungen einer besonnenen Buchpflege
entgegen. Was waren sie denn anders als die Bewahrer alter Bände
für ihre kurze Lebenszeit? Worin glichen sie den von ihnen be-
wunderten Grolier und De Thou, die Förderer des Buchwesens
ihrer Gegenwart gewesen waren? Das sollten auch die Amateure,
die Bibliophilen der Moderne werden, die der Buchware Persönlich-
keitswerte verliehen, die bleibende Sammlerstücke schufen. Henri
Beraldi hat den Bibliotheken alten Stils nicht ihr Daseinsrecht be-
stritten; er hat nicht den Übertreibungen, den Veräußerlichungen der
Luxusedition das Wort geredet, in denen die neue Richtung bald ver-
flachte, wie die alte ebenfalls, wenn ^ie ihr Begehren der Bücher in
ein Verlangen nach Katalognummern wandelte. Wenn er die avant
la-lettre- Drucke und die tirages-hors-texte pries, verhehlte er auch
seine Meinung über die Schaukastenspielereien nicht. Und doch
blieb auch er noch, blieb die Buchkunst Frankreichs im neunzehnten
und zwanzigsten Jahrhundert mit ihrer Bevorzugung des Buchbildes,
die nicht zu einer Auffassung des Buchganzen als Kunstwerk gelangen
konnte, letzten Endes im Banne der Vergangenheit; verleugnete auch
er nicht, wie die meisten modernen französischen Sammler, die Ein-
seitigkeit, die die Kraft und die Schwäche einer glänzenden Reihe
im letztverflossenen Halb Jahrhundert entstandener und vergangener
Privatbibliotheken war: ihre Beschränkung auf das französische Buch.
198
IV. SPANIEN, BELGIEN, HOLLAND
Isidorus Hispalensis [u. 560 — 636], seit 600 Bischof von
Sevilla, galt als einer der hervorragendsten Gelehrten des Mittel-
alters, der eine der ausgezeichnetsten Privatbibliotheken dieser Zeit
besaß. In fünfzehn Schränken stand sie wohlgeordnet, von denen
zwölf den Theologen, je einer den Historikern, Juristen, Medizinern
zugewiesen war. Ganz in der antiken Art war der Bilder- und Büsten-
schmuck des Sammlungsraumes gehalten. Distichen dienten einer
Epigraphik-Ornamentik. Über den Fächern der Geschichtsschrei-
bung stand zu lesen: ,,Historiam rerum et transacti tempora saecli/
Condita membranis haec simul arcagerit.*' Aber es blieb lange bei
den schönen Aufschriften der spanischen Bücherschränke und auch
die humanistische Kulturwelle, die Europa fast ein Jahrtausend später
überflutete, zerbrach an den Klostermauern der Pyrenäenhalbinsel.
Ebensowenig sollte der Gewinn, den die nahe Berührung mit der
Bibliophilie des Orients in den Jahrhunderten der muselmanischen
Herrschaft über Südspanien dessen Büchersammelwesen hätte
bringen können, nachhaltig sein. Allzu nahe bedrohten die Auto-
daf6flammen die Büchersammler und die Büchersammlungen; allzu
streng hemmten nicht die Bücherverbote selbst so sehr als die Furcht
vor der Inquisition das Sammeln. Denn man durfte nicht erfahren,
ob ein Buch, das nicht gefährlich war, seinem Eigentümer noch ge-
fährlich werden konnte; durfte nicht wissen, ob nicht der Bibelband
den, dem er nicht erlaubt schien, tötete. Die erste Bibelpolyglotte,
schon 1502, zur Feier der Geburt des nachmaligen Kaisers Karl V.,
geplant und verwirklicht zu haben ist freilich das Verdienst des
Francesco Ximenes [1436—1517]. 50000 Dukaten hatte der
Kardinal auf das Buchdenkmal verwendet, dessen erster Band, der
Erstdruck des griechischen Neuen Testamentes, am 10. Januar 1514
in der Werkstätte zu Alcalä de Henares bei Madrid, wo er 1508 die
dortige Universität gegründet hatte, fertig wurde und dessen letzter
sechster Band am 10. Juli 1517, vier Monate vor dem Tode des
Kirchenfürsten, erschienen ist. Aber wie dieser Erstdruck des griechi-
schen Neuen Testamentes dessen einzige in Spanien erschienene
199
SPANIEN
Ausgabe blieb, so trägt der asketische Großinquisitor als Biblio-
phile einen Januskopf: er, der die eigene Privatbibliothek seiner
Universität hinterließ, veranlaßte, daß die berühmte maurische
Bücherei in Cordova teilweise verbrannt wurde. An diesem einem
Beispiele läßt sich die einseitige Entwicklung des Buchwesens und
mit ihm des Büchersammelwesens in Spanien bis zum neunzehnten
Jahrhundert ermessen, die auch auf die Bibliotheken des Landes-
herren, die in den anderen romanischen Staaten die Anfänge der
größten Landesbibliotheken wurden, eingewirkt hat.
Die Büchersammlung des königlichen Hauses von Spanien, die
von Philipp IL 1565 gestiftete Eskorialbibliothek, der er den eigenen
Handschriftenschatz zuführte, ist bei dem Brande des Hierony«
mitenklosters San-Lorenzo-el-Real 1671 fast mit der Hälfte ihrer
alten Bestände, unter denen auch die Bücherei des Don Diego
Hurtado de Mendoza [u. 1503—1575] war, vernichtet worden.
Die Madrider Nationalbibliothek ist erst 1712 von Philipp V. ge-
gründet worden — sie hat die altberühmte, 1455 von P e d ro Fe rn-
nandez de Velasco, conde del Haro angelegte Handschriften-
sammlung aufgenommen —• Die Lissaboner Nationalbibliothek
Portugals entstand erst 1796.
Um 1500 hat allerdings in Spanien ein Buchfreund und Bücher-
sammler gelebt, der einen der höchsten Namen der Weltgeschichte
trug, um dessentwillen man ihn schon unter den berühmtesten
Bibliophilen der Renaissance nicht vergessen würde. Doch es ist
eigenes Verdienst, daß ihn in deren Reihe eine der ersten Stellen
zuweist. Eigenes Verdienst sein weiter Blick für den internationalen
Zusammenhang des Buchwesens, der über die Grenzpfähle seiner
Heimat hinausschweifte; eigenes Verdienst seine stille Sorgsamkeit,
mit der er auch die gering geachteten dünnen Blätter einer neuen
Zeit, die Flugschriften aus allen Gebieten des Lebens, die Vorläufer
der Zeitungen, aufhob und in Sammelbänden aufbewahrte.
Der jüngere Sohn des großen Christoph und der Donna Beatrix
Enriquez de Arana, Don Fernando Colon [Colombo] [1488—1539],
als Geograph und Kosmograph verdienstvoll, hatte seinen Vater
1502 auf der vierten Reise nach Amerika begleitet, sich 1509 in
200
16. JAHRHUNDERT
Haiti aufgehalten und sodann in den Jahren 1510 bis 1537 auf aus-
gedehnten Reisen in Italien, England, Frankreich, den Nieder-
landen^ Deutschland eine Bücherei von 12000 Bänden gesammelt,
die, nach seiner letztwilligen Verfügung, dem Dominikanerkloster
San Pablo in Sevilla anheimfiel, nebst einer größeren Geldsumme zu
ihrer Unterhaltung und zu ihrer Ergänzung durch regelmäßige An-
käufe in den sechs, nach der Ansicht dieses Bücherfreundes, Haupt-
städten des damaligen Buchhandels [Rom, Venedig, Nürnberg, Ant-
werpen, Paris, Lyon]. Das Vermächtnis wurde zwar angetreten,
aber nicht im Sinne des Don Fernando ausgeführt, und die seinen
Nahmen tragende Colombina verlor nicht allein vielen wertvollsten
Besitz durch Diebstähle. Mehr noch scheint durch die lange Vernach-
lässigung der Bücher verloren gegangen zu sein, darunter vielleicht
auch der literarische Nachlaß von Christoph Columbus, dessen Bio«
graph Don Fernando war, und dessen Portojane und anderen Doku-«
mente er vermutlich besessen hat.*
Auch ein Bibliophilenroman sondergleichen ist das Meisterwerk
des spanischen Schrifttums, des Miguel de Cervantes Saavedra: Don
Quixote. Die Bücherei des edlen Ritters, sein Glück und sein Leid,
ist kläglich vernichtet worden und mit ihr die alte Zeit der Bücher-
freuden seines Vaterlandes. Das Werk, das den Ritterroman ver-
nichten wollte, wuchs über seine Absicht hinaus und wurde zum
Mittelpunkt eines neuen spanischen Schrifttums; zu einem nicht
allein von den Bibliophilen seines Ursprungslandes verehrten Buch-
denkmal. Bibliographie und Literarhistorie haben seit dem acht-
zehnten Jahrhundert die notwendigen Vorarbeiten geleistet, auf
denen sich die Bücherliebhaberei und das Büchersammelwesen im
Spanien des zwanzigsten Jahrhunderts gründet, die weit weniger
als in den anderen romanischen Staaten in gegenseitigen Wechsel-
beziehungen mit der europäisch-internationalen Bibliophilie stehen.
Zwar sind gelegentlich bekannte spanische Büchereien auch auf den
großen Sammelmärkten in London und Paris aufgelöst worden. Zu-
meist jedoch blieben sie im Bücherkreislaufe ihrer Heimat, wo in der
ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts diejenige Liebhaber-
bücherei entstanden ist, deren Muster seitdem nie wieder von einer
*Ahb. 118,119 201
SPANIEN
Privatbibliothek Spaniens erreicht worden ist und deren Verzeich-
nis die erste allgemeine grundlegende Bücherkunde des spanischen
Schrifttums wurde. Die Anfangsbuchstaben V. und P. auf ihrem be-
scheidenen Bücherzeichen* erinnern daran, daß sie das gemeinschaft-
liche Werk des D. Vicente Salvd y Mallen, der lange in London
als Altbuchhändler gelebt hatte und 1849 auf einer Bücherreise in
Paris verstarb, und seines 1869 gestorbenen Sohnes D. Pedro ge-
weseni st, der, schweren körperlichen Leiden zum Trotz, die Erinne-
rung an diese einstmals berühmteste Privatbibliothek Valencias
wenigstens in ihrem Kataloge fortdauern ließ. Die Sammlung selbst
kam mit ihren wichtigsten Teilen in die Bücherei Ricardo He-
redias, Comte de Benahavis, mit der sie 1891 zerstreut worden
ist. Sie teilte so das Schicksal der anderen berühmtesten, im neun-
zehnten ^Jahrhundert in Spanien entstandenen Liebhaberbücherei,
der Morante-Sammlung.
Don Joachim Gomez de la Cortina wurde 1808 in
Mexiko geboren, als der dritte Sohn des Don Vicente Gomez de la
Cortina. Don Vicente [von seiner Gemahlin Conde de la Cortina]
entstammte einer vornehmen Familie der Provinz Santander und
kehrte, als der mexikanische Aufstand gegen das Mutterland be-
gann, in die Heimat zurück. Don Joachim, der in Alcala die Rechte
studiert und zum Doktor juris utriusque promoviert hatte, blieb
dieser Universität als Lehrer des kanonischen Rechtes verbunden
und wurde mit deren Übersiedlung nach Madrid [1840], kaum
32 Jahre alt, Rektor der neuen Universität. Doch mußte er schon
1842 seine rasche wissenschaftliche Laufbahn aufgeben, da ihn der
Tod seines Vaters zwang, zur Ordnung seiner Vermögensverhält-
nisse nach Mexiko zu reisen. 1844 wieder nach Spanien zurück-
gekehrt, 1847 Marques de Morante geworden, war er von 1851 bis
1853 noch einmal Rektor der Universität Madrid, um dann als
Richter dem obersten Gerichtshofe des Landes anzugehören. 1859
wurde er Senator und gab erst kurze Zeit vor seinem Tode seine
Ämter auf, um sich ganz seiner Büchersammlung widmen zu können.
Daß ihm der Staatsdienst als eine ehrenvolle Pflicht, der er sich
nicht entziehen durfte und wollte, erschien, macht den noblen Zug
202 *Abb. I20
19. JAHRHUNDERT
im Bilde dieses spanischen Granden verständlich, den uns sein
Biograph F. A. Barbieri überliefert hat. Niemals hat Morante eine
ihm aus einem Amte zukommende Einnahme für sich verwendet und
immer auf sein Gehalt teils zugunsten des Staates verzichtet, teils
es den Armen zukommen lassen.
So hatte er nicht, wie sein Zeitgenosse Grenville, seine Sammel-
leidenschaft mit Mitteln befriedigt, die aus einem von der Nation
reich dotierten Amte flössen; deshalb wohl auch nicht, wie der vor-
nehme Brite, seine Bibliothek als ein Vermächtnis der Nation hinter-
lassen, was in Hinsicht auf ihr späteres Schicksal sehr zu bedauern
ist. Persönlich anspruchslos verleugnete der Marques de Morante
in seiner Lebensführung nicht den grandseigneur; unterhielt eine
zahlreiche Dienerschaft, die er nicht brauchte; war bei aller Ge-
nauigkeit in seinen Ausgaben immer darauf bedacht, auch den An-
schein der Knauserigkeit zu vermeiden. Auch dafür ist eine Anek-
dote bezeichnend: als seine Wäscherin sich einmal um einen ochavo
[etwa um zehn Pfennige] verrechnet hatte, gab er ihr zunächst ein
Goldstück, um sie wegen dieses Rechenfehlers ausschelten zu können.
Er machte keine großen Reisen, besuchte keine öffentlichen Feste
und keine Theater, war von ungewöhnlicher Nüchternheit, den
Tafelfreuden abgewandt wie der auf ihnen gegründeten Geselligkeit,
trank fast keinen Wein, verzichtete auf Kaffee, Tee, Spirituosen,
rauchte und schnupfte nicht; kurz, er war mäßig bis zum Exzeß.
Am liebsten verbrachte er den Tag allein unter seinen Büchern, für
die er drei Marmorsäle seines Palastes hatte einrichten lassen; nach-
lässig gekleidet, Pantoffeln an den Füßen, auf der Bücherleiter
sitzend, bald Bücher lesend, bald ordnend. Wenn nicht sein Auf-
treten als Grande, wo das ihm erforderlich schien; wenn nicht seine
ausgedehnte amtliche Berufstätigkeit und seine große Wohltätigkeit
ihn dagegen geschützt hätten, würden ihn Fernerstehende wohl
leicht für eines jener Originale haben halten können, die man Biblio-
manen nennt, zumal seine Leidenschaft des Lateinredens und seine
nicht gerade gewöhnlichen Umgangsformen das Absonderliche seines
Wesens noch schärfer hervortreten ließen. Aber ein Bibliomane
ist der Marques de Morante keineswegs gewesen. Seine Bücherleiden-
203
SPANIEN
Schaft war im Gegenteil nur eine Äußerung seiner großen Gelehrsam-
keit; im besonderen seiner Vorliebe für die lateinische Sprache und
ihre Schriftsteller. Wie er am liebsten lateinisch redete und schrieb,
so sammelte er mit Vorliebe lateinische Bücher. Doch war er weder
ein um das Luxusbuch bemühter Amateur noch ein Raritäten] äger;
recht eigentlich nur ein auch als Schriftsteller auf seinen Gebieten
nicht unbedeutender Forscher, dem es seine Mittel erlaubten, über
einen großen kostspieligen Bücherbesitz verfügen und seinen Büchern
auch äußerliches Ansehen geben zu können. Allerlei Schrullen des
Marques .steigerten sich in den letzten Lebensjahren zu einer krank-
haften Reizbarkeit und sein Tod [1868], infolge eines Sturzes von der
Bücherleiter, bewahrte ihn vor völliger geistiger Umnachtung. In der
von seinem Vater in Salazar gestifteten Kirche wurde er beigesetzt.
Der Marques de Morante hatte im Grunde weder die Anschauun-
gen noch den Ehrgeiz eines Bibliophilen; teilte nicht den Geschmack
der großen englischen und französischen Sammler seiner Zeit, wenn
er sich auch auf manchen Sammelgebieten häufiger mit ihnen be-
gegnete. Denn ein Mann, der schon als junger Student in Alcala
systematisch zu sammeln begonnen hatte und der späterhin zwei
Drittel seines Jahreseinkommens von 125000 Franken für die Ver-
mehrung seiner Bibliothek aufwendete, mußte, ob er 6s nun wollte
oder nicht, in der Bibliophilenwelt Ansehen gewinnen. Bei den
Pariser Altbuchhändlern und Buchbindern war er denn auch ein
hochgeschätzter Kunde, während sein Name weiteren Kreisen erst
durch einen von G. Brunet, anläßlich des Erscheinens des achten
Bandes des Katalogs der Morante-Bibliothek, im „Bulletin du
Bibliophile^' veröffentlichten Aufsatzes bekannt geworden ist. Paul
Lacroix erzählte einmal, wie er Motteley traf, der soeben mit ein
wenig entrüstetem Erstaunen von Duru zurückkam. „Duru hat
ein paar meiner Einbände liegen lassen^', sagte Motteley, ,,um
andere auszuführen, die nur ein ausgezeichneter Bibliophile bestellen
und ein Fürst bezahlen kann. Er arbeitet also gerade für den Duc
d'Aumale und deshalb bescheide ich mich mit Vergnügen.** Als
Motteley nun hörte, der Marquis de Morante sei jener ihm unbe-
kannte Mäzen des langsamen Duru, rief er bewundernd aus: „End-
204
19. JAHRHUNDERT
lieh lebt also aueh in Spanien ein Bibliophile!'* [Ein Ausruf , der
freilich mehr pathetisch als richtig war.]*
Als der Marques de Morante starb , enthielt seine Bibliothek in
rund 21021 Nummern über 120000 Bände vorzugsweise lateinischer
Werke; war also ihrem äußeren Umfange nach eine der größten im
neunzehnten Jahrhundert gesammelten Privatbibliotheken, über
deren Inhalt ein von ihrem Besitzer herausgegebenes gedrucktes um*
fangreiches Verzeichnis Auskunft gibt. Eine seltsame Besonderheit
des Bücherinventars, das sich der Marques de Morante drucken ließ,
ist die Aufzählung der vielfach vorhandenen Bücher. Man weiß nicht
recht, ob er nur aus Vergeßlichkeit oder aus anderen nicht zu er-
klärenden Gründen das gleiche Buch in einer ganzen Anzahl von
Exemplaren seiner Bibliothek beifügte. So besaß er bei seinem Tode
von den sieben meist in siebzehn gebundenen Bänden des Lampas
sive fax Gjruters dreizehn Abzüge, und er hat, nach seinem Katalog
zu schließen, jedes Exemplar, das er fand, gekauft. Die Beispiele
dafür, daß er von gar nicht weiter bemerkenswerten Büchern Exem-
plar zu Exemplar fügte, lassen sich häufen. Vielleicht darf man
daraus schließen, daß der Marques de Morante nicht ganz frei von
jener krankhaften Bücherkaufsucht gewesen, von der der Pariser
Notar Boulard am Ende seines Lebens befallen wurde; ja er hat wie
dieser eine eigenartige Vorliebe für die bändereichen Werke und
großen Bücher bei seinen vielen Mehrfacherwerbungen gezeigt, sich
aber sonst nicht wie Boulard an ganz sinnlosen Ankäufen erfreut,
sondern immer Bücher erworben, die er seiner Sammelrichtung nach
brauchen konnte.
Bei dem Umfange der Morante-Bibliothek, bei den vielen kost-
baren Büchei'n, die sie erhielt, ist es, wie Richard Copley Christie
mit Recht hervorhebt, bemerkenswert, daß ihr die Stücke aller-
ersten Ranges fehlen. Jene Cimelien, über deren Vorhandensein in
einer berühmten Liebhaberbücherei die Bibliographien Buch führen,
jene allerteuersten Werke, deren hohe Versteigerungspreise die
Merkmale für die Auflösung der Sammlung eines ,, großen" Biblio-
philen zu sein pflegen. Dieser Mangel ist wohl darin begründet, daß
der Marques de Morante eben nicht den Ehrgeiz des Amateurs hatte,
♦Abb. 12 f 205
SPANIEN
mehr Gelehrter blieb als er Bibliophile wurde. Er hatte nur zwei nicht
einmal besonders beachtenswerte Pergamentdrucke; die Editiones
principes der griechischen und römischen Klassiker waren, merk-
würdig genug für die mit einem so großen Aufwände errichtete
Bibliothek eines Latinisten, keineswegs sehr zahlreich, nicht syste-
matisch gesammelt, sondern mehr zufällig in die Sammlung gelangt.
Beachtet man die Zeit, in der die Morante-Bibliothek entstand, so
ist ein ältester Horaz von 1477, ein ältester Vergil von 1492 in einer
hauptsächlich der lateinischen Literatur gewidmeten Privatbiblio-
thek eines eifrigen und wohlhabenden Sammlers nicht gerade etwas
Besonderes. Immerhin fand sich in der Morante- Kollektion auch
eine Anzahl Editiones principes von höchstem Wert; ihre Haupt-
bedeutung liegt aber in der lateinischen Literatur des sechzehnten
bis neunzehnten Jahrhunderts, die in solcher Vollständigkeit in
keiner anderen Privatbibliothek vorhanden gewesen ist; di6 ge-
wissermaßen die Analyse wurde, die ein Büchersammler aus der ge-
waltigen internationalen lateinischen Literatur bis zu deren Auf-
hören zog. Da der Marques de Morante, obschon selbst frommer
KathoUk, auch die Schriften der Reformationsbewegung und ihrer
Vertreter, dazu die atheistischen, häretischen, ketzerischen Schriften
mit Eifer 'gesammelt hat, konnte er Ausgabenreihen von Werken
auch weniger genannter Vertreter jener großen religiösen Epoche
in seinem Bibliothekskataloge verzeichnen, die heute zusammen zu
bringen nicht wenig Mühe machen würde. Die Fülle der historischen
Exemplare, der Bücher berühmter Abstammung oder mit Ein-
bänden berühmter Buchbinder ist überraschend, aber sie kommt in
der großen von dem Kataloge registrierten Büchermasse nicht recht
zur Geltung. Sicherlich hätte die Morante-Bibliothek, wenn sie in
geschickter Weise verzeichnet unter den Hammer gebracht worden
wäre, durch diese Auktion eine Gleichstellung mit den berühmtesten
Liebhaberbüchereien des neunzehnten Jahrhunderts gewonnen. Aber
die ungünstigen Umstände, unter denen sie aufgelöst worden ist,
haben ihr beinahe noch die geringe Berühmtheit genommen, die sie
wenigstens zu Lebzeiten ihres Sammlers genoß. Der von den Erben
mit Ungeduld betriebene Verkauf der Morante-Bibliothek war wenig
206
19. JAHRHUNDERT
von Glück begünstigt. Zwar hatte kaum ein Jahr nach dem Tode
ihres Begründers die Pariser Altbuchhandlung Bachelin-Deflorenne
die ganze Sammlung erworben, um sie zur Versteigerung zu bringen,
und der im letzten Jahrzehnt des zweiten Kaiserreiches sehr hoch
gestiegene Bibliophilen-Enthusiasmus ließ besonders für die nicht
wenigen Kostbarkeiten einen hohen Erlös erhoffen. Aber alle diese
Hoffnungen zerstörte der Ausbruch des deutsch -französischen
Krieges und dessen Nachwirkungen. Das Ende der Commune im
Mai 1871 hatte die unfreiwillige zweijährige Ruhepause der großen
Pariser Bücherversteigerungen unterbrochen. Schon sehs Monate
später zeigte Bachelin-Deflorenne die Auktion eines ausgewählten
Teiles der Morante-Bibliothek an, von der eine größere Partie rasch
nach Paris geschafft und durch den Bibliothekar Firmin-Didots,
Leon Scott de Martinville, katalogisiert worden war. Am 27. Fe-
bruar 1872 und den zehn folgenden Tagen fand im Hotel Drouot
die erste Vente Morante statt, deren 1909 Nummern die Auslese
der Auslese waren. Und das wurde Bachelin-Deflorenne zum Ver-
hängnis. Die Versteigerung war von ihm überstürzt worden, die
französischen Sammler waren noch nicht recht zur Ruhe gekommen,
brachten auch einer nur teilweise ihren Geschmack befriedigenden
Kollektion weniger Interesse entgegen; in England hatte der Katalog
nicht genügende Verbreitung gefunden, kurz, das stolze Wort von
Bachelin-Deflorenne in seinem eben notgedrungen eingehenden
„Bibliophile Frangais**, das Ergebnis von 120000 Franks habe alle
Erwartungen Jübertroffen, war nur eine Notlüge. Ungefähr die
Hälfte aller Nummern war zurückgekauft worden, viele Bücher
hatten nicht den vom Marques de Morante selbst bezahlten Preis er-
reicht, nur vier waren mit mehr als 1000 Franken bezahlt worden,
keines hatte die Summe von 2000 Franken erreicht, nur 94 hatten
mehr als 200 Franken gebracht. Es war ein vollkommenes Fiasko
gewesen und wenn auch einzelne Stücke später mit höheren Preisen
in den antiquarischen Katalogen von Bachelin-Deflorenne angesetzt
aus diesen verkauft wurden, so bleibt doch der Eindruck bestehen,
daß die erste Morante- Versteigerungen ihrem völligen Mißlingen
nach sich von den Auktionen bedeutender Liebhaberbüchereien des
207
BELGIEN
neunzehnten Jahrhunderts nur der 1835 verunglückten Londoner
Auktion der Bibliothek des Frankfurter Sammlers Dr. Kloß ver-
gleichen läßt. Womöglich noch kläglicher war der Ausfall der zweiten
Versteigerung [Mai 1872 — 1064 Nummern] und der der dritten
Versteigerung [Januar 1873 — 1039 Nummern]. Bis 1875 versuchte
dann Bachelin-Deflorenne für die zurückgekauften und zurück-
gebliebenen Bücher durch antiquarische Kataloge Käufer zu finden.
Auch hier blieb der Erfolg aus. Eine Versteigerung, die im April 1875
in der Salle Sylvestre stattfand, begann dann mit dem Rest der
Morante-Bibliothek aufzuräumen. Ihre Preise blieben sogar für die
gleichen Exemplare noch hinter denen der Auktion von 1872 zurück.
Zwei weitere Auktionen folgten 1878 und 1879 an gleicher Stelle, das
letzte Drittel der am wenigsten bemerkenswerten Bücher war schon
zum Teil vorher ohne jede Namensnennung ihres Vorbesitzers ver-
kauft worden und wurde nachher weiter verschleudert. Das ist die
traurige Geschichte des Unterganges einer der besten Privatbiblio-
theken des neunzehnten Jahrhunderts, deren . Trümmer so zahlreich
sind, daß man sich oft kaum die Mühe nimmt, ihren Ursprung zu
bestimmen. Und doch verdiente es die Morante-Bibliothek, auch
eine Provenienz hohen Ranges zu sein, —
Wendet sich der Blick von Spanien her den alten spanischen
Niederlanden zu, so erkennt er deutlich, wofern er sich auf die Be-
ziehungen, die die Bibliophilie dieser Länder mit ihren Nachbar-
staaten verbinden, richtet, daß hier die Brücken, auf denen die
Bücher her- und hinüberkamen, im jahrhundertelangen Wechsel
ebenso nach Frankreich, Italien, Spanien wie nach England und
nach den deutschen Staaten geführt haben; je nachdem die po-
litischen Umstände sie vernachlässigten oder verstärkten. Erst im
neunzehnten Jahrhundert tritt auch hier eine klarere Scheidung,
entsprechend ihrer politischen Trennung, zwischen Belgien und
Holland hervor.
Als Philippe le Hardi, Duc de Bourgogne [1342—1404],
der vierte Sohn des Königs Johann des Guten von Frankreich und,
1363, der Stifter des jüngeren Hauses Burgund, 1384 das Erbe seiner
Gemahlin Marguerite, der Erbtochter des Grafen Ludwig III. von
208
15. JAHRHUNDERT
Flandern [Louis de Male] mit seinem Herzogtum vereinen und in
seiner Residenz Dijon eine königliche Hofhaltung entfalten konnte,
war ein bücherliebender Fürst in ein bücherliebendes Land gekom-
men. Angesehen waren schon in diesen niederländischen Staaten
Buchgewerbe und Schrifttumspflege gewesen, unterstützt von den
Herzögen von Brabant und den Grafen von Flandern, die Büchereien
einiger flämischer Klöster waren weitbekannt. Beträchtlich mehrte
den Bücherschatz Karls des Kühnen der Büchernachlaß seines
Schwiegervaters, er selbst, darin wie seine Brüder, Karl V., der Ge-
lehrte, König von Frankreich und Jean, duc de Berry, den Valois
nicht verleugnend, ergänzte ihn durch eigene Erwerbungen und sein
Sohn, Jean sans Peur, stand hierin dem Vater nicht nach. Aber der
eigentliche Begründer der Bücherei der Herzöge von Burgund, die
heute mit ihren letzten Überresten die Biblioth^que royale in Brüssel
ziert, ist dessen einziger Sohn, Philippe le Bon [1396—1467] ge-
wesen. Er, unter dessen Herrschaft die burgundischen Länder eine
Machtstellung europäischer Zivilisation gewannen, war ein Bücher-
sammler sondergleichen, der in seiner ,,librairie*^ nur Bände haben
wollte, „non pareille k toutes autres^\ Er beschäftigte die be-,,
deutendsten Buchmaler und Schreiber in Italien und Portugal, in
England und Frankreich, er unterhielt ein großes Scriptorium in
Brüssel, und die Kopisten und Kompilatoren in seinen Diensten
mußten die besten Bücher, die zu haben waren, heranschaffen oder
herstellen, heilige und weltliche. Die reichste und schönste Samm-
lung seiner Zeit, verteilt auf die Städte Antwerpen, Brügge, Brüssel,
Dijon und Paris nannte er sein eigen, 3211 Manuskripte hinterließ
er, von denen fast alle, soweit sich erhielten, unter den Meisterwerken
der Miniaturmalerei einen außerordentlichen Rang haben, seinem
Sohn Charles le temeraire, nur nicht sein Bibliophilentemperament,
das er seinem „großen Bastard^^ Anton von Burgund, Rafael de
Marcatellis, vererbte, der als Abt von Saint-Bavon für sein Kloster
eine prächtige Sammlung schuf, die später teilweise in die Genter
Universitätsbibliothek kam.
Büchereien, denen sich nur die von König Ludwig XII. von
Frankreich erworbene und jetzt in der Nationalbibliothek in Paris
BOGENQ 14 209
BELGIEN
befindliche des [1492 gestorbenen] Louis de Bruges, seigneur
delaGruthuyse vergleichen läßt, die man wegen ihres Aufwandes
das bibliographische Wunder ihrer Zeit nannte. Maria, Philipp des
Gütigen einzige Tochter, die unter den sieben um sie werbenden
Prinzen Maximilian von Osterreich gewählt hatte, vermochte ihr
Erbe nicht zu bewahren, weder Bücher noch Länder konnte sie mehr
zusammenhalten. Nach ihrem frühen Tode [1482] begannen die
langandauernden Streitigkeiten um das Herzogtum, in denen es
zerfiel. Die Bibliothek in Dijon schenkte König Ludwig XL von
Frankreich, dem die Städte in der Pikardie und die als Mannlehen
eingezogene Bourgogne angefallen waren, dem Gouverneur der
neuen Provinz, George de la Tremouille, aus dessen Besitz sie
in den der Familie Guy de Rochefords und endlich in die National-
bibliothek in Paris gelangte, während die anderen Bibliotheken
von Maria in Brüssel vereinigt wurden, die sich indessen rasch wieder
über Deutschland, Frankreich, Schweden zerstreuten, da Kaiser
Maximilian I., ,,le Necessiteux'^ ,,le Sans-Argent^', der in Geldnot
schmachtende, ihre Kostbarkeiten verpfänden und verfallen lassen
mußte. Das mag gerade diesem begeisterten Buchfreunde ein hartes
Los erschienen sein. Aber vielleicht war eine solche Wendung,
daB der große Buchkunstfreund des sechzehnten Jarhunderts die
Bücherei, die der große Buchkunstfreund des fünfzehnten Jahr-
hunderts errichtet hatte, an die Wucherer aufgab, auch ein Zeichen
der neuen Zeit gewesen, die die Buchhandschrift der Gotik verloren
gehen ließ, um das Druckwerk der Renaissance zu erheben. Kaiser
Maximilians I. Tochter Margarete von Osterreich, Statthalterin der
Niederlande, als sie den Wiederaufbau der auseinandergerissenen
Büchereien unternahm, vermehrte sie bereits mit den besten eben
erscheinenden gedruckten Büchern, ohne deshalb auf den Erwerb
der Buchhandschriften zu verzichten. Bevor Philipp IL, der
Escorialbibliothekstifter, die niederländisch-burgundischen Pro-
vinzen verließ, um sich nach Spanien zu begeben, betraute er 1559
den Präsidenten seines geheimen Rates, VigUus, damit, die in den
einzelnen königlichen Residenzen aufgestellten Büchereien im
Königlichen Schlosse zu Brüssel zu vereinen. Und 1594 erließ Erz-
210
18. JAHRHUNDERT
herzog Ernst den [Befehl, daß von einem jeden im Lande gedruckten
Buche ein Exemplar im Lederbande der Königlichen Bibliothek zu
liefern sei, wovon das Buchdruckerprivilegium abhängig gemacht
wurde. Albert und Isabelle bewiesen der Bibliothek auch noch
einige fördernde Teilnahme, dann verfiel sie in den kriegerischen
Wirren, die die belgischen Provinzen heimsuchten, vernachlässigt
von den Generalstaaten, immer weiter. 1731 verbrannte sie, als eine
Feuersbrunst den Königlichen Palast in Brüssel verheerte, mit
vielen ihrer wertvollsten Bände, deren in Kellern untergebrachten
Reste dort verkamen oder von den Franzosen unter dem Marschall
von Sachsen bei der Eroberung Brüssels im Jahre 1746 nach Paris
verschleppt wurden. Erst in der 1837 als belgische Nationalbibliothek
gegründeten Biblioth^que royale kam die Bibliothique de Bourgogne
mit ihren letzten Trümmern zu einer neuen Vereinigung und zu
neuem Wachstum.
Daß diese neue Bibliotheque royale von Anfang an zu einem
nationalen Bücherschatz werden konnte, verdankte sie vor allem
einem belgischen Bibliophilen seltener Art, Charles J. E. van
Hulthem [1764—1832],* dessen Büchersammlung — sie umfaßte
29350 Druckwerke in 63000 Bänden und 1016 Handschriften —
1837 für 250000 Francs von der belgischen Regierung angekauft
wurde. Nicht allein seiner Gelehrsamkeit und seines glücklichen
Sammeleifers wegen genoß Van Hulthem eines weit über die Grenzen
seiner Heimat hinausreichenden Rufes, sondern auch wegen der
liebevollen Zärtlichkeit, die er seinen Büchern zuwendete. Darüber
gab es mancherlei Geschichtchen zu hören. Niemals entzündete er
in seinem Bibliothekssaal ein Kaminfeuer aus Angst für seine teuren
Bände, fror ihn an den Füßen, dann erwärmte er sie durch einen
aufgelegten Folianten. Er verzichtete auf den Mantel, als er im
offenen Wagen während eines strengen Winters von einer Bücher-
reise zurückkehrte, nur, damit desto bequemer auf seinen Knien
zwei Quartanten ruhen konnten. Ein Bücher Johannes, wie jener
alte Kanonikus von Gorkum, Harius, der, als er seine Bücher,
die er nach seinem Tode, 1532, Kaiser Karl V. vermacht haben soll,
nach dem Haag überführte, vom Volke ihres großen Vorrates wegen
W * Abb. 126 211
BELGIEN
diesen Namen erhielt. Und damals in den Niederlanden nicht ein«
mal eine Einzelerscheinung. Auch der, 1850 verstorbene, Baron
W. H, J. Westreenen van Tielland, der seine ein halbes Jahr-
hundert hindurch unter dreifachem Verschluß gehaltene Bücherei
der Stadt Haag hinterließ, wo sie, nach den genauen Bestimmungen
seines Testamentes noch heute im Museum Meermanno-Westree-
nianum* verwaltet wird, hat mit ähnlicher Ängstlichkeit seinen
Schatz behütet und ihn der Nachwelt zu erhalten gesucht. In dieser
Fürsorge kommt, verwunderlich vielleicht, aber doch auch wieder
zweckvoll die Passion des Sammeins, die der Sammlung selbst gilt,
auf einen Höhepunkt. Und bei aller ihrer Bizarrerie möchte sie
eher den Buchfreund kennzeichnen, als jene Leichtigkeit, mit der
sich andere Sammler von ihrem Besitz trennten oder gar angestrengt
für den Ruhm einer schönen Versteigerung ,arbeiteten*. Es sind
Beispiele, trotz aller ihrer Verzerrungen, eines anderen Sammler-
temperamentes, das nationale Unterschiede zeigt, einer kaltblütigen,
ja verbissenen Zähigkeit, die in den angelsächsischen und germani-
schen Ländern die großen Büchereien hervorrief, die, weil sie eines
Einzelnen Leistung sind, erstaunlichen Organisationen von Privat-
bibliotheken. Waren doch auch in ihrem Buchwesen die nieder-
ländischen Staaten eine Völkerscheide.
Belgische Patrioten haben dem Jean Brito aus Brügge die Buch-
druckerfindung zuschreiben wollen, richtiger scheint jene Ansicht,
die Johann von Paderborn den belgischen Prototypographen nennt,
der 1473 aus Deutschland die neue Art, Bücher herzustellen, in
Belgien einführte, wo um die Mitte des sechzehnten Jahrhun-
derts an sechzig Druckereiwerkstätten bestanden oder bestanden
hatten, davon über die Hälfte in Antwerpen, der damals bedeutend-
sten niederländischen Stadt, die im europäischen Nordwesten mit
London und Paris wetteiferte, deren wirtschaftliche Wohlhaben-
heit durch Handel und Seefahrt eine Blüte der Gewerbe und Künste,
mit ihnen des geistigen Lebens entstehen ließ. In Antwerpen gab es
ein ganzes Buchdruckerviertel, dessen Großbetriebe den nach Hun-
derten zählenden Kunstverwandten, den Buchbindern und Bücher-
schließenherstellern, den Holzschneidern und Kupferstechern, den
212 * Abb. 130
19. JAHRHUNDERT
Schriftgießern und sonstigen Werkstätten eine lohnende Beschäfti-
gung boten. Sie alle überragte der aus Frankreich geflüchtete Meister
Christoph Plantin, der jährlich an dreißig neue Werke herstellte und
verlegte, unter dessen Korrektoren Gelehrte wie Kilian, Poelman,
J. Lipsius waren, dessem Enkel und Nachfolger Balthasar Moretus,
ein Rubens die Titelblätter zeichnete. Mit den acht Bänden seiner
1568 bis 1578 veröffentlichten Biblia polyglotta schuf er das Gegen-
stück des Ximenesschen Werkes, wobei seine Opferwilligkeit den
Vergleich mit der des reichen Spaniers nicht zu scheuen brauchte.
Als ein Ehrendenkmal des außerordentlichen Mannes und seines bis
in das neunzehnte Jahrhundert erhaltenen Verlages steht das Plan-
tin-Moretus-Museum in Antwerpen,* das einzige mit seiner alten
Einrichtung erhaltene Haus, das von der Art und dem Umfange der
großen Betriebe des Buchgewerbes im sechzehnten und siebzehnten
Jahrhundert, die sich in den Geschlechtern des Aldus, Giunta,
Stephanus, Elzevier vererbten, auch in unseren Tagen eine hand-
greifliche Vorstellung gibt, zeigt, daß die Bodenständigkeit des Buch-
gewerbes der Kern seiner Kraft geworden war, die auch das Buch-
wesen lokalisiert und mit ihm das Büchersammelwesen, in dem
sich das nationale Element nun mehr zum internationalen erweiterte,
an Stelle jener Kosmopolität der Humanistenzeit, deren Überein-
stimmung in einer geistigen Universalität wurzelte, die das Buch
zum Ausdruck gebracht hatte.
Einer solchen Blüte des Buchgewerbes, mochte sie auch bald
in ihren französischen Verzweigungen unter der alles überstrahlenden
Pariser Sonne verwelken, entsprach die Bücherlust, die die bel-
gischen Büchersammlungen zeigten, von der des Charles duc
de Croy de Renty [1560—1612] und der mit ihren Anfängen ins
sechzehnte Jahrhundert zurückreichenden der Fürsten von Ligne,*
bis zu der Philipps, Grafen von Flandern [1837—1908].
Die Ausbreitung einer nationalen Bibliophilie im neuen König-
reiche Belgien, das sich 1831 von den anderen Niederlanden trennte,
beweisen die seitdem entstandenen Büchersammlergesellschaften.
Sie zeigen auch die, von der Sprachverschiedenheit bedingte dop-
pelte Richtung, in der sich die belgische Bibliophilie ebenso wie die
* Abb. 122, 123 213
HOLLAND
belgische Literatur seitdem weiter entwickelte, sich dabei teils den
französischen, teils den holländischen Vorbildern zuneigend, so
daß die belgischen Privatbibliotheken nach Art und Zusammen-
setzung bald mehr den französischen, bald mehr den holländischen
ähnlich wurden. Doch blieben die geschichtlichen Überlieferungen
stark genug, um gerade in den größten Liebhaberbüchereien einen
Ausgleich zu schaffen, in denen ebenso die alten flämischen wie die
alten französischen Buchdenkmäler einen ihnen nach den jeweiligen
Neigungen ihrer Sammler angemessenen Platz erhielten. Bereits
1835 entstand in Mons die Societe des Bibliophiles Beiges,
der 1839 in Gent die Maatschappij der Vlaamsche Biblio-
philen folgte. Seit 1863 bestand in Lüttich die Societ6 des
Bibliophiles Liegeois, seit 1878 in Antwerpen die Maat-
schappij der Antwerpsche Bibliophilen. Alle diese Ver-
eine haben, zumal in den Anfängen ihrer Tätigkeit, durch ihre Ver-
öffentlichungen für die Bibliophilie gewirkt und geworben, in ihren
Mitgliederverzeichnissen die namhaftesten belgischen Büchersamm-
ler des neunzehnten Jahrhunderts geführt. Seit 1909 steht die
Societe des Bibliophiles et Iconophiles de Belgiques in
Brüssel, die die hervorragendsten belgischen Büchersammler des
zwanzigsten Jahrhunderts vereint, an der ersten Stelle unter den
belgischen Büchersammlergesellschaften.
Das Bibliotheksideal des sechzehnten und siebzehnten Jahr-
hunderts war das des Polyhistors, das der UniversaUtät, der Voll-
ständigkeit. Man suchte nach dem Ausblick in die Weite einer
Zimmerflucht, die die noch begrenzte Bücherwelt einteilte. Man
glaubte noch an die Möglichkeit, ein Gedankenmeer in Kanälen der
Wissenschaft verwahren zu können. Was dem Besitzer und Be-
sucher die Bibliothek zeigte, war die Kompilation des Wissens der
Zeit, das, soweit es nicht die Köpfe herbergen konnten, wenigstens
die gedruckten Seiten hielten. Bildung und Gelehrsamkeit blieben
das gleiche, den Klassiker las man cum notis variorum, der Huma-
nismus nannte sich nun Philologie, die Poesie verlor sich in den
schönen Wissenschaften. Für eine vollständige Bibliothek müßte
man sechs große Zimmer haben, behauptete autoritativ Joseph
214
17. JAHRHUNDERT
Justus Scaliger. Die Absichten einer öffentlichen und einer Privat-
bibliothek unterschieden sich nicht wesentlich, die Bezwingung der
Büchermassen erschien durch ihre Aufhäufung gewährleistet. Ge-
lehrsamkeit war alles, sogar der Büchereischmuck, der in den Kata-
logen gern als supellex antiquaria verzeichnet wurde. Dieses BibUo-
theksideal ist freilich nicht häufig verwirklicht worden. Wie man
es sich vorzustellen liebte, bezeugen die Exlibris-Blätter mit Büche-
reiansichten, die oft nicht die Privatbibliothek, der sie zugehörten,
wiedergaben, sondern einen Bächereiraum in seiner erdachten Voll-
endung, die Wände mit Bandreihen bedeckt, der Büchertisch, auf
dem die gewaltigen Globen stehen, in der Mitte des hohen Saales.
Ein Bibliothekenparadies, in dem Gelehrsamkeit und Schon-
geisterei noch nicht entzweit waren, bot das Holland des siebzehnten
Jahrhunderts mit seinem Sinn für behagliche Lebensgestaltung und
reinliches Sammlertum. Der Altbuchhandel entwickelte sich, die
Auktionen kamen auf, für die in Leyden Ludwig Elzevier seit 1609
das Beispiel gegeben hatte. Buchgewerblich waren die Staaten ein
Umlegeplatz der Buchware, eine europäische Vermittlungsstelle und
auch geistig übten sie einen nicht geringen Einfluß. Man druckte
die in Deutschland und England, die in Frankreich, Italien, Spanien
erschienenen Bücher nach, man druckte aber auch die in diesen
Staaten verbotenen Schriften und so wurde das Buch Hollands eine
Zeitlang zum Freiheitshort der Presse. Andererseits fehlte die
Wechselwirkung nicht. Auch das Beispiel der benachbarten Län-
dern, sich aufstauender Bücherüberfluß, der sich verbreitete, wissen-
schaftliche Sammlungsziele verbanden sich, um den Bibliotheken
in den heute holländischen Niederlanden einen günstigen Boden ihrer
Entwicklung zu verschaffen, sie zahlreich werden zu lassen. Bürger-
und Gelehrtentum, Volk und Vornehme waren weniger voneinander
geschieden und das bedingte auch eine gewisse Gleichmäßigkeit der
ohnehin einen internationalen Charakter annehmenden Privat-
bibliotheken. Die Atlanten des Blaeuschen Verlages standen in der
Gelehrtenstube und gaben bereitwillig Auskunft, wenn die Ent-
deckungen einer neuen Seefahrt das Tagesgespräch wurden, der
Handelsherr hatte in seinem Bücherzimmer die antiken Klassiker
215
HOLLAND
stehen. Ein aufkommender Kuriositätengeschmack, nicht ohne
einige Pedanterie gepflegt, förderte eine beschauUche Bücherlust.
Man hatte ein Kabinett, man nannte es wohl gar ein Museum, man
freute sich am Sammlerstück und manch einer verwendete alle seine
Mühe auf ein einziges großes Werk, um dessen Bilderschmuck durch
Stiche und Zeichnungen noch reicher zu gestalten als das schon
Verfasser und Verleger getan hatten. Die bibliographische Kritik
verband sich mit der philologischen. Es gab bald Büoherforscher
und Bücherjäger, wie den treffsicheren J. J. Charron, Marquis
de Menars, Altbuchhändler, die wie P. van Damme in Amster-
dam bessere Büchersammlungen hatten als ihre meisten Geschäfts-
freunde, große Privatbibliotheken, deren Bändezahl das Hundert-
tausend erreichte wie die von S. Hulsius.*
Der Auktionskatalog des größeren Teiles der Huygenschen
Bibliothek vom 15. März 1688 bietet ein Muster holländischer
Bücherliebhaberei seiner Epoche. Constantin Huygens, Herren
van Zelem en Zuylichem [1596—1687], als Dichter, mehr noch
als Vater des hervorragenden Mathematikers bekannt, war Sekretär,
zuletzt Ratspräsident bei den Prinzen-Statthaltern Friedrich Hein-
rich, Wilhelm II. und Wilhelm III. von Oranien« Seine im Großen
Saale im Haag versteigerte Büchersammlung zeigte die gelehrte
Schöngeisterei eines vielseitig teilnehmenden und unterrichteten
Mannes, die bibliophilen und literarischen Interessen eines mit Ge-
schmack unter den Büchern seines holländischen Lebenskreises
wählenden Buchfreundes. Den freilich auch nicht eines Baruch
Spinoza [1632 — 1677] Wissensqualen die Lebensruhe nahmen.
Anderthalbhundert Werke hatte der arme Philosoph besessen, die
nach seinem Tode 1679 versteigert und zerstreut worden sind. Hätte
der Notar Willem van den Hove nicht über diesen armseligen Nach-
laß eine genaue Liste errichtet und hätte sich diese Urkunde nicht
erhalten, dann wäre auch die Bibliotheksrekonstruktion unmöglich
gewesen, die der holländische Verein „Het Spinozahuis'^ versuchte,
indem er in dem von ihm 1899 angekauften Hause in Rynsburg bei
Leyden, in dem Spinoza von 1661 bis 1663 gewohnt hat, wenigstens
die von Spinoza benutzten Ausgaben seiner 159 Bücher wieder zu-
216 * Abb. 128
17. JAHRHUNDERT
sammenstellte, als Ersatz der verlorenen Originalexemplare. Spinoza
hat nicht viele Bände besessen, aber sein Bücherbesitz war dafür
um so gewichtiger. Die naturwissenschaftlichen Prunkwerke standen
nicht auf seinen Bücherbrettern, aber den Fortschritt der natur-
wissenschaftlichen Erkenntnis hat er ebenso in seiner bescheidenen
Büchersammlung durch die Schriften der neuen Weltanschauung
gekennzeichnet wie er den kühnen, die Autorität des Dogmas be-
kämpfenden Philosophen neben denen der Theologen aller Kon-
fessionen einen Platz gab, und wie er seine Bibeln neben die antiken
Klassiker stellte. Es war eine Bücherwarte*, die weit empor in die
geistigen Höhen ihrer Tage ragte und weit hinaus über die abge-
messenen Bezirke geruhsamen holländischen Lebens. Eben, weil
sie durch ihre Beschränkung auf nur wenige Bücher um so mehr
deren Leuchtkraft erkennen läßt.
Für die noch dem Gebildeten notwendigen Grundlagen einer guten
Büchersammlung, die antiken Klassiker, sorgten die hoUändisTchen
Offizinen jener Übergangszeit der humanistischen Studien in die
philologischen aufs beste. Die Elzeviers ließen ihre rasch beliebt
werdenden Taschenausgaben erscheinen, der Apparat der Folianten
und Quartanten lieferte den Bibliotheken die anerkannten editiones
optimae, als welche die gelehrten holländischen Prachtwerke mit
ihrem reichen Tafelnschmuck in Aufnahme kamen. Buchgelehrsamkeit
galt viel, zudem da sie den Buchgeschäften günstig war. Und so
fanden sich denn in dem bildungsfrohen, freigesinnten Lande, in dem
die Ortschaften derart dicht beieinander lagen, daß ihre Bürger sich
fast alle als Nachbaren kannten, in dem Handel und Wandel die
Künste und Wissenschaften hielten, den Reisenden auffallende
Bücherstilleben auf Schritt und Tritt. Ihre behaglichen Schilde-
rungen finden sich in den Reisebeschreibungen zahlreich, die biblio-
graphischen Kompilatoren, die literarischen Polemiker feierten ihre
nicht gerade bescheidenen Triumphe als Kraftmänner der Bücher-
wälzerei. Das alles dauerte bis in das achtzehnte Jahrhundert hin-
ein. Der junge Albrecht von Haller vermerkte 1725, daß an keinem
Orte der Welt soviel Leute von Büchern leben als in Leyden,* wo
1609 Ludwig Elzevier die älteste bekannte Büchereiversteigerung
*Abb. 127 217
HOLLAND
die der Sammlung G. und J. Dousa, des ersten Bibliothekars der
Universität Leyden, abgehalten hatte, eine seitdem sich entwickelnde
Einrichtung, die recht eigentlich die Entwicklung von Altbuch-
handel und Liebhaberwert in ihrer modernen Ausgestaltung ver-
anlaßte. ,, Ganze Straßen sind voll Buchhändler, und alle Winkel
voll Druckereyen. Auch diese stehn alle unter dem Schuze
der hohen Schule. [Peter] Van der Aa [seit 1682 in Leyden an-
sässig] hat unter allen es am weitesten gebracht und durch seinen
glücklichen und vielen Verlag es dahin gebracht, daß er das große
Werk der Alterthümern [den Thesaurum Antiquitatum Romanorum]
bloß zu seines Nahmens Ehre drucken können, da es doch auf 500
Gulden kömmt. Auch ist kein Ort denen Buchhändlern so günstige
wo alles Bibliothequen haben will, und oft, wann Boerhaave deß
Morgens ein Buch gerühmt, Nachmittags selbiges überall um dop-
pelten Preiß gekauft werden mag. In denen vielen Steigerungen
werden die Bücher etwas wohlfeiler bestanden, deren alle Jahre sind,
weil viele vornehme Holländer sich eine Ehre machen, in allen
Sprachen und Wißenschaften alles zu besitzen, und mehrmals ein
einziger mehr kauft, als alle seine Nachkommen lesen werden.*'
Die eleganten holländischen Juristen und Philologen legten
auch auf die Eleganz ihrer Bibliothekenrepräsentation einen nicht
geringen Wert, versagten, zuYnal im achtzehnten Jahrhundert, der
jetzt herrschenden Bibliophiliemode, die besten Klassikereditionen
in der charta magna oder gar in der charta maxima wohlgebunden
nebeneinander zu reihen, ihre Anerkennung nicht und wurden der-
art, als Herausgeber und als Sammler, die Vertreter eines vornehmen
Buchgeschmackes, der die Liebhaberei und die Wissenschaft aufs
glücklichste zusammenbrachte. Als das Beispiel eines Bibliophilen-
Philologen solcher Art ist H. de Bosch [1740—1811]* in Leyden zu
rühmen, dem das Arbeitsmittel seiner Bücherei kein leerer Luxus
war, wenn er auch seine ausgewählten Ausgaben in bester Ausstattung
zu beziehen wünschte und an den alten Bänden die Erhaltung,
nicht nur ihren Inhalt schätzte. In dem Bibliothekskataloge, den
er sich kurz vor seinem Tode zu eigenem Gebrauch drucken ließ,
gab die Vorrede das Bekenntnis der Bücherliebe eines Humanisten,
218 . * Abb. 131
18. JAHRHUNDERT
der das Buch in edler Gestalt verehrt, weil ihm die äußere Buch-
schönheit die innere wiederspiegelt. In fein gesetzten Worten heißt
es hier: ,,Jam inde a pueritia hanc mihi Bibliothecam comparavi,
ea cura ac diligentia, ut nuUum librum in eam recipiendum existi-
marem, nisi qui plenus esset et integer, nuUis adspersus maculis,
neque foedatus lituris, aut vermium dentibus tactus, uno verbo,
nuUum codicem admitterem nisi qui nitidissime esset conservatus;
quod quam magnam operam postulet . . ., facile harum rerum periti
intelligent, neque ego hoc ab uUo homine fieri posse arbitror, nisi
ab eo, cui, ut mihi, per sexaginta fere annos in hac re recto agenda
strenue laborare contigit . . . Labentibus annis pejoris conditionis
Codices ejiciendo et pulchrioris substituendo tantum profeci, ut si . . .
etiam ultimae vetustatis libros, ex hac bibliotheca in manum sumas,
recentes e prelo te tractare existimes . . . Quod non necessarium esse
putabunt multi . . . quibus sordidis digitis impressos, maculis,
atramento et oleo inquinatos libros nos quidem relinquimus . . .
mihi sive a natura, sive a parentibus datum ut omnes sordes fugiam. . .
Unde evenit, ut meae bene instruendae bibliothecae curae etiam
alia successerit . . • Haec, praeter interiorem librorum conditionem
ad externam formam spectabat. Quoad quidem potui exempla
mihi comparavi, quorum margines essent integrae, nee scissae, i. e.
aratri ferrum non perpessae . . . Si quae vero occurrerent, quorum
margines . . . scindi debere arbiträrer, hac in re ita versatus sum,
ut is cui illud munus . . . daretur, caveret, ne quid detrimenti liber
caperet."
Boschs , Carmen in bibliothecam Crevennae' feierte in der er-
lesensten Amsterdamer Liebhaberbücherei des achtzehnten Jahr-
hunderts eine der ausgezeichnetsten Sammlungen ihrer Zeit. Be-
gründet von P. A. Crevenna, einem aus Mailand eingewanderten
Kaufmann, der den Anfängen und der Ausbreitung der Buchdrucker-
kunst ernsthafte Forschungen gewidmet hatte, die sein beschreiben-
des, 1774 angefangenes Bücherei Verzeichnis, das er selbst noch ver-
öffentlichte, verwertete, weitergeführt in gleichem Sinne von seinem
Sohn Bolongari Crevenna, der sich noch bei Lebzeiten von ihr
trennte und aus der Auktion nur eine kleine Auswahl zurückbehielt,
219
HOLLAND
die nach seinem Tode versteigert worden ist, gehörte sie zu jenen
bedeutenden Privatbibliotheken, deren rasches Vergehen zu den
unwiderbringlichen Verlusten gerechnet werden muß, da sie ein
Jahrhundert später in gleicher Vollendung sich nicht mehr wieder-
holen ließen. Daß diese buchgeschichtlichen Forschungen Coster
nicht vergaßen, hiermit die nationale Tradition pflegten, kann nicht
wundernehmen. In der Costerstadt Haarlem hatte im achtzehnten
Jahrhundert die Ens che de -Familie, weitbekannt durch ihre Buch-
druckerei und Schriftgießerei, im Anschluß an die Costerstudien ein
Museum Typographicum errichtet, das, 1867, durch eine Versteige-
rung zerstreut wurde.* Und auch in der Gegenwart ist die nationale
Tendenz der holländischen Bibliophilie in der Achtsamkeit für die
alten Bücher, in der Vorliebe für die eigenen Prachtausgaben des
siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts hervortretend. Ohne
daß deshalb das Büchergut anderer Völker und Zeiten ausgeschlossen
wäre oder aber die Bücherstuben der Gegenwart verschlossen blieben,
gegen die sich die Beschaulichkeit der im alten Hellas und Rom
lebenden Philologen wehrte, wie das etwa die sozialpolitische
Büchersammlung zur Frauenfrage zeigt, die Frau Gerrits en zu-
sammenbrachte. Einem großen Holländer des neunzehnten Jahr-
hunderts ist die eigene Bücherei allerdings versagt gewesen, D.
Dekker [Multatuli] durfte sich nur einer Privatbibliothek erfreuen,
die ihm Frau A. M. Anderson [die 1917 in Mainz starb] geliehen und
nach seinem Tode getreulich verwahrt hatte, um sie zum Grund-
stocke eines Multatuli-Museums werden zu lassen, ein Plan, der nicht
verwirklicht worden ist.
220 * Abb. 129
V. DEUTSCHLAND
Im Bereich des gewaltigen deutschen Siedlungsgebietes, auf dem
sich die germanischen Völkerverschiebungen über ein Halb Jahr-
tausend hindurch vollzogen, ein mit der Bemächtigung westlicher
Kultur und Zivilisationen verbundener Vorgang, gab es sehr lange
keine geistige und gesellschaftliche Einheit, kein aus ihr hervor-
wachsendes Schrifttum, das als ein Ganzes räumlich und zeitlich
zusammenhinge. Das erwiesen auch die Büchersammlungen des
deutschen Mittelalters, die weit eher die einzelnen Hauptorte einzel-
ner Literaturprovinzen erscheinen — so etwa Korvei für Sachsen,
Fulda für Franken und Hessen, Reichenau für Schwaben — als
die Hauptstätten gemeinsam mit den Büchern gepflegter hoher
Lebensgüter. Und weiterhin, fast alle alten deutschen Bücher-
sammlungen sind nun verschwunden, haben mit ihren Handschriften-
überresten ihren Namensruhm zwar noch erhalten, aber keinen Be-
stand ilirer Tradition. Sie sind vergessen worden, mehr als nur ver-
schwunden. Schalkhaft heißt es im deutschen Sprichwort: Er
studiert so fleißig wie die Mönche im Kloster Septimo — die einst die
Brücke über den Graben, der ihr Kloster umzog, als sie verfallen
war, durch Folianten, mit denen sie den Graben ausfüllten, ersetzt
haben sollen. Doch trifft solche in mancherlei Formen sich wieder«
holende Spottrede nur ein äußerliches Kennzeichen, eine einzelne
Erscheinung, in der sich das Geschehen einer geistigen Welten-
wende widerspiegelt. Daß die Büchereien durch mönchische Un-
bildung zerfielen, hatte seine tieferen Ursachen. Sie waren über-
flüssig geworden, da sie in der Vergangenheit zurückgeblieben waren,
dem Denken und Fühlen gar nicht oder doch großenteils nicht mehr
entsprachen, das sie mit Nahrung versorgen sollten. Die Bücher-
massen hatten sich in dem lebendigen Strom des Lebens aufgestaut,
er durchbrach sie und neue Behälter wurden nötig, seine Kräfte zu
sammeln.
Josef Nadler hat es versucht, die drei räumlichen Entwicklungs-
züge in der Ausbildung des deutschen Schrifttums zu umgrenzen.
9, Der eine am Rhein, in den Ländern der Franken und Alemannen,
221
DEUTSCHLAND
auf altem römischen Kulturboden, bei den Trägern des alten deut-
schen Reiches; des Sinn dieses Zuges ist die Aneignung des antiken
Kulturerbes von Karl dem Großen bis zu den Klassizisten. Der
andere Zug an der Donau, in den Ländern des bayrischen Volkes,
auf altem römischen Kulturboden, bei den Trägern des neuen Ost-
reiches; der Sinn dieses Zuges ist die Umbildung des antiken Lite-
raturerbes und sein Verschmelzen mit volkstümlichen Elementen
bis zum Theater des neunzehnten Jahrhunderts. Der dritte Zug
zwischen Elbe und Weichsel, auf altem slavischen Siedelboden, bei
den Trägern des neuen Deutschen Reiches ; der Sinn dieses Zuges ist
die Aneignung des altdeutschen Literaturerbes für diese neudeutschen
Kolonistenvölker bis zur Romantik. Jeder dieser Entwicklungszüge
schreitet über die drei Stufen eines gesellschaftlichen, eines indi-
viduellen, eines subjektiven Seelenlebens.^^ Diese Bewegungen
eines gewaltigen geistigen Stromlaufes und seiner Unterströmungen
durch die Jahrhunderte auch in der Geschichte der Büchersamm-
lungen zu verfolgen wäre wohl in einer klareren Linienführung kaum
möglich, da sie ja vorwiegend zunächist die lateinische internationale
Literatur, die Fakultätsliteratur, herbergten und späterhin sich
auch dem Einfluß der fremden Nationalliteraturen willig, meist viel
williger als in den anderen Ländern, öffneten. Wozu noch die aus
den politisch-sozialen Gegensätzen sich ableitenden, voneinander
abweichenden Richtungen in der sich aus ihnen ergebenden Stellung-
nahme der Bibliotheken der deutschen Länder hinzukam. Hier soll
eben nur daran erinnert sein, daß ein einheitliches deutsches Bücher-
sammelwesen sich solange nicht ausbilden konnte, als das Be-
wußtsein eines einheitlichen deutschen Schrifttums noch fehlte, das
erst im achtzehnten Jahrhundert stärker wurde, daß diese Viel-
artigkeit von umso empfindlicherer Wirkung sein mußte, nachdem
in der deutschen Gelehrtenrepublik die Herrschaft des internatio-
nalen Literaturgedankens schwächer geworden war, ohne daß sie
bereits die Macht einer Nationalliteratur ersetzt hätte. Das Buch-
ideal fehlte, das der Bücherwälzerei und dem Bücherwust in einer
langen Übergangszeit hätte leitend werden können. Und anders
als in den italienischen Humanistenbibliotheken standen die antiken
222
13. JAHRHUNDERT
Klassiker auf den Bücherbrettern der deutschen Sammlungen, un-
verbunden mit der Gegenwart, ein abgestorbenes, herausgerissenes
Stück Vergangenheit.
Aber die Abgrenzung von ,Mittelalter* und , Neuzeit', jene
Änderungen von Denkrichtungen und Denkweisen, die geschicht-
liche Umgestaltungen größter Reichweite im europäischen Völker-
leben herbeiführten, ist für die Bibliophilieentwicklung unschwer
anzugeben. Die Buchdruckerfindung hat eine solche äußere Um-
gestaltung des Buchwesens vorgenommen, die auch dann, wenn
ihre weiteren Wirkungen nicht in Frage kommen würden, das Datum,
das Grenzzeichen ist, das für Büchersammlungen Mittelalter und
Neuzeit scheidet. Dazu kommt, daß im Büchersammelwesen die
Übergangszeit [das Wiegendruckzeitalter, die zweite Hälfte des fünf-
zehnten Jahrhunderts] außerordenthch kurz war. Man möchte
sagen, daß die Buchhandschrift sich über Nacht in das Druckwerk
verwandelte, wenn man sich vergegenwärtigt, wie ein etwa 1430
geborener Gelehrter, der als Dreißigjähriger die , Literatur' fast aus-
schließlich in den Manuskripten sah, ein Menschenalter später eine
nach Bändetausenden zählende Bücherei hätte verwenden können.
Wenn die tatsächliche Umstellung des Büchersammelwesens sich
etwas langsamer vollzog, die geistigen und seelischen, die gesell-
schaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen des neuen Buches,
des eigentlichen greifbaren Trägers jener Evolutionen und Revo-
lutionen, die Mittelalter und Neuzeit für die Chronologie eines Histo-
rikers trennen, da und dort durch Hemmungen, deren Ursachen
sehr verschieden waren, noch zurückgehalten wurden: sein Er-
eignis schuf aus dem Begriffe Buch etwas anderes als er vorher war.
Die Ausbildung und Ausbreitung der Druckverfahren änderten auch
die Verhältnisse der Menschheit zu ihrem Schrifttum von Grund aus.
Inwieweit die anderen Entdeckungen und Erfindungen jener Zeit,
die politischen, sozialen und sonstigen Unwälzungen, die sie ver-
anlaßten, aus dem Buchdruck eine Mehrung ihrer Triebkräfte ge-
wannen, ist häufiger schon untersucht worden. Dafür mag ein Bei-
spiel ausreichen, der Vergleich zwischen dem Humanismus und Re-
formation genannten Bewegungen vor und nach der Buchdruck-
223
DEUTSCHLAND
erfindung. Die Macht des Buchdrucks verkörperte sich nun in der
,Presse^ der sich die alten Mächte mit ihren Mitteln widersetzten,
indem sie einen Preßzwang übten. Das Wort und die Schrift hatten
nicht nur Flügel bekommen, mit denen sie sich überallhin verbreite-
ten, die Druckvervielfältigungen verwahrten sie auch gegen die Ein-
griffe der Zeit, ließen sie die Epochen überdauern, in denen die Zivili-
sationen zurückgingen, der Verbreiterung und Vertiefung des
Wissens, der der Buchdruck diente, folgte die von ihm ganz anders
als das die Buchhandschrift gekonnt hatte gewährleistete Siche-
rung des Wissens. Das Buch als Gedächtnisträger der Menschheit
ein Gemeingut geworden, ein verbilligtes und verfeinertes Ge-
dankenwerkzeug, mußte nun auch die Bedeutung der Büchersamm-
lungen erhöhen und verstärken. Seine Gewalt, grenzenlos, brachte
mit dem Nutzen den Schaden, um nur einen zu bezeichnen, die
Verflachung des Schrifttums in der Vielschreiberei, die aufsteigende
Bücherflut beschleunigte in weit höherem Maße den mechanischen
Prozeß der Bibliothekenentwicklung als ihren organischen.
Daß auch da und dort in Deutschland des dreizehnten und
vierzehnten Jahrhunderts ein Bücherschatz vorhanden gewesen ist
der seiner Ausdehnung und Auswahl nach eine Büchersammlung,
der aber kein Fürsten- oder Klostergut war, scheint zweifellos. Aber
die Nachrichten über diese Privatbibliotheken reichen doch nicht
aus, um auf ihnen die Frühgeschichte der deutschen Bücherlieb-
haberei zu gründen. Hugo vonTrimberg, seit 12.60 Magister und
Rektor in der Theuerstadt, einer Vorstadt Bambergs, bekannt als
der Dichter des ,Renner\ also ein Laie, soll 200 Bücher sein eigen
genannt haben. Und als die beiden Brüder Franz und Niklas
von Vintler, die einem schon seit dem elften Jahrhundert in Bozen
angesehenen, einflußreichen Geschlechte entstammten, 1385 die
Ruine Runkelstein gekauft hatten, die der kunstsinnige Niklas
von 1388 ab ausbaute, entstand auch eine von dem Burgkaplan
Heinz Sendlinger aus München verwaltete Büchersammlung auf
dem Runkelstein. Die beiden Beispiele, mehr sind sie nicht, sollen
andeuten, in welcher Art damals deutsche Privatbibliotheken ent-
standen sein mögen, die eine Gelehrtenstube oder ein Schloßgemach
224
14. JAHRHUNDERT
zierten. Nur daß auch in ihren Ausnahmefällen die Bandzahl des
Bücherreichtums nicht allzu sehr anwachsen konnte, der Hand-
schriftenprunk sich ohnehin verbot, weil er allein den wohlhabendsten
Sammlern zugänglich blieb. Möglichkeiten, Abschriften zu besorgen,
mochte das zu den Pflichten des Burgkaplans gehören oder eine von
dem Sammler sich selbst auferlegte Pflicht sein, boten sich immerhin
genug, soweit sie sich auf die landläufige Literatur beschränkten,
nicht die Entdeckungen verlorener Werke erstrebten. Gerade in der
Blütezeit der deutschen Dichtung des Mittelalters wendeten sich
deren nicht wenige Bücher an den Unvoreingenommenen, d. h. den
unwissenschaftlich Denkenden, viel würden wir von den Bücher-
sammlern jener Tage wissen, wofern alle die, die in den ersten Reihen
einer entstehenden neuen Bildung standen, die sich auf ein ent-
stehendes neues Schrifttum stützte, hätten lesen und schreiben
können und die , Literatur' sich schon mehr an das Auge als an das
Ohr gewendet hätte. Daß sie sich auf dieses verließ, mag für die Ent-
wicklung von Formsinn und Sprachkunst ein großer, mit der Ver-
allgemeinerung des Buchgebrauches verloren gehender Vorzug ge-
wesen sein. Förderlich für das Leben einer Literatur konnte es nicht
sein, weil es ihren Lebenskreis nach Raum und Zeit einschränkte.
Auch in Deutschland gab es im fünfzehnten Jahrhundert
Fürstenhöfe, an denen, wenn nicht der Humanismus in seiner italie-
nischen Prägung, so doch die von ihm erweckte Bewegung, die von
ihm geschaffenen Bücher verstanden und willkommen geheißen
wurden. Anders als in der stillen Gelehrtenkammer oder Kloster-
zelle, in der die Auseinandersetzung zwischen Humanismus und
Scholastik ein geistiger Kampf, ein Ringen um die Wahrheit in
ihrem neuen Gewände schien, durfte sie sich hier in der Ausgeglichen-
heit einer neuen gesellschaftlichen Mode zeigen, mehr an der Ober-
fläche bleibend, zu einer ästhetisch-literarischen Geschmacksfrage
werden, die sich auf die Anerkennung des modernen Buches bezog.
Familienbeziehungen überlieferten die vornehme Art des einen
Landes dem anderen, die Kunstfreudigkeit, die vornehme Sitte der
Anteilnahme an den Wissenschaften. Einen solchen Musenhof hatte
sich Mechthild, die Tochter des Pfalzgrafen bei Rhein Kurfürsten
BOOEKO 15 225
DEUTSCHLAND
von Bayern und der Gräfin Mathilde von Bayern, die in erster Ehe
mit dem Grafen Ludwig von Württemberg, in zweiter, aus politi-
schen Gründen geschlossener, mit dem Herzog Albrecht VI. von
Vorderösterreich vermählt war, in ihrer Residenz Rothenburg am
Neckar errichtet, wo sie, bald von ihrem Gatten getrennt, lebte. Sie
suchte deutsche Dichter in ihre Dienste und in ihre Umgebung zu
ziehen, auf das deutsche Schrifttum im Sinne des neuen Geschmackes
einzuwirken, eine Bücherei sich einzurichten, in der dessen beste
Vertreter vorhanden waren. Um diese ihre Büchersammlung
zu vermehren, wandte sie sich auch an einen bekannten deutschen
Bücherliebhaber, Jacob Püterich, dem sie eine Liste von 94 Werken
mit dem Ersuchen sandte, ihr ein Verzeichnis der von ihm besessenen
Bücher zu schicken, damit derart ein Abschriftentausch sich einleite.
Der Anfrage der Herzogin fand Püterich in der fein höfischen
Form, die Minnedienst von einem Ritter verlangte, die Antwort in
seinem 1462 vollendeten , Ehrenbrief'. Da reimt er, sich etwas viel
mit fremden Federn schmückend, erst die erforderlichen Liebes-
beteuerungen und Lobsprüche an die fürstliche Gönnerin zusammen
und rollt ihr zu Ehren eine nicht ganz einwandfreie lange Liste des
bayerischen turnierfähigen Adels auf, um schließlich den Austausch-
vorschlag mit einem Verzeichnis seiner Lieblingsbücher zu er-
widern. Jacob Püterich von Reichertshausen [1400—1469]*
war nach unruhevollen Kriegs- und Wanderzügen, die ihn kreuz und
quer durch Europa geführt hatten, in den dreißiger Jahren in seine
bayerische Heimat zurückgekehrt, um 1440 in den Staatsdienst
getreten, in dem er hohen Beamtenrang gewann, ohne deshalb seine
Jugend zu verleugnen. Mit heißem Herzen war er dabei, wenn der
Adel sich auf den Turnieren erprobte, mit leidenschaftlicher Liebe
ist er der deutschen Dichtung ergeben gewesen. Als er den Ehren-
brief schrieb, durfte er sich [rühmen, seit mehr als vierzig Jahren
zwischen Brabant und Ungarn [ihren besten Werken nachgespürt
zu haben, stolz auf den Besitz von 164 ausgewählten Handschriften
zu sein. „Zusam seind sie geraffelt mit Stelen, rauben und darzue
mit lehen, / geschenkt, geschribn, gekauft und dazue funden,^* wie
Püterich heiter übertreibend, doch wohl nicht ohne ein allzu kleines
226 ♦Abb. 132
15. JAHRHUNDERT
Körnchen Wahrheit versichert. Seiner Bibliophilie ist jedoch der
Ehrenbrief ein schönstes Zeugnis. In der persönlichen Art, in der
von ihm die Aufzählung seiner Lieblingsbücher vorgenommen wird,
stellt er für das Liebhaberbüchereiverzeichnis ein Muster auf, das
sich hierin von den Bücherlisten einer nur wissenschaftlichen Zweck-
bestimmung trennt. Derart ist der Ehrenbrief der erste Biblio-
philenkatalog in deutscher Sprache geworden, ein Katalog, der nicht
den Sammler von dem Seinen scheidet, vielmehr die Bücherei als
eine Erscheinung seines Wesens zeigt. Und hierzu ließe sich sogar
ein freilich dem Jacob Püterich selbst sich verbergender huma-
nistischer Zug auffinden. An weidlichen Neckereien der anderen
Ritter, die die Bücherlust des wackeren Mannes nicht recht ver-
standen, hat es ihm nicht gefehlt. Er lebte ja nicht mehr in der
Zeit, der seine Bewunderung galt, in der Dichtkunst zu verehren,
Ritterpflicht war. Denn Püterichs Sammeleifer erstreckte sich
nur auf die alte deutsche Dichtung, das neue Schifttum galt ihm
nichts. „Doch mer die alten puecher, / der neuen acht ich nit zu
keiner stunden.*' Es ist eine ehrenfeste Gesinnung, die sein Brief
verkündete, wie sie von Mechthild aufgenommen wurde, läßt sich
nicht leicht erraten. Die Fürstin bevorzugte das neueste Schrifttum,
lebte schon in den anderen Anschauungen einer anderen Zeit. So
kennzeichnet der Ehrenbrief auch die Grenzen der alten und der
neuen Bibliophilie in Deutschland. Bayern und Österreich waren
noch im Mittelalter zurückgeblieben, als im Südwesten die An-
regungen, die aus Italien, Frankreich, den Niederlanden kamen,
bereitwillig aufgenommen wurden. Als Gutenberg mit den Vor-
arbeiten seines gewaltigen Werkes beschäftigt war, hatte Diebold
Laub er, der Schreibmeister im [elsässischen Hagenau, noch die
deutschen mittelalterlichen Werke vervielfältigen lassen. Nach
wenigen Jahrzehnten waren sie ebenso in Vergessenheit geraten wie
die Schreibstuben mit ihrem ausgebildeten Betriebe, der schon wieder
auch der Verbreitung billiger Bücher dienstbar geworden war. In
Mainz war die Werkstätte entstanden, die durch die Erfindung der
Schriftgießerei in den Stand gesetzt wurde, dem Buchdruck seine
ökonomischen und technischen Grundlagen zu sichern, in Frankfurt
15* 227
DEUTSCHLAND
am Main die Bedeutung des neuen Buchgewerbes rasch von den
geschäftskundigen Handelsherren begriffen worden. Es begann
gegen die nicht geringen Widerstände der alten Buchgewerbe der
wirtschaftliche Kampf, in dem sich das neue Buchgewerbe durch-
setzte. Die schon in der Handschriftenherstellung angebahnte Ver-
weltlichung des Buchwesens vollzog sich nun schneller. Noch
wichtiger wurde die Auffassung des Buches als eines Massenerzeug-
nisses auch in dem Sinne, daß es das Ergebnis einer Gemeinschafts-
arbeit wurde, das eines Gemeinschaftsgeistes, das eines Werkstatt-
betriebes der miteinander wetteifernder Werkstätten an einem
Orte, in einem Lande, in den verschiedenen Ländern. Die Ausbrei-
tung der Buchdruckerkunst vollzog sich zunächst als eine Verein-
heitlichung des Buchgewerbes und hiermit der Buchware, wirt-
schaftlich. Der Kardinal Nicolaus von Cusa [Chryppfs, Krebs
aus Cues an der Mosel 1401—1464], in dessen Seele sich der Humanist
und der Scholastiker um die Geistesfreiheit stritten, sollte die Er-
füllung seiner Hoffnung, es möge die Buchdruckerkunst in Rom ein-
geführt werden, nicht erleben. Auch dann, wenn er das erste, ein
paar Jahre nach seinem Tode in Rom gedruckte Buch hätte in Hän-
den halten können, wäre es ihm vielleicht ebensowenig eine Erfüllung
seines Wunsches gewesen, den ebenfalls die einzige bekannt ge-
wordene auf den Erfinder der Buchdruckerkunst zurückzuführende
Äußerung in der Schlußschrift des von Johann Gutenberg in Mainz
1460 gedruckten Catholicons ausgesprochen hat: ,,et uno Ecclesie
laude Hbro hoc catholice plaude. Qui laudare piam semper non lingue
mariam.^^ Allein ein kirchlicher Sendbote konnte das neue Buch
nicht mehr sein. Zog es als ein Prediger der Wahrheit und Wissen-
schaft über die Erde, so verkündete es überall auch die neuen Worte,
die in den letzten allgemeinen Kirchenversammlungen des fünf-
zehnten Jahrhunderts gehört wurden. Die Dante- Vorlesungen, die
der Bischof von Fermo, Giovanni Bertoldi da Serravalle vom Mai
1416 bis zum Januar 1417 in Konstanz hielt und die vielen Zuhörern
nur eine Humanistenkurzweil lateinischer Rhetorik gewesen sein
mochten, anderen bedeuteten sie mehr. Hier, wo man um die Ge-
sundung von Kirche und Reich stritt, wuchs der tiefere Sinn der
228
15. JAHKHUNDERT
Dichtung, indem die italienischen Humanisten ihr nationales Ideal
wiederfanden, zu einer allgemeineren Bedeutung, zu dem Verlangen
nach dem Einiger des sich auflösenden geistigen und gesellschaft-
lichen Lebens.
Die allgemeinen deutschen Kirchenversammlungen des fünf-
zehnten Jahrhunderts in Konstanz [1414—1418] und Basel [1431
— 1449] waren] Humanistenkongresse, wenigstens ihrer Wirksam-
keit nach. Denn die eigentlichen Konzilaufgaben, die Reformen,
lösten sie nur kümmerlich. Um so mehr wurden sie zu Versamm-
lungen, die den Austausch geistiger Güter zwischen Deutschland
und Welschland vermittelten, wobei Italien keineswegs lediglich
der Bringer des neuen Büchergutes war. Ganz im Gegenteil, die
Gelegenheit, die den geschulten italienischen Buchentdeckern sich
zeigten, haben sie nach Kräften für sich ausgenutzt, ohne an ihren
Funden schon alle Welt teilnehmen zu lassen. Die Konzilien be-
günstigten die Entstehung einer sehr ausgebreiteten Konzilien-
literatur, die als ein Vorläufer der Reformationsliteratur zu betrach-
ten ist. Sie fand bei der Erörterung der kirchlichen Streitfragen natur-
gemäß eine allgemeine Aufmerksamkeit, die sehr viel weiter reichte,
als die Beachtung der antiken Schriftsteller, die ja in Italien selbst
noch ein Vorrecht der Neugebildeten geblieben war. Der Biblio-
philienmissionar und päpstliche Sekretär Poggio, der nicht das
Buch der Bücher, sondern die Bücher predigte, beeilte sich mit
den Seinen, die in Deutschland gemachten Entdeckungen durch
Abschriften gewissermaßen zu veröffentlichen. Darin liegt aller-
dings für sie kein Vorwurf. Gelegentlich mochten sie zwar ohnehin
ihre Gründe haben, über die Art ihrer Erwerbungen zu schweigen.
Aber andererseits beschränkte sich die Bildungsgemeinschaft des
Humanismus doch noch auf zu wenige auserwählte Kreise, als daß
ihre Erscheinung, wie sie die Konzilien zeigten, schon sogleich einen
sich überallhin erstreckenden Einfluß hätte üben können, der ohne
weiteres die allgemeine Behauptung rechtfertigen würde, Konstanz
und Basel seien zu Einfallstoren des Humanismus in die Länder nörd-
lich der Alpen geworden. Trotz alledem setzten die Konzilien die
Büchermassen in Bewegung, brachten sie erhebliche Bereicherungen
229
DEUTSCHLAND
für die Bibliotheken Nordeuropas, nicht zum wenigsten durch die
angeknüpften Verbindungen, die sich festigten und weiteten. Nur
daß die klassischen Texte des heidnischen und christlichen Alter-
tums anfangs wenigstens dabei durchaus nicht quantitativ im Vor-
dergrunde standen. Das Buch spielte auf den Konzilien eine große
Rolle, Bücher wurden als Zeugen aufgerufen, Bücher wurden nach-
geschlagen, Bücher mußten die erforderlichen Stoffsammlungen
liefern, auf die sich die Erörterungen der Streitfragen gründeten.
Konstanz und Basel waren zu internationalen Büchermärkten ge-
worden, auf denen Buchhändler und Bücherhersteller ihre Dienste
den Gelehrten anboten, diese wiederum sahen sich in die Lage
versetzt, durch Abschreiben oder Abschriftenkauf lang gehegte
Wünsche zu erfüllen, Büchergut, das sie sonst nicht hätten erwerben
können, in die Heimat mitzunehmen. In Konstanz und Basel selbst
sowie in ihrer Umgebung waren in den Klosterbibliotheken reich-
haltige Sammlungen vorhanden, die in jenen Jahren gewissermaßen
zu Amtsbibliotheken des Konzils wurden. Ob und inwieweit sie
dabei durch ihre Büchersendungen nach Konstanz und Basel er-
hebliche Verluste erlitten haben, läßt sich heute kaum noch mit
Sicherheit nachprüfen, späteren Berichten darüber fehlt die un
bedingte Zuverlässigkeit. Wenn aber auch die bestimmten Nach-
richten darüber, welche Bücher damals aus Italien nach den nord-
europäischen Staaten über die Umlageplätze Konstanz und Basel ge-
langten, nicht ausführlich und zahlreich genug sind, um den Einfluß
der Bibliophilie des Humanismus in jenem Zeiträume bibliographisch-
statistisch festzustellen, an seinem Vorhandensein läßt sich nicht
zweifeln. Von Anfang an ist Basel für den deutschen Huma-
nismus nicht der Vorort gewesen, der, nachdem die hussitischen
Wirren in Prag seine Festigung verhindert hatten, über Heidelberg,
Erfurt, Nürnberg, Augsburg, Schlettstadt "seinen Umweg nahm, um
nach Basel und Straßburg zurückkehrend hier zu enden.* Schon
seinen Abschluß bezeichnete Jacob Lochers seiner lateinischen Über-
setzung von Brants Narrenschiff, das der Büchernarr anführt, bei-
gegebene Vorrede, in der den antiken Klassikern die italienischen,
Dante und Petrarca, gleichgestellt werden.*
230 * Abb. 136,1
16. JAHRHUNDERT
Im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts war dann Basel»
die Stadt, in der Desiderius Erasmus von Rotterdam [1467 —
1536]* weilte, der nach Petrarca den weitreichendsten humanistischen
Ruhm erlangte, eine Hochschule des Humanismus in seiner Um-
bildung zur Philologie. Denn der Höhepunkt des älteren deutsch-
niederländischen Humanismus fiel mit den Anfangsjahren der Re-
formation zusammen, die für Deutschland die geistige Bewegung
des Humanismus auflöste. In der Form der Bildung einer aristo-
kratischen Gesellschaft in der mächtigsten Monarchie hatte Frank-
reich die Führung des Humanismus in der zweiten Hälfte des sech-
zehnten Jahrhunderts übernommen, wo dann auch der Bibliophilie
in Paris ihre Renaissanceresidenz nicht fehlte. In Basel war es eher
der Fleiß, der die Bücher förderte, als der Stolz auf sie. Ein blühen-
des Buchgewerbe unterstützte dort die Verleger, die Editionen der
Kirchenväter und Klassiker in überall anerkannt werdenden Aus«*
gaben besorgen ließen, unter ihnen an erster Stelle der Freund des
Erasmus, Johann Frohen. Doch anders schon als die Auffassung
der ersten Humanisten, die im Buche noch das Kunstwerk schlecht-
hin verehrten, war die Gesinnung ihrer Nachfolger geworden. „Non
hi mihi libros amare videntur, qui eos intactos ac scriniis abditos
servant, sed qui nocturna juxta ac diurna contrectatione sordidant,
corrugant, conterunt, qui margines passim notulis, hisque variis
oblinunt'^ — definierte Erasmus den Bibliophilen und seine Bücher,
das Handwerkszeug der Wissenschaften. Der Gesamtauffassung
einer geistigen Schöpfung tritt in seiner Betonung der Lesarten-
vergleichungen schon etwas das Notizenkrämertum entgegen und
fast mehr das Bewußtsein einer Buchgelehrsamkeit als einer Bücher-
weisheit scheint in des Erasmus Meinung zu finden zu sein, eine Gegen-
sätzlichkeit zwischen dem freien Denken und dem sich an das
Buch fesselnden Gelehrten, ein Philologenhochmut. Als er sie aus-
sprach, war die Autorität des Buchwissens längst mit der Lebens-
erfahrung in Widerstreit geraten, da die Geisteswissenschaften, noch
allzu sehr behauptend, noch allzu wenig {begründend, gegen die be-
weisenden Naturwissenschaften sich stellten. Ein Kämpfen um Buch
und Leben, um Überlieferung und Wissen, hatte gerade den besten
* Abb. 140, 141 231
DEUTSCHLAND
deutschen Köpfen einen Seelenzwiespalt geschaffen, die Emp-
findung: ich bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit
allem Widerspruch. Und damit den Anfang einer Autopsychologie,
die den Abstand zwischen sich und den Dingen ermißt.
Wenn die Bücherherrlichkeit der italienischen Humanisten den
deutschen nicht zum Bücherwunder eines Persönlichkeitsspiegels
geworden ist, dann lag das auch daran, daß die Gemütsstimmung
der Seeleneinkehr, die mystische Verinnerlichung einem aristoteli-
schen Enzyklopädismus widerstrebte, daß, ohne einen Ausgleich
mit den Denkwissenschaften zu erreichen oder nur zu erstreben, die
Gefühlswissenschaften aus dem Mittelalter hervordrangen und sich
umbildeten. Das kam zum Ausdruck in den deutschen humanisti-
schen Sozietäten, in denen neben dem klassischen Element, das die
literarische Orientierung nach der Antike hin entwickelte, ein
mystisch-neuplatonisches und ein national-romantisches, das nach
der deutschen Vorzeit hinwies, sich geltend machte. Es schärfte
sich nicht allein das kritische und linguistische Selbstbewußtsein
zur Stiltechnik der Kunstformen des überdachten Wortes. Man fand
auch das Wort nicht ausreichend, suchte sich durch Bild und Ton
verständlich zu machen. Das deutsche Lied fand in dem huma-
nistischen Musikempfinden eine Unterstützung, überallhin ver-
zweigte sich das Wissen, um die Gestaltungen des Lebens rankend,
ohne endgültige Zusammenhänge zu erschließen. Die Wandlungen
der Weltanschauung, die bestimmt zum ersten Male hervortretend
im Humanismus, zu einer Auseinandersetzung der Geister wurden,
blieben auf die Buchgestaltung nicht ohne erheblichen Einfluß.
Es entstand ein Kampf um das Buch, der im Formenstreit die Aus-
stattung der Druckwerke Selbständigkeit gewinnen läßt. Lebens-
drang der Renaissance und mittelalterliche Seeleneinkehr, diese
die Buchschaffung verinnerlichend, halten sich noch die Wage.
Die Wendung zur äußeren Betonung der Persönlichkeit macht dann
den Besitzer des Buches zu dessen Gewalthaber, nicht zu dessen
Nutzer. Es wird wieder zum Gegenstand, zum Hausgerät, zum
Überfluß. Der Buchgestalt in ihrer neuen Verselbstlichung ent-
spricht das Losringen des Werkes aus den Buchformfesseln. Die
232
16. JAHRHUNDERT
Literatur hört auf, ein Appendix der Bibel oder der Theologie zu
sein. Das Streben nach Anerkennung und Geltung verschafft dem
Schriftstellerruhm erneuerte, in der Gegenwart schon geltende
Grundlagen. Daseinsfreude, Lebensauffassung und Lebensgestaltung,
die selbst- und zielbewußt sind, lassen die Buchpflege auch zur
Ruhmespflege werden. Diese Bücherliebe erhöht auch das Buch,
die Buchgeschichte wird in den Vorreden und Widmungen ge-
schrieben, das festliche Buch im Prachtgewande sondert sich von
dem werktäglichen. Der Büchervertrieb geht ins Weite, Billigkeit
und Herstellungsschnelligkeit sind hier mitbestimmende Buch-
schöpfer, die die Volkstümlichkeit der Buchware sichern sollen. Das
ästhetische Gewissen gewinnt durch die hohe Auffassung, die man
vom Buchbild-Buchschmuck als einer Ausdruckssteigerung der
Buchsprache hegt, das ethische erhält durch die Forderung der
eigenen Verantwortlichkeit vor sich selbst, die die Reformation er-
hebt, als welche nicht Kirchendiener sondern Priester verlangt, bis
auch sie in der dogmatisierenden Orthodoxie untergeht, einen
mächtigen Antrieb und erweckt die Eindringlichkeit des zum
eigenen Urteil über die Bibel aufgeforderten Lesers. Das alles be-
stimmte neue Buchwerte und Buchwertungen in einer Epoche, in
der die geistige Machtstellung des deutschen Staatsbürgertums auf
ihren Höhepunkt kam.
Wegen der Reisen der Kaufleute sei Nürnberg der Mittelpunkt Eu-
ropas geworden, meinte der Astronom Johannes Möller Regiomontanus.
Eine bekannte Spruchrede des fünfzehnten Jahrhunderts bemerkte,
auch auf die Verbindung der deutschen Handelsstädte mit Welsch-
land hinweisend : Hätt ich Venedigs Macht / Augsburger Pracht /
Nürnberger Witz / Straßburger Geschütz / Und Ulmer Geld / So
war ich der Reichste von der Welt ! Die Klugheit, die hier den Bür-
gern der Stadt des Albrecht Dürer und Hans Sachs nachgerühmt
wird — später sprach der gleiche Spruch statt ihrer schon von Nürn-
bergs Übermut — verleugnete sich nun zwar nicht in der verständigen
Anerkennung der neuen wissenschaftlichen Entdeckungen und Er-
findungen, die im fünfzehnten Jahrhundert Europa revolutionierten,
in der Hochschätzung der einheimischen Humanisten und in dem
233
DEUTSCHLAND
vaterstädtischen Stolz, aber trotz der Koberger konnte Nürnberg,
wo 1492 Martin Behaim seinen Globus für den Nürnberger Rat
konstruiert hatte, das letzte Erzeugnis mittelalterlicher Weltauf-
fassung, und wo kenntnisfroh Hartmann Schedel 1493 seine von
Koberger gedruckte Chronik veröffentlichte, das in manchem Be-
tracht erste Buchdenkmal ihrer sich vorbereitenden Wendung, im
Buchgewerbe keine führende Stellung gewinnen. Ebensowenig fan-
den auch die Verbindungen mit dem italienischen Humanismus,
der die Schedel und Pirkheimer zum Dantestudium führte, eine nach-
haltige Wirkung. Willibald Pirkheimer [1470-1530]* ließ seine
großen Werke anderswo herstellen, für schwierige Aufgaben holte
man von auswärts Unterstützung, so für den Teuerdankdruck Augs-
burger Buchdrucker. WilUbald Pirkheimer hat auch ein Menschen-
alter nach der Erstveröffentlichung der Chronik Schedels [in seiner
1524 in Nürnberg veröffentlichten Ptolemaeusausgabe] beherzte
Worte zur Abwehr der nichtwissenschaftlichen Wunderlust findend,
sich gegen die phantastischen Buchbilder ausgesprochen, die zwar den
Absatz erleichterten, weil sie die Käufer lockten, die jedoch dem
Gebildeten lächerlich sein müßten. Der Forderung Pirkheimers
entsprach das erwachende Verständnis für die Notwendigkeit durch
Ordnung Sammlungen zu schaffen, mit dem Durcheinander der
Kunst- und Wunderkammern der Renaissance nüchternen Sinnes
aufzuräumen, die künstlerische Betrachtungsweise einer Sammlung
durch ihre wissenschaftliche zu ersetzen. Hierin zeigten sich in der
zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts manche Angehörige
Nürnberger Geschlechter vorbildlich, ein Mann wie Paulus Praun
[1548—1616]* bewies nicht geringe Strenge in der Auswahl und Ver-
mehrung des zu erwerbenden Sammelgutes. Als Bibliophile zeigte
er Geschmack in der Ausstattung seiner Bücher, eine der hervor-
ragendsten Norica - Privatbibliotheken verdankte ihm ihre Be-
gründung.
Die bedeutende Büchersammlung des Nürnberger Arztes Hart-
mannSchedel, des Chronikautors, war um die Mitte des sechzehnten
Jahrhunderts in den Fuggerbesitz übergegangen. Damals hatte das
Augsburger Geschlecht der Fugger bereits eine Machtstellung er-
234 * Abb. 142— 144, U8
16. JAHRHUNDERT
reicht, die sich der der Medici vergleichen läßt und wie die großen
italienischen Handelsherren waren auch die deutschen zu Mäzenen
von Kunst und Wissenschaft geworden. Henri Etienne, den Ullrich
Fugger unterstützte, vergaß nicht, auf den Titelblättern sich dessen
Typographen zu nennen. Auf ihre kostbaren Sammlungen durften
die Fugger stolz sein. Mit der Bibliothek des Kaiserlichen Rates
Hans Jacob Fugger, die auch die Bücherei Schedels enthielt,
erwarb Herzog Albrecht V. von Bayern den Grundstock der
Hofbibliothek in München. So reichen deren Anfänge unmittelbar
in die Blütezeit des deutschen Humanismus zurück.
Augsburg, begünstigt von Kaiser Maximilian,* durch seine enge
Verbindung mit Venedig ein natürlicher Vorort des neuen Buches
humanistischer Achtung und künstlerischer Ausstattung, wurde der
buchgewerbliche Mittelpunkt der großangelegten Unternehmungen,
durch die sich der kunst- und prachtliebende Fürst deiner und seines
Hauses Majestät ein Bücherdenkmal sondergleichen errichten wollte.
Bildzeichner und Formschneider wetteiferten hier mit den Buch-
druckern, um Werke zustandezubringen, deren rasch entstandener
Reichtum die Buchkunst der deutschen Renaissance lange Jahre
speiste. Die Buchgesinnung Kaiser Maximilians, in ihren humanisti-
schen Voraussetzungen leicht zu erkennen, war aber doch weit mehr
als die Buchgönnerschaft eines das Prunkbuch zu seinem Ruhmes-
künder wählenden Fürsten. Die Anerkennung des neuen Buches,
des Druckwerkes mit Holzschnittschmuck, mag sie auch begründet
in den Zeitverhältnissen gewesen sein, war eine Tat, um so mehr,
als das von der burgundischen Verwandtschaft gegebene Vorbild,
als die Vorliebe der anderen großen Herren unter den Büchersamm-
lern, als schließlich die eigene Freude an der mittelalterlich-ritter-
lichen Vergangenheit ihn auf die Buchhandschrift und die Buch-
malerei zurückverwiesen. Mag man daher die moderne Tendenz in
den auf Befehl Kaiser Maximilians entstandenen Prachtwerken, die
meist nicht mehr zu ihrer Vollendung gekommen sind, auch darin
sehen können, daß die Buchruhmverbreitung eben erst durch die
neuen Buchvervielfältigungs verfahren ermöglicht wurde, unbe-
streitbar bleibt trotzdem nicht allein die Großzügigkeit der Bücher-
*Abb. 133, 134 235
DEUTSCHLAND
•
plane des Kaisers, sondern auch die Größe, mit der er das Druckwerk
zum Kunstwerk adeln wollte, indem er ihm die höchsten Aufgaben
seiner Ausdrucksfähigkeit stellte, höhere, als sie sich erfüllen ließen,
indem er aus dem Buchgerät ein Lebensfest machte. Anregend und
ausführend stand derart Maximilian inmitten einer vom Buch-
gewerbe getragenen geistigen und künstlerischen regsamen Tätig-
keit. Bücherschätze der deutschen Vergangenheit wurden gehoben,
um in edler Buchform der Nachwelt erhalten zu bleiben, aus
den fremden Sprachen wurden die besten Werke ebenso dem deut-
schen angeeignet, dem Bücherherren huldigten von überallher die
nach seinem günstigen Lobe verlangenden Widmungen. Das, was
der Bewegung des Humanismus in Italien ihre natürliche Schwung-
kraft gegeben hatte, der Nationalismus, was sie deshalb in deutschen
Landen entbehren mußte, es würde ihr in den Bestrebungen um das
deutsche Buch, die vom deutschen Kaiser ausgingen und wieder zu
ihm zurückführten, gewonnen worden sein, wofern eine längere
Dauer diesen Mühen beschieden gewesen sein würde. Aber einer nur
kurzen Glanzzeit folgte ein rascher und tiefer Verfall nach dem Tode
des Kaisers. Das Wort Albrecht Dürers, das 1509 sein Tagebuch
aufnahm: ,,Kayserliche Majestät ist mir zu früh gestorben" gilt
ebenso für den größten Meister des deutschen Buchbildes wie für die
Entwicklung des deutschen Buches selbst. Neuartig und vielleicht
erst in einer späteren Zukunft voll zu würdigen sind die Gedanken
Maximilians gewesen, das Bild im Buche mit und neben der Schrift
zum Träger des Werkinhaltes werden zu lassen. Sie verloren sich
noch im Allegorienspiel, verstrickten sich noch in den Widersprüchen,
die ihre Reife zu reiner Buchschönheit hemmten. Aber auch hier ist
ein höchstes Ziel gewesen, das durch das Buch und mit dem Buche
gewonnen werden sollte, die allseitige Ausgleichung des Denkens
und Schauens im Ebenmaß eines Kunstwerkes, Das Gruppenwerk,
das in phantastisch ausschweifenden Planungen vielgliedrig von allen
Seiten her der Kaiser in Arbeit nehmen ließ, um in dessen Aufbau
die Monumentalität des Buches schließlich zu übersteigern, ließ
Maximilian in der Beweglichkeit des Buches das geeignetste Mittel
finden, seiner eigenen Unrast zu Hilfe zu kommen. Es war aber doch
236
16. JAHRHUNDERT
mehr als der Ausfluß einer dynastischen Selbstverherrlichung, die
in der eigenen Subjektivität wurzelte. Der Historiographen-Hof-
dienst, in den der Kaiser seine Humanisten rief, sollte das imperia-
listisch-nationale Bildungsideal verherrlichen, einen Einfluß auf die
öffentliche Meinung gewinnen. Der antifranzösischen kaiserlichen
Politik diente die Betonung des deutschen Volksgedankens, die
geistigen Kräfte, und ebenso die künstlerischen, die Maximilian
wachrief, sollten publizistisch wirken. Das ist die moderne Tendenz
in diesen allein als eine Verherrlichung mittelalterlicher Ritter-
romantik vielfach noch geltenden Werken. Conrad Celtis [1459
— 1508],* der unermüdliche Vorkämpfer des deutschen Humanis-
mus und der Gründer der Hofbibliothek in Wien, dachte an eine
Beschreibung Deutschlands nach Landschaften, an die Buchreihe
einer , Germania illustrata'. Ein Gedanke, der deutlicher den Realis-
mus erläutert, den unverkennbar, obschon unter phantastisch-poeti-
sierenden Verhüllungen, auch die kaiserlichen Prachtwerke zeigen.
Die meisten Bände des bibliographischen Organon, das der Kaiser
nach seinen eigenen Plänen für sich selbst herstellen lassen wollte
und das in seiner Vollendung ein Höhepunkt des humanistischen
Buchideals geworden sein würde, sind nicht zu Ende gekommen.
In Augsburg bestand für sie ein von Konrad Peutinger [1465
— 1547]* geleitetes förmliches Buchamt, das mit der Verarbeitung
und Verwirklichung der verzweigten Aufträge des Kaisers für die
Herstellung seiner Ehrenbücher betraut war. 1517 ist der ,Teuer-
dank' veröffentlicht worden, die Beschreibung der burgundischen
Hochzeitsfahrt Maximilians. Doch die Schilderung seines Lebens
und seiner Regierung in dem Fürstenspiegel des ,Weißkunig*, die
seiner Ritterlichkeit im ,Freydair blieben mit den anderen in An-
griff genommenen Bänden nach seinem Tode unvollendet. Und
auch das für den St. Georgenritterorden bestimmte , Gebetbuch*, diese
unvergleichliche Schöpfung, in der die Buchkunst der deutschen
Renaissance gipfelt, ursprünglich dazu ausersehen, für den Kreuz-
zug zu werben, kam zu keiner endgültigen Ausführung.
Das Beispiel dieser Art kaiserlicher Buchpflege blieb nicht ohne
jede Nachahmung, doch über die Nähe der Umgebung des Herr-
* Abb. 137-139 237
DEUTSCHLAND
Sehers reichte es nicht weit hinaus. So hat der kaiserliche Protonotar
Florian Waldauf jvon Waidenstein der Hertellung bild-
geschmückter schöner Bücher auf seine Kosten tatkräftige Unter-
stützung verliehen, wobei ihm Maximilian einmal wenigstens, soweit
wir es wissen, zur Seite stand. Bedeutsamer ist es für die Ausbreitung
des Büchersammelns geworden.;jDie Beschäftigung mit dem Buche
in ritterlich vornehmer Weise, die Beispiele edler 'Bücherliebe und
Bücherlust, die der Kaiser gab, machten Maximilians I. Buchpflege
zum nächsten Vorbilde höfischer Kreise. Das Geschenk seines
jTheuerdank* mag zum Grundstock mancher Adelsbibliothek ge-
worden sein. Aber auch die .'Bibliotheca Palatina Vindo-
bonensis, die Hofbibliothek in Wien, hat in seinem Namen ihren
eigentlichen Ausgangspunkt. Sie blieb eine Verkörperung der
Bibliophilietradition weiterhin, vornehmlich derjenigen Wiens, von
dessen geschätzten Privatbibliotheken nicht wenige ihr zufielen.
Zwar hatte schon Kaiser Friedrich III. [1440—1493] seinen
Handschriftenbesitz von Aeneas Sylvius Piccolomini, dem
späteren Papste Pius IL, sichten lassen. Aber erst seines Sohnes
Auftrag an Conrad Celtis [1459 — 1508], den noch von Friedrich
preisgekrönten Dichter, dessen „Quatuor libri amorum" Dürers
Zeichnungen schmückten, den Herausgeber der Opera Roswithae
und den Entdecker der Tabula Peutingeriana, die Büchersammlung
zu ordnen und zu verwalten, wobei dann auch die Bücherei des
Geltes nach dessen Tode in der kaiserlichen aufging, bezeichnete den
Beginn einer bestimmten Bibliotheksentwicklung. Unter des Geltes
Nachfolger Johannes Cuspinianus [Spieshaym aus Schwein-
furt] [1443—1529], ebenfalls einem ausgezeichneten Bibliophilen und
Humanisten, kamen neben manchem Klosterbesitz auch die Über-
reste der Bibliotheca Corvina von Ofen nach Wien. Diesem
folgten in der Aufsicht der kaiserlichen Büchersammlung Caspar
vonNydpruck und der Leibarzt Kaiser Ferdinands L, Wolf gang
Lazius [1504—1555], dessen eigene Büchersammlung 1608 in die
Hofbibliothek gelangte. Unter seiner Leitung vermehrte sich diese
vor allem durch den Erwerb der [teilweise in die Bibliothek des
St. Nikolaus- Kollegiums gelangten] mit der des Johann Alexander
238
16. JAHRHUNDERT
Brassicanus [1500—1539] verbundenen berühmten Büchersamm-
lung des Bischofs von Wien Johannes Faber [Heigerlin 1478
— 1541],- des gelehrten und redlichen Mannes, der seinen Bänden
einen gedruckten oder geschriebenen Besitzvermerk einzuverleiben
pflegte, in dem er erklärte, er habe sie nicht aus seinen bischöf-
lichen Einkünften erworben, sondern mit durch andere ehrliche
Arbeit verdientem Gelde. Damals ist auch die Bücherei des
Johannes Dernschwamm von Hradiczin in die kaiserliche auf-
genommen worden. Die 240 Handschriften, die A. von Busbecke
von seiner Gesandtschaft aus Konstantinopel heimgebracht und die
Kaiser Maximilian II. der Hofbibliothek zugeführt hatte, kamen in
einer dem Abschluß ihrer humanistischen Periode folgenden Ruhe-
zeit in die Sammlung, die erst wieder der erste beamtete Bibliothekar
Hugo Biotins [aus Delft] zu neuem Leben erweckte, weshalb
Lipsius die elegantesten Philologenhöflichkeiten in der Widmung
seiner Tacitusausgabe an den Kaiser nicht sparte. ,,Una Viennensis
aula Tua plures eruditos habet quam aliorum tota regna^\ schrieb
er dem Monarchen, hinzufügend: „quibus et Bibliothecam jam
instruxisti sie adfluentem omni genere monumentorum, ut certamine
cum Philadelpho et Pergamenis regibus instituto vel superare eos
posse videaris, vel certe aequare." Die 2618 Bände Druckwerke und
Handschriften, die die Bibliothek des Arztes und Kaiserlichen Rates
Johannes Sambucus [Sambuky 1531—1583] bildeten, brachten
eine Büchersammlung, die sich eines großen Rufes in Wien erfreut
hatte, nach dem Tode dieses Bibliophilen in die Hofbibliothek, die
allerdings in der Amtszeit des Biotins durch dessen allzu große Nach-
sicht bei der Benutzungserlaubnis auch manches Buch verloren
hatte, weshalb ihm der Freiherr Richard Strein von Schwar-
zenau und nach ihm Sebastian Tengnagel sein Nachfolger, bei-
geordnet wurden. Aller drei Bibliothekare Privatbibliotheken sind
nach ihrem Tode der Hofbibliothek zugeführt worden, die Streinsche,
1600, die des Biotins und die 4000 Bände enthaltende kostbare
Sammlung Tengnagels 1636. Zwischen 1651 und 1667 bereicherten
bedeutende Büchersammlungen die kaiserliche, die aus Augsburg
für 15000 Gulden erworbene ebenso viele Bände zählende Rai-
239
DEUTSCHLAND
mund Fuggerische, Bestände der Bibliothek Tycho Brahes,
die 6000 Bände, die 1665 aus Schloß Ambras nach Wien gebracht
wurden und die auserlesene Lambeckische Privatbibliothek, sowie
diejenige des spanischen Marques Gabrega. Als dem Petrus
Lambeck [aus Hamburg, gestorben 1680] von Kaiser Leopold
1663 sein Büchersaal anvertraut wurde, fand ihn der gelehrte Lite-
rarhistoriker in keiner guten Ordnung. Sein Verdienst war es, sie
wiedefKerzustellen, dazu in einem umfangreichen, unvollendeten
Werke, ,,Commentarii de Augusta Bibliotheca Caesarea*', den Wert
ihrer 80000 Bände für die Schrifttumsgeschichte zu erläutern. Lam-
becks bibliothekarisch-literarhistorische Tätigkeit bezeichnet für
die Hofbibliothek, die nun aus ihrer humanistischen und ihrer philo-
logischen Periode in die enzyklopädische gelangte, den Anfang
eines raschen Anwachsens, das allerdings erst im achtzehnten Jahr-
hundert auch zu einer äußeren Geltung kam in der höfischen Pracht-
entfaltung eines Prunkbaues, um dessen Vollendung sich die italie-
nischen Bibliothekare Kaiser Karls IL, sein Leibarzt Nicolaus
Pius Garelli [gestorben 1739] und Alexander Riccardi [ge-
storben 1726] bemüht hatten. In den weitberühmt werdenden
Büchereiraum kamen nun große Liebhaberbüchereien, die [1730] aus
den Niederlanden herangeschaffte des Freiherrn von Hohen-
dorf , die editiones optimae der antiken Klassiker enthaltend, in aus-
gesuchten Abzügen und Einbänden [6731 Bände Druckwerke,
252 Handschriften], die Cardonische Bibliothek aus Spanien
[4000 Bände], die ähnlich der Hohendorfischen ausgewählte Bücher-
sammlung des Prinzen Eugen von Savoyen [1738]. Es war
die Zeit, in der die allgemeinere öffentliche Benutzung der Hof-
bibliothek einsetzte, ihr öffentlichwerden. Diese ihre Umstellung
nach bibliothekstechnischen Gesichtspunkten zur Leistungsfähig-
keit einer wissenschaftlichen Zentralbibliothek durchgeführt zu
haben ist das Verdienst des [1772 gestorbenen] Bibliothekars und
Leibarztes der Kaiserin Maria Theresia, Freiherrn Gerhard von
Swieten. Er gab die doppelten überflüssigen Werke an die Uni-
versitätsbibliotheken in Prag und Innsbruck, sowie an verschiedene
Mendikantenklöster ab, er ließ die Bestände binden und einordnen,
240
16. JAHRHUNDERT
er suchte sie durch Ankäufe systematisch zu ergänzen, er zeigte, daß
die Einrichtung einer öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliothek
in derjenigen Verwaltung ihres Bücherschatzes einen Betriebs-
mittelpunkt habe, der ihre Verwertung erschließt. Seitdem sind noch
manche Privatbibliotheken von Rang in die Hofbibliothek aufgenom-
men worden, so diejenigen der Kaiser Leopold I., Karl VI.,
Josef II. und Leopold IL, die gräflich Starhembergische aus
Grätz, die Handschriftensammlung des Freiherrn von Schwach-
heim, die Dissertationenkollektion des Freiherrn von Sencken-
berg im achtzehnten Jahrhundert, die orientalischen Manuskripte
des Freiherrn J. von Hammer-Purgstall und die Papyrus-
sammlung Erzherzog Rainers [100000 Papyri] im neunzehnten.
Die Abgabe von Pflichtexemplaren aus der ganzen österreichischen
Monarchie hatte Kaiser Franz L, der seine Büchersammlung von
derjenigen der Hofbibliothek trennte, am 9. Juni 1808 angeordnet,
nachdem aus der Hauptstadt des alten deutschen Reiches die Kaiser-
stadt des österreichischen Staats geworden war.*
Anders als in Italien, wo das Band der auch nationalen Be-
wegung des Humanismus die Buchfreunde vereinte, anders als in
Frankreich, wo schon die Hauptstadt die beispielgebende Führung
des Buchwesens übernahm, blieb im Deutschland des fünfzehnten
Jahrhunderts das Büchersammelwesen ohne einen festeren Zu-
sammenhang. Die Ursache dafür, dafi BibUophilen und Bibliophilie
hier lange lokalisierte Erscheinungen gewesen sind, dafi etwa ein Buch-
freund im Osten seine Bücherei nach den Mustern einrichtete, die er
von Welschland heimgebracht hatte, ein anderer im Westen sich
keineswegs eine ähnliche Bücherei sammelte wie ein dritter in der
Nachbarstadt, ist indessen keineswegs allein aus der staatlichen Zer-
rissenheit der deutschen Lande oder aus der deutschen Vorliebe für
fremdländisches Wesen zu erklären. Kulturell, nicht nur politisch,
war Deutschland noch derart vielgestaltig, dafi selbst Süddeutschland
nicht als ein ganzes Gebiet deutschen Geisteslebens gelten konnte.
Das unstete Wanderleben, das manche deutsche Humanisten
führten oder führen mufiten, war ruhigem Sammeln nicht zuträg-
lich. Ullrich von Huttens [1488—1523]* Antwort an die Mainzer
BOOEKO 16 * Abb. 147, 167—169 241
DEUTSCHLAND
Bürger auf ihre Drohung, seine Bücher verbrennen zu wollen:
„Verbrennt ihr meine Bücher, verbrenne ich eure Stadt" beleuchtet
solche Fährlichkeiten, in die allzuleicht humanistisch-reformatorische
Streitlust den Buchfreund führen konnte. Wurde doch sogar der
bedachtsame Johannes Reuchlin [1455 — 1522], der seine Bücherei
seiner Vaterstadt Pforzheim vermachte, durch seine Bücherlust in
den Kölner Judenbücherstreit verwickelt. Allzu rasch flammten
auch die Bücherscheiterhaufen auf, wenn es galt, dem Gegner die
Waffen seines Wortes zu zerstören. Und die Kämpfe der politisch-
religiös-sozialen Wirrungen schonten mit anderem Besitz die Bücher-
sammlungen nicht. Wie viele von ihnen hat nicht allein der Bauern-
krieg zerstört.
Der gelehrte Reisende war seit dem fünfzehnten Jahrhundert
eine gewohnte Erscheinung. Lehrend, lernend und sammelnd be-
suchte er die Musensitze in den verschiedenen Ländern und knüpfte
Beziehungen an, die ein gelehrter Briefwechsel festhielt. Der Begrün-
dung von Büchersammlungen waren derartige Reisen günstig, blieben
doch bis in das achtzehnte Jahrhundert die ausgedehnten Bücher-
reisen das hauptsächliche Mittel einer Büchereivermehrung größeren
Umfanges, weil der Altbuchhandel allein in den bedeutenderen
Städten eine eigene Geschäftsentwicklung gewonnen hatte und die
Bestellungen durch Bezugsschwierigkeiten gehemmt wurden. Der
später vielleicht fernab von den Verkehrswegen lebende Student
benutzte deshalb auch die Studienjahre, um den für seinen Beruf
nötigen Bücherschatz zusammenzutragen, für dessen Vermehrung
er weiterhin nicht mehr mit solcher Freiheit der Bücherwahl sorgen
konnte. Wenn seine Mittel und seine Neigungen ihm die Ausbil-
dung eines feineren Buchgeschmackes gestatteten, bildete er sich in
der Fremde wohl auch zum Bücherliebhaber wie die deutschen Stu-
denten Damianus Pflug aus dem Hause Knauthayn, der in den
vierziger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts in Leipzig, Paris
und Bologna war, und der ihm etwa gleichalterige, von 1542 — 1548
in Bologna studierende Nicolaus von Ebeleben,* deren Namen
durch die schönen Einbände, die sie sich fertigen ließen, bekannt
geworden sind. Aber im allgemeinen blieb doch der von Sebastian
242 * Abb. 146
16. JAHBHUNDEBT
Brant schon 1494 in heiterem Selbstspott seinem Narrenreigen voran-
gestellte deutsche Büchergeck mehr ein Quantitäts- als ein Qualitäts-
sammler. Ausnahmen bestätigen diese Regel. Zu ihnen hatte der
jung verstorbene schlesische Humanist Thomas Rehdiger [1540
— 1576] gehört, ein Schüler Melanchthons und Freund des Cujacius,
der auf seiner Bücherfahrt in Frankreich, Italien und den Nieder-
landen seit 1561 manches Prachtstück aufzufinden wußte. Die
Bibliotheca Rehdingeriana hinterließ er seiner Vaterstadt Breslau,
wo sie erhalten blieb. Den Büchersammlungen des Fürstbischofs
[1573] und Stifters der Universität von Würzburg, Julius Echter
von Mespelbrunn [1545—1617]* ist das Geschick nicht so günstig
gewesen, sie sind im Dreißigjährigen Kriege zerstreut worden. Sonst
würde dieser durch Gelehrsamkeit und Geschmack, Macht und Mittel
ausgezeichnet gewesene Mann mit seinem Namen unter den berühm-
ten Buchfreunden des sechzehnten Jahrhunderts nicht zu Unrecht
vergessen worden sein. Anders als der Einbandliebhaber Petrus
Ugelheimer* aus Frankfurt a^ M., der seit 1483 als Geschäfts-
genosse des Druckers Nicolas Jenson in Venedig weilte, anders als
die im Auslande sich bereichernden buchkunstfreudigen Studenten
hat er auch die Einbandkunst deutscher Werkstätten gefördert.
Die Autorität des Buches, von den Humanisten neu auf die
seines Verfassers gegründet, hatte durch Luthers Reformation seine
schwerste Erschütterung erfahren. Dem Index der von Rom ver-
botenen und verdammten Bücher stellte sich eine andere Liste
solcher Bücher entgegen, ein Bücherstreit sondergleichen entfachte
sich an den Flammen des Scheiterhaufens, in dem am 10. Dezember
1520 die Bannbulle des Papstes, die vom Papste anerkannten
Kirchen- und Rechtslehrer in effigie mit den Blättern ihrer Bücher
verbrannten. Auch ein äußerer Umschwung im Schrifttum vollzog
sich nun, die Bände schwerfälliger Gelehrsamkeit wichen den be-
weglichen Streitschriften, den Trägern der öffentlichen Meinung,
mit ihr entwickelten sich die Begriffe der Presse und der Preß-
freiheit. Den Geistlichen und Gelehrten war das Buch von den Hu-
manisten fortgenommen worden, um es den Gebildeten zu geben,
die Reformatoren gingen noch einen Schritt weiter oder zurück, sie
16* *Abb. 156, 158, 145 243
DEUTSCHLAND
wollten es den Einfältigen, den Nichtgebildeten, den Nichtgelehrten
schenken, dem Volke. Nicht das Buch, denn das Buch ist nun nur
eine Waffe, sondern das Wort. Ein Rückgang des Schrifttums, der
wissenschaftlichen Veröffentlichungen war zunächst die Folge, eine
mehr buchgewerbliche als geistesgeschichtliche Erscheinung, die
aus der erst allmählichen Überwindung des entstandenen Zwie-
spaltes zwischen Buch und Presse hervorging. Denn neue Bahnen
waren der Bibelverbreitung als der eines Volksbuches geöffnet, neue
Wege dem Denken freigemacht worden. Und wie die Reformation
den deutschen Norden und Süden trennte, verschob sie auch das
Schwergewicht des deutschen Buchwesens nach Norden, ließ von
Wittenberg her ein neues deutsches Buchland sich ausbreiten, in-
dessen im Süden die Dürre eben sich entfaltenden Blütenreichtum
vernichtend traf. Erst die Gegenreformation und die Jesuiten
schufen einen Ausgleich durch neu sich bewährende Buchpflege.
Bildungsstätten und Büchersammlungen pflegen in engster
Verbindung miteinander zu stehen. Der Betrieb der Wissenschaften
in seinem Zusammenhange mit dem Buchwesen bewirkt die natür-
lichen Voraussetzungen für die Privatbibliotheken, die abhängig
sind nicht allein von den Beschaffungsmöglichkeiten der Bücher,
sondern auch von den Auffassungen, die über die Gelehrsamkeit
gelten. Das gilt wenigstens überall da, wo Bildung und Gelehrsam-
keit noch untrennbar verbunden scheinen, wo also andere als wissen-
schafthche Büchereien nicht angelegt werden, im gewissen Sinne bis
heute noch. Denn mag auch die Buchverbilligung und Buch-
verbreitung durch die Erfindung Gutenbergs die Büchersammlungen
vermehrt haben, mögen auch Bibel und Gesangbuch durch die Re-
formation volkstümlich geworden sein, mag auch die Entstehung der
Fachwissenschaften, die Einschränkung der internationalen lateini-
schen Literatur durch die Nationalliteraturen, die buchhändlerische
Verkehrsentwicklung eine Allgemeinbildung ausgebreitet und durch
sie bedingte und bestimmte Büchersammlungen hervorgerufen
haben: solange deren Vorhandensein nicht der Ausdruck einer Welt-
anschauung wurde, die der Einteilung der Wissenschaften eine feste
Richtung gab, konnten sie Selbständigkeit als solche nicht erreichen.
244
16. JAHRHUNDERT
Die bibliographische Systematik, die die Beherrschung der Bücher-
massen durch bibliothekarische Technik zu erreichen strebt, ist der-
art untrennbar mit der Metaphysik und Erkenntnistheorie verbunden.
Wenn in der Philosophie und Religion diese höchsten Probleme um-
stritten werden, ohne daß eine herrschende Meinung sich durch-
zusetzen vermag, kann es auch keine allgemeiner gültige Systematik
geben, die ausgleichend den Büchersammlungen Halt verleiht. Dann
herrscht eine von dem einzelnen nur zu überbrückende, nicht zu
überwindende Unsicherheit in den Wissenschaften.
Die Bedeutung kirchlicher Bildungsstätten hatte sich ge-
mindert, je mehr die weltlichen Wissenschaften zu weltUchen Be-
rufen wurden und den Umkreis der Universitäten weiteten, die die
Autorität eines unabhängig vom Glauben werdenden Wissens
verstaatUchten. Der geistige Kampf, in dem die Kirchenlehre und
die gegen sie gerichteten Loslösungsbestrebungen sich auseinander-
setzten, dauerte jahrhundertelang, ist nach Form und Inhalt eine
so verschiedenartige Wandlung der Denkrichtungen und Denk-
weisen gewesen, daß seine Kennzeichnung durch einige Schlagworte
mißglücken muß. Auch sein Ausbruch oder Ausklang läßt sich
nicht, so verlockend es wäre, symbolisch in dem Ortsnamen Witten-
berg zusammenfassen. Nicht nur, daß die Reformation kein bloßer
Religionsstreit gewesen ist, daß ihre politischen und sozialen Trieb-
kräfte sie zu einer Revolution werden ließen, nicht nur, daß in ihrem
Verlaufe dogmatische Erneuerungen von amtUchen, von Fakultäts-
wissenschaften sich vollzogen, die längst schon vorbereitet waren,
weist auf das Durcheinander schwer zu umgrenzender innerer
Widersprüche, sie erscheint, mag das in der Wendung, die sie auf
die Gesetze der Wirklichkeit hin nimmt, auch zurücktreten, in einem
Polaritätsproblem wurzelnd, dem der Denkwissenschaft und der
Gefühlswissenschaft, als welche man die Mystik in ihrem eigentlichen
Sinne bezeichnen muß. Daraus aber ergeben sich derart mannig-
fache, in die Vergangenheit, in die Zukunft der Reformationsepoche
führende Beziehungen, daß ihre Einflüsse auf das Buchwesen in
seiner Vertiefung auf den Horizont der Weltanschauungsbilder zu
sich kurz nicht erkennbar machen lassen. Doch auch eine äußere,
245
DEUTSCHLAND.
lokale Orientierung ist nicht ohne weiteres gegeben. Die Begründung
von Hochschulen, von Vororten geistigen Lebens, ist weit weniger
als die von wirtschaftlichen Gemeinwesen von natürlichen Vorbedin-
gungen bestimmt, die ihnen ihre Lage auf der Landkarte anweist.
Andere Einflüsse entscheiden, die bedeutende Persönlichkeit, die
die Sage gern zum Städtegründer wählt, ist für die Anstalten, die
einen Bildungshöhe- und -mittelpunkt weisen sollen, mögen sie Uni-
versitäten oder sonstwie heißen, sehr viel wesentlicher. Wenn in
den deutschen Landen im Südwesen die Universitäten früher und
zahlreicher vorhanden gewesen sind als im Norden und Osten, ent-
spricht das dem Fortschreiten der Zivilisation. Und wenn dann
die im Nordosten entstehenden Universitäten auch die Burgen der
Reformation geworden sind, ist diese ihre Eigenart ihnen auch aus
ihrer |staatlichen Zugehörigkeit zu den Ländern reformierender
Fürsten erwachsen. Seitdem in den politischen Auswirkungen der
Reformation Nord- und Süddeutschland die engere geistige Gemein-
schaft verloren, fiel die eigentliche Führung im deutschen Geistes-
leben vorübergehend den norddeutschen Bildungsstätten zu und
mit ihnen verbanden sich die großen Namen einer neuen Blütezeit
des deutschen Schrifttums.
Lange sind Erfurt [gegründet 1392] und Leipzig [gegründet 1409]
mit dem abgelegenen Rostock [gegründet 1419] sowie Greifswald [ge-
gründet 1456] und dem polnischen Krakau [gegründet 1401] die
nicht allzustarken Bollwerke des geistigen Deutschland im Nord-
osten geblieben. Um 1400 gehörte Leipzig schon den Wettinern,
nicht viel später gelangte die alte |sächsische^Kurwürde an eine ihrer
Linien, der das Herzogtum Sachsen- Wittenberg zufiel. In der zweiten
Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts kamen alle Wettinischen Län-
der noch einmal in der Hand ;zweier gemeinsamsam regierenden
Brüder zusammen. Aber bereits 1485 teilte sich das Gesamthaus in
die beiden Hauptlinien der Ernestiner und Albertiner. Diese er-
hielten durch die Teilung Leipzig, jene, im Besitze der Kurwürde,
blieben ohne Hochschule. Anregungen des Kaisers Maximilians L,
der Bildungsdrang, |hervorgerufen durch den Humanismus, Rück-
sichten auf das Staatswesen, sie alle werden bei der Begründung
246
16. JAHBHUNDEBT
Wittenbergs [im Jahre 1502] durch den Kurfürsten Friedrich den
Weisen mitgewirkt haben. Dem Beispiel folgend, das die Fürsten-
höfe ItaUens boten, wollte dieser Herrscher einen Musenhof aus
seiner kleinen Residenzstadt schaffen. Ließ sie sich an Reichtum
auch den großen Städten Süddeutsclhands nicht vergleichen, war
sie auch abgelegen von den Wegen, auf denen sich rasch die Stätten
damaliger Kunst und Wissenschaften verbanden, Ehrgeiz und
Prunkliebe vermochten viel. Aufträge und Berufungen gaben den
gefeiertsten Künstlern der Zeit Beschäftigungen, die kurfürstlichen
Hofbauten begannen das arme Land zu schmücken. Aber alles das
blieb nur eine kurze Glanzzeit hindurch, die ihr Ende in den Re-
formationskriegen fand. Und Johann Friedrich L, der Großmütige,
der 1552 aus der Gefangenschaft heimkehrte, wählte Weimar zum
Aufenthaltsorte seines Hofstaates.
Als Martin Luther, im Wintersemester 1508/09, in Witten-
berg immatrikuliert wurde,* zeigte die Universität und ihr Unter-
richtsbetrieb zwar äußerlich noch das Formengepräge des Mittel-
alters. Immerhin machte der neue Geist sich in größeren und kleine-
ren Änderungen bemerkbar. In der Artistenfakultät bemühten sich
die Humanisten um die Verbesserung der lateinischen und auch der
griechischen Sprachstudien, in der Philosophie war von den drei
führenden Aristotelesschulen im Jahre vorher ein Occamist, ein
Vertreter der gegenüber dem Thomismus und Scotismus modernen
Richtung, berufen worden. Die Auslegung der Bibel, auf die seit
1509 das Lehramt des Doktors der Theologie Luther sich gründete,
brachte von neuem das Buch, das schon in der frühchristlichen Zeit
der Mittelpunkt aller Büchersammlungen, die sich nach ihm richten
sollten, gewesen war, auf diesen Platz und veränderte so von Grund
aus das Gefüge des Schrifttums. Einmal, indem es den alten, vom
Humanismus überwundenen Gegensatz christlicher und heidnischer
Werke in einen neuen Gegensatz zwischen katholischen und refor-
matorischen verwandelte und derart bald eine auf alle Fakultäten
sich erstreckende Bibliothekenscheidung herbeiführte. Dort wurden
die ketzerischen Bücher den Lesern verboten, hier ihnen die päpst-
lichen verwiesen. Dazu kam, daß auch ein rasch sich verbreiternder
* Abb. 149 247
DEUTSCHLAND
Riß den Aufbau der Wissenschaften zerstörte. Gegen des Aristo-
teles Autorität wendete sich die Gnadenlehre Luthers, seine Hin-
neigung zu Augustinus gegen die Scholastiksysteme. Gab man im
humanistischen Klassikerkanon der Bibel den ersten Platz, so fanden
auch gleichzeitig die Realien in dem Bestreben Luthers, die Bibel
sachhch zu erläutern, einen festen Stützpunkt, der in dieser Epoche
der Entdeckungen und Erfindungen mit ihrer Erweiterung des Welt-
bildes zum Träger anderer Weltanschauungen erstarkte, die die
Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften trennte. All-
mählich beginnen die sich ansammelnden . Büchermassen ihre Lage-
rung zu verschieben, die Büchersammlungen, deren Auswahl Längs-
und Querschnitte durch sie zeigt, heben nach und nach die einzelnen
Schichten der sich nun abgrenzenden Fachwissenschaften schon deut-
lich hervor, eine Entwicklung, die freilich erst mit dem Ende des
siebzehnten Jahrhunderts einen Abschluß findet, in einer Zeit, in
der ausgebildete oder sich eben ausbildende Nationalliteraturen
einerseits eine Scheidung der schönen und der sonstigen Wissen-
schaften, der Bildungs- und der Gelehrsamkeitsliteratur bestimmen,
andererseits der Gelehrtenrepublik mit ihrer lateinischen Sprache
die internationale Geltung nehmen. Die Beschränkung auf die
Bibel hätte leicht von neuem eine Einschränkung der anderen
Wissenschaften auf bloße Hilfswissenschaften herbeiführen können.
Daß die Exegese, die Philologie, die jetzt vor der Philosophie, der
Spekulation, einen Vorrang gewann und die mit der Einfügung des
Hebräischen in die akademischen Studien eine Aufnahme der Lite-
raturen des Orients vorbereitete, nicht im Banne der Theologie
blieb, sondern ihren Anschluß an die Forschungsgebiete suchte, die
von den Humanisten gefunden waren, daran hatte der neben Luther
angesehenste Prof essor Wittenbergs , Philipp Melanchthon, einen
nicht hoch genug zu schätzenden Anteil. Als Ausgangspunkt der
Bewegung der Reformation, als ihr Hort, der bis zu Luthers Tode
und darüber hinaus der kleinen nordischen Universitätsstadt für
das Reformationsgebiet die Stellung gab, die sich derjenigen der
Hauptstadt des Katholizismus, Roms, vergleichen läßt, war Witten-
berg auch für das Buchwesen der Reformation maßgebend geblieben,
248
16. JAHKHUNDERT
mit dem Ende der Ernestinischen Macht [1547] minderte sich darin
ihr Ansehen, obschon der Albertiner Moritz Leipzigs, seiner alten
alten Universität Nebenbuhlerin, die Unterstützung nicht versagte.
Eine große, vielbesuchte Bildungsstätte ist bis zu den dreißigjährigen
Kriegswirren Wittenberg geblieben. Aber allgemach verlor es die
ausschlaggebende Bedeutung, die ihm in Luthers Tagen zugekommen
war. Mehr und mehr wurden die reformatorischen Streitigkeiten
zu theologischen Angelegenheiten, verblaßten die reUgiösen Fragen,
zu deren Herolden sich die Reformatoren gemacht hatten, hinter
den politischen und sozialen, zu deren Lösung die Reformation
führen sollte.
Wenn die mit der Universität 1502 gegründete Universitäts-
bibliothek in Wittenberg* nicht die Bücher der Reformations-
literatur in sich vereinigte und späteren Jahrhunderten verwahrte,
so lag das vor allem an den besonderen politischen Verhältnissen,
aber doch auch daran, daß damals die Aufgaben und die Bestim-
mung einer solchen wissenschaftlichen Büchersammlung keines-
wegs klar umgrenzt waren. An Eifer ließen es weder Friedrich der
Weise noch der Wittenberger Bibliothekar Georg Spalatin
[Burckhard 1484 — 1545] fehlen, eine Akademiebibliothek hohen
Ranges zu schaffen. Mit Aldus Manutius traten sie für den Bücher-
kauf in unmittelbare Verbindung, der Büchersaal im Schlosse er-
freute sich, auch das war damals nicht die Regel, einer wohlan-
ständigen Ordnung. Aber die 3000 Bände dieser „alten" Universitäts-
bibliothek Wittenberg wurden als Besitz der Ernestiner 1548 in das
Gymnasium nach Jena überführt, das zehn Jahre später zur Uni-
versität erhoben wurde, der neuen blieb eine rechte Entwicklung
versagt, allein der Anfall einer kostbaren Privatbibliothek, der des
1812 gestorbenen Geheimen Kriegsrates v. Po nick au, in Dresden,
12000 Bände zur sächsischen Geschichte, die dieser Sammler ihr
am Ende des achtzehnten Jahrhunderts schenkte, vermehrte sie
mit wertvollem Büchergut, das nun in der 1696 entstandenen Uni-
versitätsbibliothek Halle verwahrt wird. Es konnte nicht fehlen,
daß neben diesem wissenschaftlichen Sammeleifer auch solche
Äußerungen der Bibliophilie zu ihrem Rechte kamen, die dem Buche
* Abb. 150 249
DEUTSCHLAND
der Reformation die höchsten Ehren zuerkennen wollten, die einer
kostbaren und künstlerischen Ausstattung verdankt werden. Hatte
schon der Bildschmuck neuer volkstümlicher Art, den die Drucker,
unterstützt von ausgezeichneten Holzschnittmeistern, den Bibel-
werken und Flugschriften mitgaben, die Ausbildung eines eigenen
Stils für das Buch der Reformation gefunden, so bereicherte die
schöne Übung, mit Bücherwidmungen für die neue Lehre zu werben,
auch die Bücherliebhaberei. Standen doch die Reformatoren selbst
durch Schriftensendungen untereinander in reger Verbindung und
waren sie doch für ihre fürstlichen Gönner die Vertrauensleute von
deren neuen Büchersammlungen, die dafür zu sorgen hatten, daß
diese mit den echten Ausgaben versehen wurden, wie sie selbst auf
solche Wert legen mußten. Derart verbanden sich hier biblio-
graphische und theologische Fürsorge zu einer Art des Bücher-
sammelns, die auch weiterhin die maßgebende für die Reformations-
literatur sein mußte.
Denn diejenige Begleiterscheinung der Reformation, die buch-
gewerblich und auch für das Büchersammelwesen außerordentlich
folgenreich war, ist der Nachdruck. Nicht allein, daß er den Ver-
fassern und Verlegern die rechtswirtschaftliche Herrschaft über ihre
Bücher entzog, ein um so fühlbarer werdender Umstand, je mehr
Schriftstellertum und Verlegertätigkeit zu besonderen Erwerbs-
zweigen wurden, denen erst das Urheberrecht des neunzehnten Jahr-
hunderts Rechtssicherheit verleihen sollte. Auch die Überlieferung
eines Werkes wurde damit unsicher und zweifelhaft, die Leser
wußten nicht mehr, ob sie noch die echten Texte vor sich hatten,
die für die Humanisten ^die besten Rezensionen gewesen waren, die
jetzt aber schon in der Anerkennung des getreuen Wortlautes einer
Druckschrift bestanden. Kirchliche und wissenschaftliche Zensur
approbierten nun wohl schon die gereinigten Texte der guten Aus-
gabe. Indessen blieb das Vertrauen auf sie gering, wenn in dem
Briefwechsel der Reformatoren die Klagen über Nachdruckverfäl-
schungen der rechten ^Überlieferung eines Werkes immer wieder-
kehrten, Klagen, die die echten Ausgaben sammeln und suchen ließ.
Derart entwickelte sich an den Lutherautotypen der Begriff der
250
16. JAHRHUNDERT
bibliographisch aufgefaßten Originalausgabe, der der Druckwerk-
vervielfältigung entsprach, ein neues Sonderungsverfahren der guten
und schlechten Bücher nach ihren guten und schlechten Ausgaben;
der guten Ausgaben, die ein Verfasser selbst geleitet oder doch ge-
nehmigt hatte und der ohne seine eigene Mitwirkung entstandenen
schlechteren.
Als das Beispiel der ;Bibliophilie des Reformationszeitalters
können die Fürstenausgaben gelten, so die auf Bestellung Königs
Christian III. von Dänemark und seines Schwiegersohnes Kurfürst
August von Sachsen [1526—1586]* 1559 ausgeführten Bibel-
pergamentdrucke. Die mit Geschmack und Liebe gesammelte,
großenteils in seinem Schlosse Annaberg bei Torgau untergebrachte
Prachtbibliothek dieses bücherliebenden Fürsten zeichnete sich vor
allem durch ihren Einbandprunk aus, dessentwegen Kurfürt August
der deutsche Grolier heißen könnte. Denn für ihn war als sein Hof-
buchbinder von 1566 bis 1585 ^'der Zwickauer Jacob Krauße*
tätig, der Meister des deutschen Renaissancebandes. Zwar haben
viele der 4000 Bände, die nach des Kurfürsten Tode nach Dresden
kamen, wo sie zum Grundstock der heutigen Sächsischen Landes-
bibliothek wurden, in Samt, Seide, Atlas, in weißes, grünes, rotes
Pergament gebunden, ihren alten Glanz verloren. Aber noch immer
bezeugen die auch farbig verzierten, im reichsten Goldschmuck
strahlenden, bald mit kursächsischem Wappen oder dem der Kur-
fürstin Anna, bald mit dem Bildnis des Sammlers, bald mit dem
Buchtitel ausgeschmückten Kalblederbände den künstlerischen
Reichtum ihres Schöpfers und verweisen auf einen Höhepunkt deut-
scher Einbandkunst und Einbandliebhaberei, der um so auffallender
ist, als er vereinzelt weit über die sich ausbreitende buchgewerbliche
Verflachung jener Zeit hinausragt.
Die Aufhebung der jKlöster, die die Reformation veranlaßte,
verweltlichte auch deren Büchersammlungen, die, den Landesherren
zufallend, fürstlich wurden, und solcherart zumeist in die gegen-
wärtigen Landes- und Universitätsbibliotheken gelangt sind, ein
Vorgang, den die Säkularisationen 1803 wiederholten, diesmal er-
folgreicher, weil einerseits die bessere bibliothekstechnische Organi-
*Abb. isx, 152—154 251
DEUTSCHLAND
sation die Zentralisation erleichterte, andererseits die an alten Be
ständen reicheren süddeutschen geistlichen Teritorien betroffen
wurden. Ähnlich, allerdings in Unordnung und unter Verlusten, er-
gab sich als eine Folge der großen Revolution in Frankreich die
Beschlagnahme auch des Büchergutes der Kirche für den Staat,
während im neunzehnten Jahrhundert Spanien und zuletzt das
Königreich Italien die geistlichen Bibliotheken für ihre öffent-
lichen Sammlungen gewannen. Auf die Einzelheiten einzugehen,
erübrigt sich hier, obschon durch freihändige Verkäufe geldbedürf-
tiger geistlicher Anstalten heimlich manch kostbares Stück den
büchersuchenden Liebhabern verkauft worden ist — die bibUo-
graphischen englischen Expeditionen auf dem Kontinent seit dem
sechzehnten Jahrhundert machten sogar eine Methode aus diesem
Buchgeschäfte — und der |Altbüch,ermarkt bei den Dubletten-
auktionen der öffentlichen Bibliotheken noch späterhin Nutzen aus
diesen ehemals geisthchen Schätzen zag. Damit sind die in modernen
Privatbibliotheken häufigen kirchlichen Provenienzen erklärt. Im
übrigen ist durch Umstände besonderer Art da und dort eine ,alte
Klosterbibliothek^ diese recht weitgehende Bezeichnung ist nicht
gerade immer so romantisch wie sie scheint^ den Bücher Sammlern
des neunzehnten Jahrhunderts vorbehalten worden. Derartige Ge-
legenheiten sind auch in früheren Jahrhunderten zahlreich gewesen,
aber ihre Ausnutzung begegnete noch nicht dem bibliophilen Inter-
esse an der Provenienz, das für die Handschriftenherkunftnach-
weisung ein allgemeinwichtiges wissenschaftliches ist.*
Die deutschen Schul- und Stadtbibliotheken entstanden eben-
falls meist aus den aufgehobenen Klosterbibliotheken. Die alten
Dom- und Klosterschulen hatten keine eigenen Sammlungen gehabt
uod die seit dem fünfzehnten Jahrhundert da und dort entstandenen
RatsbibUotheken waren kaum mehr als juristische Handbibliotheken
für den Gebrauch der Ratsherren gewesen. In den Jahrzehnten der
Reformation kam es dann mit dem Freiwerden alter Büchervorräte
auch zu größeren neuen selbständigen Vereinigungen von solchen,
aus denen, je nach Lage der örtlichen Umstände, Kirchen-,
Schul- und Stadtbibliotheken hervorwuchsen. Das Bildungsmittel
252 *Abb. 163, 165, i66
16. JAHRHUNDERT
der Büchersammlungen wollte Luther, denn die Jugend sollte dem
Reformationsgedanken gewonnen werden, den Schulen aneignen,
sein Sendschreiben an die Bürgermeister und Rathserren empfahl:
„Auch ist dies wohl zu bedenken allen denjenigen, so Liebe und
Lust haben, daß solche Schulen und Sprachen in deutschen Landen
aufgerichtet und erhalten werden, daß man Fleiß und Kosten nicht
spare, gute Bücherhäuser, sonderlich in den großen Städten, die
solches wohl vermögen, zu beschaffen. Denn wenn das Evangelium
und allerlei Kunst bleiben soll, muß es in Bücher und Schrift gefaßt
und wohl bewahrt sein. . . . Aber mein Rat ist nicht, daß man ohne
Unterschied allerlei Bücher zusammenraffe und nur an die Menge
denke. Ich wollte die Wahl darunter haben und mit rechtschaffenen
Büchern meine Librarei versorgen und gelehrte Leute darüber
zu Rate ziehen. Erstlich sollte die Heilige Schrift auf lateinisch,
griechisch, hebräisch, deutsch und ob sie noch in mehr Sprachen
vorhanden wäre, darinnen sein. Danach die besten Ausleger und
solche Bücher, die dazu dienen, die Sprachen zu erlernen, als die
Dichter und Redner, ferner die Bücher von den freien Künsten, zu-
letzt auch der Rechte und der Arznei Bücher. Zu den vornehmsten
aber sollten die Chroniken und Geschichtsbücher gehören. Denn
dieselben sind wunder nütze, der Welt Lauf zu erkennen und zu
regieren, ja auch Gottes Wunder und Werke zu sehen."*
Daß die scharfe Scheidung des deutschen Nordens und Südens,
deren Ursache die Reformation war, am Ende eine Absonderung der
süddeutschen Schrifttumsbewegung von der norddeutschen herbei-
iührle, daß die weniger starken Hemmungen unterliegende nord-
deutsche Kulturentwicklung zur deutschen Kulturentwioklung über-
haupt wurde, während die geistige Kultur des „Reiches" mehr und
mehr zurückblieb, zeigt sich auch in der Entwicklung der Bücherlieb-
haberei seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts. Von den in
Verzeichnissen gedruckten oder in anderen Werken beschriebenen
vorzüglichsten Privatbibliotheken, die Klemms Geschichte der
Sammlungen mit ihrer Jahreszahl angibt, kommen auf die Zeit vom
Ausgange des siebzehnten Jahrhunderts bis zum Jahre 1739 73 Biblio-
theken und davon entfallen zehn [13 ®/o] auf den Süden und .Westen.
♦Abb. i6i. 162,164 253
DEUTSCHLAND
Das lutherische Mittel- und Norddeutschland und die freie Stadt
Frankfurt a. M. sind die Vormacht des bibliophilen Deutschland
im achtzehnten Jahrhundert geworden.
In dem Dreißigjährigen Kriege, der die deutschen Sitten ver-
wildert, die deutsche Wirtschaft zerstört hatte, ist auch das Be-
wußtsein einer deutschen Bildung und das Selbstbewußtsein auf sie,
die nationale Einheit, die aus der Sprache hervorgeht, vermindert
worden. Eine unmittelbare Folge der Kriegswirren ist jene Ver-
fallszeit der deutschen Dichtung- und des deutschen Schrifttums
jedoch nicht gewesen, schon im ersten Viertel des siebzehnten Jahr-
hunderts waren sie, ein Vorzeichen politischer Wirkungen, zu ihrem
Tiefstand gekommen, aus dem sie zu erhöhen Opitz und die Sprach-
gesellschaften genannten literarischen Vereine vergeblich, weil mit
falschen Mitteln versuchten. Büchersammlungen, die in diesen bis
in das achtzehnte Jahrhundert sich hinziehenden geistigen Einöden
schon einen eigenen nationalen Charakter gewonnen hätten wie in
England, in den Niederlanden, in den romanischen Staaten, konnten
nicht entstehen. Die Gelehrten wohnten noch in der internationalen
lateinischen Republik und diejenigen Buchfr.eunde, die geschmack-
voll sich auf die Schätzung geistiger Schöpfungen verstanden, blick-
ten mehr, obschon vielleicht neidvoll, auf das Ausland. Denn un-
bekannt war ihnen auch die deutsche Vergangenheit. Ein Mann wie
Michael Moscherosch [1601—1669], der die Fremdtümelei, den
Mangel einer nationalen Gesinnung ^n Leben "und Literatur rügte,
mußte in fremden Schriften das Vorbild der eigenen suchen und in
seiner Bücherei eben jene Schriften vereinen, rfuf die er sich stützen
wollte. Die Büchersammlung, die er hinterlie^ßf war von ihm schon
in seiner Schulzeit angefangen worden, er hatte sie sich, auch ferner-
hin eifrig für ihre Vermehrung sorgend, dank seiner leidlichen Wohl-
habenheit trotz der bösen Zeitläufte erhalten können, so daß sie
das Beispiel einer ansehnlichen und auserlesenen deutschen Biblio-
philenbibliothek aus der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts
gibt. Nicht das Arbeitsmittel eines Gelehrten, sondern eines Schrift-
stellers, standen in ihr ebenso die Bände, die von den Bemühungen
der Mitstrebenden zeugten, deutsche Sprache und deutsches Schrift-
254
17. JAHRHUNDERT
tum wiederzugewinnen wie diejenigen, in denen sich die ausländi-
schen Muster boten, die für die wichtigsten gehalten wurden. Ein
anderer Bücherfreund, Landgraf Ludwig II. von Darmstadt, auch
er Mitglied der fruchtbringenden Gesellschaft gleich Moscherosch, er-
warb für 600 fl., die er dazu leihen mußte, die Büchersammlung, um
sie mit der eigenen zu verbinden ; sie kam in neun Fässern verpackt,
noch in Moscherosch Todesjahr aus Frankfurt nach Darmstadt, um
hier, in der Hofbibliothek, eine dauernde Unterkunft zu finden.
Frankfurt, die freie Reichsstadt am Main, ist durch seine Messen
früh schon ein Vorort des deutschen Buches oder doch des deutschen
Buchhandels gewesen. Der Büchermarkt der alten Handelsstadt reicht
bis in die Anfänge der Buchdruckerfindung zurück, in der seine weit-
blickenden und weitherrschenden Kaufleute die neue Buchware, die
in den Mainzer Werkstätten erzeugt wurde, durch ihre Geldgeschäfte
zu monopolisieren strebten. Und das Emporium Francfortiense,
das Henri Etienne rühmte, ist auch nach der Ausbreitung der Buch-
druckerkunst der grofie internationale Buchumlageplatz geblieben.
Die Buchgestaltung war durch das Druckwerk internationalisiert,
Buchhandel und Buchherstellung jedoch keineswegs im gleichen
Umfange. Das Absatzgebiet des Mittelalters war das kirchlich-
lateinische Europa gewesen, die lokalen Beziehungen bei der Buch-
herstellung hatten eine engere Verbindung mit den Autoren eines
Gebietes und seiner Geistesgeschichte aufrechterhalten. Darin war
eine Änderung eingetreten, seitdem das Buch dem Warenhandel ein-
bezogen wurde, der sich vom Buchgewerbe löste, die Buchhändler
mit ihren Lagern seßhaft werden ließ, die Großbetriebe in selb-
ständige Verlage wandelte, deren Erzeugnisse, nicht aber die Geistes-
werke selbst, Privilegien schützten, soweit sie reichten. Das Buch
verbilUgte sich und verschlechterte sich zugleich in wirtschaftlicher
Zwangslage, die zu erleichtern der Buchhandel festere Verkehrs-
formen suchte. Im Buchhandel und in der Bucherzeugung Deutsch-
lands hatte Frankfurt um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts
die Führung übernommen. 1564 erschien hier der erste Meßkatalog.
[Der letzte zur Ostermesse 1750.] 1635 war der Buchhandel in
Deutschland auf seinem Tiefstand angelangt, etwa ein Halbjahr-
255
DEUTSCHLAND
hundert später hatte das deutsche Buch sich gegen das lateinische
durchgesetzt, in einer Epoche, in der die polyhistorischen Privat-
bibliotheken mit ihren Folianten- und Quertantenmassen das ge-
lehrte Schrifttum durch seine Unbeweglichkeit fast zum Stillstand
verdammten. Weitausschauende Geister, wie Leibniz, bestrebten
sich nun, das Buchwesen für die Entwicklung der Wissenschaft zu
reformieren, indessen der Buchhandel seinen Mittelpunkt von
Südwesten nach Nordosten verschob. Gleichzeitig mit dem Vor-
dringen des Buches in deutscher Sprache, um 1680, wird Leipzig die
leitende deutsche Buchhandelsstadt, um die Mitte des achtzehnten
Jahrhunderts ist schon die Schöngeisterei und die Vielschreiberei an
die Stelle der Vieleswisserei getreten, sind Lesegesellschaften, die
rasch zu Leihbibliotheken werden, sind Flugschriften und Zeit-
schriften zu neuen Buchgewalten „die Lesesucht zum beynahe un-
entbehrlichen und allgemeinen Bedürniß^* [Kant, Über die Buch-
macherey. 1798] geworden. An der Schwelle dieses anbrechenden
papierenen Zeitalters, das bis dahin ängstlich gehütete Buchwerte
aufgibt, die eben entstehenden aber ihrer Massenhaftigkeit und ihrer,
im Sinne einer ernsten Buchgewichtigkeit, Minderwertigkeit wegen
auch nicht überschätzt, steht der berühmte Frankfurter Sammler
Uffenbach.
Zacharias Conrad von Uffenbach [1683 — 1734],* einer
angesehenen und wohlhabenden Frankfurter Patrizierfamilie ent-
stammend, hatte in Straßburg und Halle, wo er 1702 unter Christian
Thomasius Doktor der Rechte geworden war, studiert. Aber trotz
aller Hinneigung zur Polymathie im Zeitgeschmack, zur Aufspeiche-
rung des Wissens und dessen Verwechselung mit den Wissenschaften,
blieb er, als „Büchergeck*\ um in seiner Sprache zu reden, und als
Gelehrter, ein klarer Kopf und lebenssicherer Weltmann, der wesent-
liches zu erkennen wußte. Seine bibliographische und bibliotheka-
rische Praxis hat den Aufbau seiner Büchersammlung außerordent-
lich gefördert, sie blieb nicht in den Kuriositäten- und Raritäten-
spielereien stecken, mit denen sich nicht wenige deutsche Biblio-
gnosten seiner Tage vergnügten. Seine Bücherei wurde eine Privat-
bibliothek, die nicht nur qualitativ und quantitativ eine beispiel-
256 *Abb.i72,i73
18. JAHRHUNDERT
gebende deutsche Liebhaberbücherei im ersten Drittel des achtzehnten
Jahrhunderts war. Sie wurde auch eine benutzungsfähige Bücherei,
die den Gedanken einer Buchpflege durch Büchersammeln nicht bloß
im Zusammentragen von allerlei Bänden durchzuführen sich mühte,
sondern auch in deren Verbindung zur Einheit einer geordneten,
gut verwalteten Privatbibliothek. Die Aufschließung seines Bücher-
schatzes durch dessen Einrichtungen zu erleichtern, war ein Zacharias
Conrad von Uffenbach ständig beschäftigendes bibliotechnisches
Problem gewesen, das er klarer aufzufassen verstand als damals das
selbst in den meisten großen öffentlichen Bibliotheken versucht
wurde. Bereits dem jungen Studenten hatte seine Bücherliebhaberei
zu einem rasch anwachsenden Bücherschatz verhelfen. Ihn zu
mehren, unternahm er nach langen Vorbereitungen, die er bereits
in Halle mit der Aufstellung eines Desideratakataloges in der Form
eines umfassenden Reisehandbuches begonnen hatte, 1709—1711
seine große deutsch-holländisch-englische Bücherreise, die auch auf
Frankreich und Italien auszudehnen ihn die Kriegswirrnisse hin-
derten. Immerhin vermehrte sie mit 4000 Bänden seine Bücher-
sammlung ; eine Zahl, die auch deshalb hoch ist, weil Herr von Uffen-
bach sich nicht mit den ersten besten Ausgaben und Werken zu-
frieden gab, weil er mit bibliographischer Kritik sammelte und
sichtete, weil er durch Abschriften, die er selbst besorgte oder sich
besorgen ließ, auch noch Unbekanntes, Unveröffentlichtes heimzu-
bringen verstand, weil er wissenschaftlich vorging. Außer seiner
großen Bücherreise, auf der ihm sein Bruder Johann Friedrich
[1687 — 1769] ein angenehmer Gefährte war, hat Herr von Uffen-
bach noch eine Anzahl kürzerer „Lust- und Spazierreisen** aus-
geführt, die ihn in die Niederlande [1705; 1718] und in eine Reihe
deutscher Städte, in manche zu wiederholten Malen, geführt haben.
Auf allen diesen Reisen hat er die Gelegenheiten, Bücher und Bücher-
sammlungen kennen zu lernen, unermüdlich Tagebücher führend,
wahrgenommen. Dabei ergänzten dann wohl der Bibliograph und
der Bibliophile einander, dieser Bücher, jener Büchernachrichten
sammelnd. Nachdem Zacharias Conrad von Uffenbach auf seinen ur-
sprünglichen Plan, sich dauernd für einen gelehrten Lebensberuf in
BOOENO 17 257
DEUTSCHLAND
Oxford niederzulassen, verzichtet hatte, um nach seiner Verheiratung
den tätigsten Anteil an der Verwaltung seiner Vaterstadt zu nehmen,
als deren Schöffe er gestorben ist, blieb ihm seine Büchersammlung
das eigentliche Ergebnis seines Forschens. Daß er, mit Rücksicht auf
seine Kinder, die Bücherei-Veräußerung noch vor seinem Tode in die
Wege leitete, zeigt seine Einsicht in das deutsche Buchwesen seiner
Zeit. Der Ausverkauf zu festen Preisen, nach einem von ihm be-
arbeiteten Kataloge, verhütete wenigstens, daß nachlässige Ver-
steigerungen den Bücherschatz weit unter seinem Werte zerstreuten,
ließen ihm die Möglichkeit, die besten Stücke in gute Hände kommen
zu lassen. So war auch die Auflösung dieser 12000 Bände bergenden
Bücherei noch eine Handlung, die die Bücherliebe Zacharias Conrad
von Uffenbach lobte. Als ein archivalisches und literarhistorisches
Studium hatte er die Handschriftenkunde betrieben, sich ein eigenes
Abbreviaturenlexikon anlegend. An Gelegenheiten fehlte es nicht,
konnte er doch einmal eine ganze Kahnladung von Manuskripten,
die als Pergament von rheinischen Klöstern verkauft wurde, großen-
teils retten. Doch auch hier vertraute er seinem Sichten und Suchen,
nicht dem Zufall. Seine große Briefsammlung, die in 198 FoUanten
und Quartanten. 35000 Briefe von 6700 Brief Schreibern meist des
sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts in Abschriften, Ent-
würfen, Urschriften vereinigt hatte, verkaufte er 1730 dem Ham-
burger Professor und Hauptpastor an St. Katharinen, Johann
Christian Wolf, der seine und seines Bruders Büchersammlung,
mehr als ein Viertelhunderttausend Bände, der Hamburger Stadt-
bibliothek überließ. Das waren die Ausmessungen, die die bedeuten-
den deutschen Privatbibliotheken um 1700 hatten. Denn die Uffen-
bach und Wolf sind durchaus nicht die einzigen Sammler gewesen,
die zu einem solchen Büchervorrat gelangt waren, der einen Ver-
gleich nach seiner Zahl mit den meisten Bibliotheken, die in gegen-
wärtiger Geltung zu den öffentlichen gehören würden, zuließ. Da
konnte es nicht fehlen, daß von vornherein die Absicht der Begrün-
dung einer Privatbibliothek sich auf die Bibliotheksstiftung richtete,
wenn hierfür günstige Umstände sie veranlaßten, wie das im acht-
zehnten Jahrhundert in Dresden der Fall gewesen ist.
258
;18. JAHRHUNDERT
Am Anfange dieses Jahrhunderts waren Bücherkunde und
Bücherliebhaberei in der Hauptstadt Kursachsens sehr verbreitet.
Das Beispiel Augusts IL, der die Bibliothek in Dresden zu einer er-
neuerten Blüte brachte, die erwachende Sammelfreude ließen über-
all Büchersammlungen entstehen, die Bürger und Gelehrten, die Hof-
leute und Staatsbeamten ahmten das Muster der großen Privat-
bibliotheken nach, die sie entstehen sahen. Seit 1750, seit dem
Siebenjährigen Kriege, verschwanden viele dieser Büchereien wieder,
aber die drei hervorragendsten Sammlungen, die der Grafen Bünau,
Brühl und Kaiserling, kamen in der Königlichen Bibliothek zu-
sammen.
Graf Heinrich von Bünau [1697—1762],* der Geschichts-
schreiber der „Teutsch^n Kayser- und Reichshistorie**, der recht-
liche Staatsmann, hatte hauptsächlich in seinem Fache, eine Bücherei
gesammelt, deren äußeren Wert ihr Kaufpreis, 40000 Taler, kenn-
zeichnete, für den sie nach seinem Tode der Königlichen Bibliothek
in Dresden zugeführt werden konnte. Der Brühischen ' Bücherei
ließen sich ihre CimelienkoUektionen nicht vergleichen, die Eleganz
der Hoymschen Liebhaberbücherei in Paris erreichte sie nicht.
[Da Graf Hoym nach seiner Herkunft den Buchfreunden Deutsch-
lands, nach seiner Stellung dem polnisch-sächsischen Hofe zugehörte,
da er auch gewünscht hatte, seine Privatbibliothek nach Deutsch-
land zu überführen, darf sein ^^amen in dem Bibliophilendreigestirn
ebenfalls erglänzen, das mit nicht allzulangem Glänze im Bücher-'
lande Sachsen leuchtete.] Was die Bünausammlung auszeichnete,
war ihre innere Geschlossenheit, ihre wissenschaftliche Bedeutung,
deren heute noch bewundertes Buchdenkmal ihr Katalog wurde.
Das Arbeitsmittel, das er für seine Reichsgeschichte brauchte und die
Idee einer Universalbibliothek, die er sich vorstellte, machten den
Grafen Bünau seit etwa 1725 zu einem planmäßigen Sammler. Er
entwarf ein bibliographisches System, dessen Ausführung er seinem,
1740 von ihm angestellten, 1775 gestorbenen Bibliothekar J. M.
Franke übertrug, der sie in dem besten Kataloge einer deutschen
Privatbibliothek des achtzehnten Jahrhunderts verwirklichte. Das
Bedürfnis des Grafen Bünau war es gewesen, von dem Fächer- und
!?• ♦Abb. 193— 195 259
DEUTSCHLAND
Formatzwange freizukommen, ein Generalregister über seine Bücher
in seinem Kataloge zu haben. Alle einzelnen Werke sollten auf-
geführt werden und nicht nur diese, sondern auch die in Sammel-
und Zeitschriften zerstreuten Aufsätze. Mit großer Gründlichkeit
und Überlegung war ein solches Verzeichnis von dem Grafen vor-
bereitet worden. „Das System, welches Bünau Franke übergab,
übertraf alles, was man damals aufweisen konnte, obwohl es an
einer zu großen Förmlichkeit in den Unterabteilungen leidet. Die
Art aber, in welcher Franke, der ohne alle Vorbereitung in diese
Tätigkeit hineingekommen war, dasjenige arbeitete, was seiner
eigenen Tätigkeit und Einsicht überlassen blieb, sichert ihm auf
immer den Namen des ersten Bibliothekars, den Deutschland auf-
zuweisen hatte.'' [F. A. Ebert.] Die Bibliothekstechnik hat seitdem
durch ihre Entwicklung auch das Bünau- Franke- System überholt
und verbessert, es hat heute schon deshalb nur einen geschichtlichen
Wert, weil auch die Auffassung und Einteilung der Wissenschaften
sich geändert hat und weiterhin ändern wird. Trotzdem aber ist
das Bemühen des Grafen Bünau, sich allseitig die Büchersammlung
zu erschließen, und damit eine Vermehrung ihrer Verwendungs-
fähigkeit zu erzielen, vorbildlich s^uch für die Büchersammler und
Büchersammlungen der Gegenwart. Es bezeichnet mit seinem Grund-
gedanken klar die höchste Leistungsfähigkeit einer Privatbibliothek
und das Verfahren, diese Leistungsfähigkeit zu gewinnen, die eigent-
liche und erste Zweckbestimmung einer Bücherei, ihrem Sammler
zu dienen, wie er es braucht und wünscht. Zwischen der Aufhäufung
der Büchermassen in den Fächern der Gelehrtenbibliotheken, und
der Aussonderung der Schaustücke in den Liebhaberbüchereien, die
lose ein allgemeines System zusammenhält, findet es für die Aus-
wahl, die durch die Büchermenge notwendig geworden ist und durch
die Vervielfältigung der Formen literarischer Veröffentlichungen,
einen Weg, wenigstens der Privatbibliothek ihren inneren Zusam-
menhang zu wahren, der sie als ein wissenschaftliches Ganzes, als
eine auf ihrem innerem Gleichgewicht beruhende Sammlung be-
stehen läßt. Während seiner Tätigkeit an der Bibliotheca Buna-
viana hat auch J. Winckelmann zu den Katalogmitarbeitern gehört.
260
18. JAHRHUNDERT
Dafi der Katalog mit seinen sechs^ 1750 bis 1756 erschienenen, Teilen
nicht vollendet worden ist, daß seine Fortsetzung durch den Sieben-
jährigen Krieg für immer unterbrochen wurde und durch die Auf-
lösung der Bünausammlung in der Königlichen Bibliothek zu Dresden,
mindert nicht seinen Ruhm, eines der ausgezeichnetsten Denkmale
der Bücherliebhaberei Deutschlands zu sein. Graf Bünau hat groß-
zügig, ohne Liebhaberwerten nachzujagen, aber auch ohne mit den
reichen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu sparen die Aus«
gestaltung seiner Bücherei vorgenommen, für die er von größeren
Sammlungen die Cypriansche aller 1717 erschienenen Refor-
mationsjubelschriften und 1744 die Engeische mit ihren Raritäten
erwarb, die ihm 4000 Taler kostete. Vergeblich waren seine Ver-
suche gewesen, die Leichenpredigtenreihe, die die der fürstlichen
Bibliothek in Stolberg-Stolberg gehört, anzukaufen, trotzdem sein
Gebot hier bis auf 8000 Taler stieg, eine damals und in Deutschland
ganz ungewöhnlich hohe Summe. Die Bibliotheca Bunaviana, die
bis 1740 in sechs Zimmern des Dresdener Palastes aufgestellt ge^
Wesen war, wurde bei Bünaus Eintritt in die Dienste Karls VII.
nach seinem eine Stunde von der Hauptstadt entfernt gelegenen
Schlosse Nöthnitz überführt und hier in zwei großen übereinander
gelegenen Räumen untergebracht. Der Eingang zur Treppe nach
dem oberen Saal war durch eine Verkleidung versteckt, die aus
hölzernen, mit Leder überzogenen Bücherrücken bestand, mit
Titeln verlorener Werke nach Fabricius. In diese der Arbeit ge-
weihten Bibliothek waren aus Dresden die Gelehrten gern gekommen
und gern willkommen geheißen worden, bis die Bücher endgültig
nach Dresden zurückgeführt wurden.
„Brühl, der, wie Winckelmann sagt, in allen Stücken brillieren
wollte, beneidete Bünaus literarische Berühmtheit; unfähig, in dieser
Richtung mit ihm in die Schranken zu treten, suchte er sich ihm
wenigstens als Büchersammler gleichzustellen und ließ ebenfalls
einen Katalog seiner Bibliothek drucken." [C. Justi.] Die Biblio-
thek Heinrichs, Reichsgrafen von Brühl [1700—1763],*
ist eine Repräsentationsbibliothek gewesen, letzten Endes ebenfalls
ein Erzeugnis der Hab- und Verschwendungssucht des Ministers
*Abb.i9i, 192 261
DEUTSCHLAND
Augusts III., Königs von Polen und Kurfürsten von Sachsen.
Der Anteil, den Brühl selbst an ihrem Auf- und Ausbau ge-
nommen hat, war wenig persönlich, die Bestimmung, die er ihr
im Dienste der Öffentlichkeit zu geben wünschte, keine Äußerung
seiner Bücherliebe, sondern seiner Prachtliebe und seines Stolzes.
Der Begründer einer der kostbarsten und kostspieligsten Privat-
bibliothek seiner Zeit begnügte sich damit, daß auch dieser Besitz
seinen Namen trug, seine Bibliophilie mit der Drucklegung eines
Verzeichnisses, das nicht fertig wurde. Und ganz gewiß ist der An-
kauf der 62000 Bände der Bibliothek Brühl für die Königliche
Bibliothek in Dresden, so wichtig er sie förderte, nicht die Einlösung
einer Dankesschuld gewesen. Anderes gilt für den 1764 erfolgten
Erwerb der 42139 Bände mit 149 Handschriften, die der Bücher-
nachlaß des Grafen Heinrich von Bünau umfaßte. Den Abschluß
der Vereinigung der beiden berühmten Bibliotheken in der Dresde-
ner Sammlung bildete dann die große, teilweise noch von dem [seit
*1764] kurfürstlichen Bibliothekar Francke selbst geleiteten Du-
blettenauktion der Jahre 1775, 1776, 1777, deren dreibändiges Ver-
zeichnis daran erinnert, daß das Aufgehen der Privatbibliotheken
in eine öffentliche fast immer einer Auflösung jener Sammlungen
selbst gleichkommt, weil ihre Bestände verteilt oder teilweise sogar
wieder zerstreut werden. Damit mag manche Sammelarbeit verloren
gehen. Doch ihr bestes Ergebnis, ihr kostbarstes Sammelgut bleibt
erhalten.
Deutsche Familienbibliotheken, die Geschlechter jahrhunderte-
lang überdauernd sich vermehrten, finden sich hauptsächlich unter
den fürstlichen Hausbibliotheken. Das ist kein Zufall. Denn die
Erhaltung und Erweiterung dieser Sammlungen setzte voraus, daß
sie durch Erbteilungen nicht zerrissen wurden, an einem Orte zu-
sammenblieben. Allmählich verbanden sich den Archiven derartige
Bibliotheken, indem ein bücherliebendes Familienmitglied die sich
ansammelnden Druckwerke zur Aufstellung und Ordnung brachte,
ihre planmäßigere Vermehrung einleitete und die Bücherei einem
Familienvermögen zuführte. Gelegentlich wechselten auch wohl die
Besitzer einer Familienbibliothek, ohne daß sie ihren Ort verließ
262
18. JAHRHUNDERT
und sie wurde zur alten Schloßbibliothek. Die Art ihrer Ent-
stehung erklärt es, daß fast alle berühmten noch bestehenden deut-
schen Familienbibliotheken in das sechzehnte Jahrhundert oder
früher zurückreichen, aber ihre eigentliche Entwicklung erst nach
dem Dreißigjährigen Kriege fanden, als der Familienstand fester
geworden war, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zustände
wieder sicherer wurden. Eine Ausnahme bilden die Büchersamm-
lungen der großen regierenden Häuser. Ursprünglich schon in den
Hauptstädten, in den Residenzen vorhanden, wandelten sie sich
mit dem Entstehen der öffentlichen Bibliotheken leicht in solche,
bis dann die endgültige Trennung zwischen dem Familienbesitz
und dem Staatsbesitz erfolgte, wofern sie nicht schon vorher durch
eine ausdrückliche Stiftung erklärt war. Wie denn überhaupt die
altbedeutenden deutschen Familienbibliotheken durch ihren Um-
fang, der eine eigene Verwaltung bedingte, mehr und mehr den per-
sönlichen Charakter einer Privatbibliothek einbüßen mußten.
Andererseits bemühten sich deshalb einzelne Familienmitglieder um
besondere Sammlungen für den eigenen Gebrauch. Auch derartige
Büchereien gelangten wohl gelegentlich in die Familien-Stamm-
bibliothek, in welcher Weise sich die neuen Familienbibliotheken der
großen regierenden Häuser wieder auffüllten. Häufiger noch wurden
sie zerstreut. Und da es kaum jemals eine Bibliophilengeneration
gab, die vom Vater auf den Sohn den Bücherbesitz vererbend, eine
ununterbrochene Reihe von Bücherkennern und Büchersammlern
war, ist die Bedeutung der Familienbibliotheken für die Geschichte
des Büchersammel Wesens der der öffentlichen Bibliotheken ähnlich.
Nur daß einzelne als Buchfreunde hervorragende Persönlichkeiten
auch Familienbibliotheken teilweise und zeitweilig ein eigenes Ge-
präge verliehen. Ihr Bild erscheint im Rahmen der von ihnen be-
reicherten, bestehenden Familienbibliothek, der ihre Sammeltätig-
keit zuteil wurde, als ein Bibliophilenporträt eigener Geltung.
Die älteren Büchersammlungen des Hauses HohenzoUern sind
dadurch, daß Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, 1661 seine im
Ostflügel des Berliner Schlosses über der Hofapotheke aufgestellte
Privatbibliothek in eine öffentliche umwandelte, eine Stiftung, aus
263
DEUTSCHLAND
der die ehemalige Königliche Bibliothek in Berlin, die heutige
Preußische Staatsbibliothek, hervorging, aus dem Besitz dieses
Fürstengeschlechtes gekommen, das erst wieder im Jahre 1862 mit
der Begründung der Königlichen Hausbibliothek im Berliner Schlosse
eine neue Familienbibliothek gewann, die freilich ihre eigentUchen
Grundlagen in den bereits vorhandenen Sammlungen einiger bücher-
liebenden Könige, vor allen denen Friedrichs IL und Friedrich
Wilhelms IV. hatte. Aus dem kaum allzu reichen Bücherschatze des
ersten Preußenkönigs, Friedrichs L, sind nur einige wenige Werke
in der Hausbibliothek noch vorhanden. Und daß Friedrich Wilhelm I.
mit seiner Abneigung gegen Bücherwissen und Gelehrtentum außer
Bibel und Gesangbuch und Militärreglement keinen Bücberüberfluß
kennen konnte, verstand sich für die sparsame Art dieses wirtschaft-
lichen Monarchen von selbst. Hat er doch sogar die Bücherliebe
seines großen Sohnes unterdrücken wollen, indem er 1730 nach ihrer
Entdeckung die ersten heimUchen Büchersammlungen des jungen
Prinzen ihm fortnehmen und verkaufen ließ.
Die Beziehungen Friedrichs des Großen* zu den Büchern sind
sehr mannigfacher Art gewesen, denn der große König ist nicht nur
ein geistvoller Leser gewesen, nicht nur ein fleißiger Sammler, ein
bedeutender Schriftsteller, ein geschickter Herausgeber und der
zweite Stifter der Berliner Königlichen Bibliothek, auch die
äußere Erscheinung seiner Bücher hat er nicht für gleichgültig oder
nebensächlich gehalten. Er, der als Verleger seiner Privatdrucke
die vielleicht schönsten deutschen Liebhaberausgaben des acht-
zehnten Jahrhunderts veranstaltet hat, er, der gerade als Leser an
die äußeren Eigenschaften seiner Bücher ganz bestimmte, wohl über-
legte Anforderungen zu stellen pflegte und ihren Einbänden eine
Sorgfalt zuwenden ließ — sie wurden in rotes Ziegenleder gebunden
und je nach ihrem Aufstellungsort mit einem kleinen Buchstaben-
Supralibros versehen, die seine Büchersammlung heute [abgesehen
von den Beständen einiger öffentUchen Bibliotheken] wohl zu der
umfassendsten an einer Stelle vorhandenen Kollektion französischer
Werke des achtzehnten Jahrhunderts in Maroquinbänden ihrer
Zeit macht — er hat sich als Bibliophile auch in dieser Art der Buch-
264 *Akb. 180—187
18. JAHRHUNDERT
pflege gezeigt. Darin liegt ja nun keineswegs der Hauptwert seiner
Privatbibliotheken. Aber da eine Anzahl berühmter Bibliophilen
des Auslandes ihr Ansehen in der Geschichte der Bücherliebhaberei
dem Aufwände verdanken, den sie für die Einbände ihrer Sammlun-
gen nicht scheuten, so ist das Beispiel eines ihnen darin ebenbürtigen
deutschen Buchfreundes des achtzehnten Jahrhunderts in diesem
Zusammenhange ebenfalls nicht zu verschweigen.
Freilich, ein Büchersammler, der die besten Werke in ihren
besten und schönsten Ausgaben in möglichster Vollständigkeit an-
einanderreihen möchte, der allerlei Liebhaberwerte schätzt, wie den
kunstvollen Pracht band und die Kuriosität oder die Rarität, ist
Friedrich der Große nicht gewesen. Der Vielbeschäftigte, der „mit
stürmischem Eifer den Umgang mit großen und guten Geistern
aller Zeiten suchte*^ wollte sich als Leser begeistern und belehren
lassen ; von der Buchform, die ihm den Inhalt wertvoller Werke ver-
mitteln sollte, verlangte er nur, daß sie diesen Inhalt unverfälscht
berge und ihm in ihrem Äußeren angenehm sei. Besonders in den
späteren Lebensjahren steigerten sich seine Ansprüche an das Buch
für die Bequemlichkeit des Lesens : er forderte ein handliches Format
und großen Druck für Bücher, die er gündlich benutzen, in denen er
auch selbst sich auskennen wollte. Und wie er die Oktavbände be-
vorzugte, so ließ er sich auch zu umfangreiche Bücher in mehrere
Bände binden.
Über den literarischen Geschmack Friedrichs des Großen, den seine
Urteile aus den letzten Lebensjahren bezeugen, unterrichtet kurz
aber zutreffend eine Zusammenstellung der hierher gehörigen [ita-
lienischen] Aufzeichnungen des Marchese Lucchesini [1751 — 1825], der
sich 1779 dem Könige hatte vorstellen lassen, und von ihm den
Kammerherrenschlüssel und einen Platz in der Tafelrunde zu Sans-
souci erhielt. War doch Lucchesini, nach Goethes Urteil zu schließen,
der 1787 in Neapel viel Freude hatte, den Marchese kennen zu ler-
nen, zum zuverlässigen Berichterstatter besonders geeignet als einer
von den Menschen, ,,die einen guten moralischen Magen haben, um
an dem großen Welttische immer mitgenießen zu können, anstatt
daß unsereiner, wie ein wiederkäuendes »Tier, sich zu Zeiten über-
265
DEUTSCHLAND
füllt, und dann nichts weiter zu sich nehmen kann, bis er eine wieder-
holte Kauung und Verdauung geendigt hat".
Auch Friedrich der Große hatte sich beizeiten überfüllt, auch er
war in dem französischen Zeitgeschmack seiner Jugendjahre zurück-
geblieben. Daraus erklärte sich sein Verhältnis zu der in seinen
späteren Lebensjahren aufblühenden deutschen Dichtung, die er
nicht kannte, ohne Teilnahme für ihr Wachstum und doch von dem
Wunsche beseelt, sie möge gedeihen, den seine Schrift ,sur la littera-
ture allemande' aussprach, deren frühe und früheste Wurzelungen
zu beurteilen er zu alt geworden war, weshalb sein bekannter Brief an
den Prof essor Myller über dessen ,, Sammlung deutscher Gedichte des
XII., XIII., XIV. Jahrhunderts** vom 22. Februar 1784 sie verwarf.
Aber damals begegnete sich Friedrich der Große in der Ablehnung
der älteren deutschen Dichtung mit dem Geschmack der meisten
seiner Zeitgenossen, denen die ihnen neueste ebenfalls noch nicht als
die Auswirkung einer ,klassischen Literaturperiode* erschien. So
bleibt von dem Vorwurfe, Friedrich der Große habe die Förderung
des deutschen Schrifttums, wenn sie auch nicht verhindert, so doch
jedenfalls versäumt, nicht viel mehr übrig als diese Forderung,
er, der Gönner der Künste und Wissenschaften, er, der geniale
Mensch und mächtige Monarch, hätte sich einen deutschen statt
seines französischen Musenhofes erfreuen müssen. Der Marchese
Lucchesini berichtete: Während der König mit den Meisterwerken
der italienischen und französischen Literatur und manchem schönen
englischen Werk sich zufrieden erklärte [2. Oktober 1780], sprach
er von der deutschen Literatur mit Verachtung und sagte, solange
man keine klassischen Schriftsteller besitze, um der Sprache Glanz
und Licht zu geben, würden wenig Fortschritte gemacht werden.
Doch gab er zu, daß damit endlich ein Anfang gemacht worden sei.
Die französische Sprache habe allgemeinen Eingang gefunden, sie
sei durch die Akademie der Vierzig festgestellt worden. Die italie-
nische Sprache dagegen habe noch mancherlei Kämpfe durchzu-
machen [24. Mai 1783]. Über die Sitte, viele Sprachen zu lernen,
äußerte er sich so: Wer nicht von Beruf ein Mann der Wissen-
schaft ist, soll lieber die 43inge studieren, als mit Erlernung einer
266
18. JAHRHUNDERT
größeren Anzahl Sprachen die Worte; es sei besser, einen Schrift-
steller in einer guten Übersetzung zu lesen, als ihn in seiner eigenen
Sprache nur mittelmäßig zu verstehen. Allemal müsse man doch
annehmen, daß der, welcher einen Teil seines Lebens darauf ver-
wandt hat, die Übersetzung anzufertigen, den Sinn besser verstehen
wird, als der, welcher den Schriftsteller zum erstenmal liest. [24. Mai
1783.] Da er vom Latein so gut wie nichts versteht, so kann er über
die Schönheiten des Horaz nur insoweit urteilen, als die Übersetzung
sie ihm wiedergibt. So kommt es, daß er vielen schönen Oden un-
recht tut, deren Hauptwert in dem Ausdrucke beruht. Die Ars
poetica liebt er nicht, weil sie zuviel Unzusammenhängendes ent-
hält. Besser als alles übrige gefallen ihm die Satiren [21. Juni 1783].
Homers Ilias gefällt ihm viel weniger als Vergils Äneide [28. Juli 1783].
Er findet Aristophanes langweilig, weil die griechischen und la-
teinischen Lustspiele keinen inneren Zusammenhang haben und man
genötigt ist, eine lange Reihe mittelmäßiger Sachen hinunterzu-
schlucken, um irgendeine Schönheit aufzufinden. [7. April 1781.]
Die Lektüre der griechischen Trauerspiele macht einen schlechten
.Eindruck, die lateinischen Lustspiele sind von schlechtem Ge-
schmack, die Anzahl guter italienischer Trauerspiele ist gering, die
deutsche Bühne dürftig, das französische Theater vollendet. [2. Ok-
tober 1780.] Den Kanzler Bacon stellt er wegen seines Novum
Scientiarum Organum sehr hoch, und macht sich mehr aus ihm, als
aus Plato und anderen Philosophen des Altertums. Cicero liebt er
sehr. [7. Juli 1783.] Er glaubt nichts von all den Wunderdingen,
die man von der Wissenschaft des Archimedes zu erzählen weiß.
Sein mangelhaftes Wissen in den Elementen der Mechanik ver-
anlaßt ihn zu dem Glauben, daß diese Wissenschaft sehr wenig wert
sei. In diesem Fache ist er voll von Vorurteilen. [2. August 1783.]
Der König hat beschränkte und falsche Vorstellungen von der Natur-
geschichte. Die Wissenschaften, welche sich auf die Erfahrung grün-
den, sind dem Könige unbekannt. Das ist seine wissenschaftliche
Achillesferse [13. August 1783]. Da er von Naturkunde nichts ver-
steht, hat er auch vor den Bestrebungen anderer keine Achtung.
Von dem System der Welt macht er sich sehr oberflächliche Vor-
267
DEUTSCHLAND
Stellungen. Bei der Erörterung des Haushaltes der Natur ent-
wickelt er Ansichten, die mehr dichterisch als sonst etwas sind.
Überall blitzt indessen das Genie durch, nur das Wissen in diesen
Sachen mangelt sehr. [20. Juni 1783.]
Die Vorliebe Friedrichs des Großen für die griechischen und
römischen Klassiker, die bei ihm im späteren Alter um so stärker
wurde, als ihm auch die neuen Erscheinungen der französischen
Literatur seiner eingehenden Teilnahme nicht mehr wert erschienen
[Brief an Voltaire vom 16. Januar 1773], galt mehr den Prosaikern
als den Poeten. Einmal, weil er die antike Poesie durch die Brille
Boileaus beurteilte, sodann weil die Übersetzungen der prosaischen
Schriften immerhin auch die formalen Schönheiten besser bewahren
konnten, als das bei Umdichtungen möglich war. Angewiesen auf
die Vermittlung der antiken Literatur durch französische Über-
setzungen mußte jeder neue Versuch einer französischen Über-
tragung griechischer oder römischer Schriften Friedrichs des Großen
Aufmerksamkeit erregen und mancher Ehrgeizige mochte die Autor-
schaft einer französischen Bearbeitung irgendeines Klassikers nicht
mit Unrecht für eine vorzügliche Empfehlung beim Könige halten.
Immerhin nahm dieser die ihm zugänglichen Übersetzungen nicht
kritiklos hin. So ist letzten Endes als Buchfreund auch Friedrich
der Große ein Humanist gewesen und gerade seine in das antik-
heroische hineinwachsende Persönlichkeit läßt der Frage nachdenken,
worin denn eigentlich die ungeschwächte Wirkung der antiken
Klassiker auf die bedeutenden Menschen anderer Völker und Zeiten,
von anderer psychologischer Struktur beruhte. Man wird diese
Frage vielleicht dahin beantworten wollen, daß es der Realismus der
antiken Welt ist, ihre tiefe Sachlichkeit, der der christliche Dualis-
mus des Gut und Böse noch unbekannt war, deren Werke in irgend-
einem moralischen Sinne nicht unbewußt Partei nahmen. Und gerade
hierin einen Aufschluß über die Nachwirkungen des Humanismus
in der BibUophilie, die in ihren Einzelheiten nicht überallhin leicht
zu verfolgen sind, finden wollen.
Da Friedrich der Große im allgemeinen keine Zeitungen las
[Lucchesini 15.— 17. Dezember 1780], wohl auch weil sein eigener
268
18. JAHRHUNDERT
Nachrichtendienst ein besserer und zuverlässigerer als der ihm so-
gleich nach ihrem Erscheinen zugänglichen Zeitungen war und da er
es sich stets zur Regel gemacht hatte, nicht zwei verschiedene Arten
der Lektüre durcheinander zu mengen [Lucchesini, 25. Oktober 1780],
so ermöglichen die vielen vorhandenen Einzelnachrichten über seine
Lektüre eine weitaus genauere Bestimmung ihres Fortganges, als
sie für viele andere großen Geister vorgenommen werden kann.
Der König hatte die an rechter Stelle nicht hoch genug einzu-
schätzende Gewohnheit, laut zu lesen, um sich den Klang der Worte,
den Rhythmus ihrer Aneinanderreihung besonders deutlich zu ver-
sinnlichen. Die Stellung des Vorlesers war bei ihm ein Vertrauens-
posten. Die Vorleser mußten nicht nur einen guten Vortrag haben,
sie mußten auch für das Aussuchen der vorhandenen, das Bestellen
neuer Bücher rasch bei der Hand sein und auf der Stelle allerlei kleine
literarische Auskünfte geben können. Den alten Buchfreund hat
sein letzter Vorleser, C. Dantal, geschildert: ^D'e Ordnung, die der
König in allen, auch in den geringfügigsten Dingen beobachtete,
gibt ein nachahmungswürdiges Beyspiel. Sie zeigte sich nicht nur
in der getroffenen Eintheilung seiner Stunden, sondern auch sogar
in der Einrichtung seiner Bücher. — Außer den verschiedenen
Bibliotheken, die Er auf den Schlosse in der Stadt [Potsdam], in
Sans-Souci, und in dem neuen Palais besaß, hatte Er noch eine
Handbibliothek, die Er auf allen seinen Reisen mitnahm und von
jeder war auch ein Bücher- Verzeichniß da. Diejenigen Bücher, die
nicht Platz darin finden konnten oder die Er öfters selbst brauchte,
lagen auf dem Tische oder auf den Fenstern seines Wohnzimmers,
wo niemand es wagen durfte, etwas anzurühren; oder Er mußte
jemanden aufgetragen haben. Ihm ein Buch darunter zu suchen,
das Er zu lesen verlangte, und dennoch erinnerte er dabey immer,
nichts in Unordnung zu bringen. — So oft ich ein Buch aus der
Bibliothek nahm, mußte ich an den leeren Raum ein Blättchen
Papier hinlegen, um den Ort wieder zu finden, wo es gestanden
hatte; und da alle Bücher auf dem Tische aufrechtstanden, so
mußten hingegen alle diejenigen flach liegen, die ich ausgelesen
hatte. — Jede Gattung von Werken hatte ihr eigenes Spinde: Das
269
DEUTSCHLAND
eine war für die Geschichte, das andere für die Litteratur und Poesie,
und das dritte für Übersetzungen der Alten bestimmt. — Die Ord-
nung, nach welcher sie gestellt waren, war weniger für das Auge als
für den Verstand, weil die Stellung derselben bloß nach dem wich-
tigen oder unwichtigen Inhalte eingerichtet war: ohne dabey Rück-
sicht zu nehmen auf die ungleiche Größe der neben einander stehen-
den Bücher, worauf die mehresten Bibliothekenbesitzer am vor-
züglichsten zu sehen pflegen. Der König hatte zu seiner eigenen Be-
quemlichkeit sich lauter Oktavbände angeschaft, statt der Folian-
ten und Quartbände, die Er nachher in die öffentUche Bibliothek zu
Berlin bringen ließ. Es war daher wirklich für das Auge ein beleidi-
gender Anblick, wenn man neben diesen Oktavbänden Folianten
und Quartbände gestellt sähe, wovon Er noch keine Handausgaben
hatte erhalten können und die Er deshalb noch so lange stehen ließ
Dis war auch es was ihn bewog, die Logik und die Metaphysik von
Bayle durch den Druck in eine Handausgabe zu verwandeln. Auch
machte er deswegen einen Auszug von Bayle Lexikon und von der
Kirchengeschichte des Fleury. Alle seine guten Bücher ließ Er in
roth Saffian mit einem goldnen Schnitt einbinden. Auf dem Deckel
eines jeden Buches befand sich ein Buchstabe, welcher den Ort der
Bibliothek anzeigte, wo es hingehörte. Auf dem Deckel der auf dem
Potsdamschen Schlosse befindlichen Bücher war ein P., auf denen
von Sans-Souci ein V., weil er diesen Ort Vignes (Weinberge) nannte,
und auf denen vom neuen Palais war ein S., weil Er diesem Palais
eigentlich den Nahmen Sans Souci beilegte." — Mehr als mit Menschen
hat Friedrich der Große mit seinen Büchern als Freunden verkehrt.
Er ist bis zum Lebensende seinen Worten treu geblieben: Bücher
sind kein geringer Teil des Glücks — die Literatur wird meine letzte
Leidenschaft sein.
Die im Berliner Schlosse aufgestellt gewesene Bibliothek Fried-
richs L nahm König Friedrich Wilhelm IL* in die eigene Bücher-
sammlung auf, die er ebenfalls an zwei Stellen untergebracht hatte,
etwa 1400 Bände im Berliner Schlosse und etwa 1000 Bände in
einem besonderen, im neuen Garten errichteten Bibliotheksgebäude,
einem gotisierenden Kleinen Pavillon von zwei Stockwerken. Auch
270 *Abb. i88
18. JAHRHUNDERT
er, ein eifriger Leser, legte, wie der große König, auf die Buchpflege
einigen Wert und ließ für gewählte grüne Ziegeniederbände seiner
Bücher, deren Deckel seinen Namenszug und ein N[euer] G[arten]
tragen, sorgen und unter denen er, im Gegensatz zu Friedrich, auch
die der deutschen Dichter nicht vergaß. Ein besonderer Bücher-
freund ist König Friedrich Wilhelm III. nicht gewesen und
der Bestand seiner Berliner, im sogenannten Kronprinzenpalais,
verwahrten Bibliothek ist in der des Kaiser Friedrich aufge-
gangen, die Prinz Heinrich erbte, nachdem schon vorher der Kaiser
eine größere Anzahl der Bücher König Friedrich Wilhelms III. der
Königlichen Hausbibliothek überwiesen hatte, die ihm auch ihre
Sammlung aller Ausgaben der Schriften Friedrichs des Großen ver-
dankte. Eine zweite, noch erhaltene, 3000 Bände umfassende
Bibliothek König Friedrich Wilhelms III, stand im Charlotten-
burger Schlosse. Anders als ihr Gemahl hatte die Königin Luise
ein näheres, persönlicheres Verhältnis zu ihren Büchern. Sie besaß,
neben der gemeinsamen großen Privatbibliothek im Kronprinzen-
palais noch eine eigene kleine, etwa ein halbes Tausend Bände zäh-
lende Büchersammlung in ihren Gemächern im Potsdamer Stadt-
schloß. Ein außerordentlicher Buchfreund war wiederum König
Friedrich Wilhelm IV., dem es allerdings mehr auf eine mög-
lichst umfassende, in den wissenschaftlichen Fächern mit ihren
Hauptwerken vollständige Bücherei ankam als auf einen auch
nach außen hin seinen Bücherschatz kennzeichnenden Glanz. In
ihrem Äußeren entsprechen die 20000 Bände, die der König in seinen
Wohnräumen des Berliner Schlosses untergebracht hatte, den
anderen Berliner Privatbibliotheken jener Zeit. Und obschon
König Friedrich Wilhelm IV., den sein Adjutant Gustav v, Below
auch mit den Kreisen der damaligen deutschen Büchersammler
verband, die Gelegenheit nicht verschmähte, ein kostbares oder
seltenes Stück zu erwerben, so ist das alte Buch, wie es die Ro-
mantiker verehrten, ihm doch kein Gegenstand eines Sammeleifers
geworden. Sein Büchernachlaß, der auch die von ihm erworbene
Privatbibliothek des Geheimen Legationsrates Renfner enthielt,
wurde 1862 der Mittelpunkt der Königlichen Hausbibliothek, die
271
DEUTSCHLAND
durch die, obschon nicht räumliche, Zusammenfassung aller Bücher-
sammlungen des königlichen Hauses und durch die ihr von den drei
HohenzoUernkaisern gemachten Überweisungen auf etwa 100000
Nummern anwuchs, unter denen, neben den historischen Privat-
bibliotheken, die, 1862 aus den Beständen der Musikalien Friedrichs
des Großen und Friedrich Wilhelms IL entstandene Musiksammluns
von besonderem Werte ist. —
Eine scharfe Scheidung des gelehrten Schrifttums von allen
anderen sonstigen Schrifttumserzeugnissen war noch selbstverständ-
lich im siebzehnten Jahrhundert. Die gelehrte Bildung mußte
schließUch auch noch polyhistorisch sein, aus praktischen Gründen
die Ausdehnung und nicht bloß die Ausnutzung der Privatbiblio-
theken verlangen, solange die Benutzung der öffentlichen Biblio-
theken sich versagte, solange der gelehrte Briefwechsel, dessen gegen-
seitiger Nutzen aus seiner Vielseitigkeit hervorging, der Ersatz war
für ein ausgebildetes Verkehrswesen auf wissenschaftlichem Gebiete,
das mit den ersten Vorgängern wissenschaftlicher Zeitschriften eine
entscheidende Wendung zu gegenwärtigen Zuständen nahm. Ari-
stoteles, der Polyhistorie Ur- und Vorbild, hatte noch den ganzen
Kosmos übersehen, ja recht eigentlich erst das Gerüst zu dessen Be-
trachtung konstruiert. Verließ man es oder versagte es, war wieder
ein Chaos da, auch ein bibliographisches Chaos, das von neuem
zu gestalten die klügsten Männer nicht verschmähten, wie die hier-
her gehörigen von Gottfried Wilhelm von Leibniz [1646 — 1716]
gemachten Vorschläge zeigen. Noch einmal war mit ihm um die
Jahrhundertwende die Erscheinung eines Polyhistors glänzend her-
vorgetreten, eines Gelehrten, eines Genies, eines Weltmannes. Aber
die blendendsten seiner Vorzüge waren schon die eines Schöngeistes,
während seine weitwirkenden wissenschaftlichen Leistungen die
eines Fachmannes waren und die Umwandlung in den Philosophen
aus dem Polyhistor, die er zeigte, man möchte sagen aus dem Be-
dürfnis einer [versöhnenden] Weltanschauung sich ergab, die die
Regelung der Wissenschaften gestattete. Das achtzehnte Jahr-
hundert gewann seinen Bestand aus Anregungen und Widersprüchen,
in der Politik, wo Absolutismus und Kosmopolität sich auseinander*
272
18. JAHRHUNDERT
setzten, in der Theologie, wo asketische Mystik, Pietismus und
Rationalismus widereinander sich kehrten und in den anderen
Fakultäten, in denen sich die neuen Richtungen trennten und ver-
banden, in den ,Teutschbüchlein\ die am Anfange des Jahrhunderts
ein Zeugni3 fleißiger Übung waren und an seinem Ende Hervor-
bringungen romantischer Willkür. Unter solchem unaufhörlichen
Wechsel konnten auch die Büchersammlungen nicht eine Einheit-
lichkeit gewinnen, die dem deutschen geistigen und gesellschaft-
lichen Leben mangelte.
Als Zacharias Conrad von Uffenbach um die Jahreswende 1709
nach Wolfenbüttel kam, wurde das neue „zur Bibliothek aufge-
baute^* Gebäude eben fertig. ,,Es ist ein ziemlich großes und an-
sehnliches viereckigtes Gebäude, daran aber zwey Hauptfehler, der
eine, daß es von Holz, und für die Bibliothek nicht sicher ist, wozu
der zweyte Fehler noch kommt, daß unten, welches sich nun gar nicht
für ein solches Gebäude zu schicken scheinet, Stallungen für die Herr-
schaftliche Pferde sind** urteilte dieser ausgezeichnete Kenner von
Büchern und Büchersammlungen. Aber daß damals ein Bau schon von
vornherein dazu bestimmt war, eine bedeutende Büchersammlung
aufzunehmen, gehörte, nicht nur in Deutschland, zu den Ausnahmen.
Eben jener Leibniz, in dem die Polyhistorie zur Universalität einer
Weltanschauung der Wissenschaften emporgewachsen war, hatte die
Leitung der von dem gelehrten Herzog August dem Jüngern
von Braunschweig um 1604 auf dem Schlosse Hitzacker ge-
gründeten, 1644 nach Wolfenbüttel überführten Sammlung, die
eine europäische Bibliothek ersten Ranges heißen konnte. Zählte
sie doch bereits 1661 rund 120000 Bände mit 2000 Handschriften.
In Leibniz selbst, den er in Hannover traf, und dem ersten Biblio-
thekar in Wolfenbüttel, Rat Hertel, fand Herr von Uffenbach
Männer, die, obschon zum Mißvergnügen des abschreibelustigen
BibUophilen, sich mühten, eine noch ungewöhnliche Ordnung auch
in der Verwaltung ihnen anvertrauter Bibliotheken aufrecht zu er-
halten. 1770 erhielt das Amt des Hauptbibhothekars in Wolfen-
büttel ein Mann, in dessen Persönlichkeit sich ebenso wie in der-
jenigen Leibnizens eine Epoche fortschreitender Entwicklung deut-
BOOENO 18 273
DEUTSCHLAND
sehen geistigen Lebens verkörperte: Lessing. Die antiquarisch-
bibliographische Gelehrsamkeit Gotthold Ephraim Lessings
[1729—1781] war groß, wie seine Schriften zeigen, die P. Albrecht, der
aus kritischer Monomanie selbst zum unermüdlichen Büchersammler
wurde, sogar als von überallher zusammengelesen erweisen wollte.
Aber die Belesenheit Lessings entsprang der Leidenschaftlichkeit
seiner Wißbegierde und ihr entsprach in seinen früheren Jahren
auch das Bemühen um den Besitz einer eigenen gewählten Bücher-
sammlung, in dem wenigstens er seiner Gegner Job. Chr. Gott-
sched [1700-1766]* und Job. Melch. Goeze [1717-1786] Ge-
sinnungsgenosse gewesen ist. Daß ihm das Amt des Bibliothekars
als endgültige Lebensstellung zuteil wurde, konnte den Buchmann
über sich nicht erfüllende Hoffnungen trösten. Die ,, gewisse Über-
zeugung" des jungen Leipziger Studenten, ,,daß sein ganzes Glück
in den Büchern bestehe'' wandelte sich freilich zuerst, als er in den
Neuberischen Theaterbann geriet, in diese, die ein Brief vom 20. Ja-
nuar 1749 der Mutter erläuterte: ,,Ich lernte einsehen, die Bücher
würden mich wohl gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menschen
machen." Aber mit der notgedrungenen Übersiedlung nach Witten-
berg erwachte die Bücherlust von neuem und der allzu beeilte
Büchererwerb trieb ihn in Bücherschulden. Nach einem halben
Jahre schon mußte er, nach Berlin fliehend, die kleine Privatbiblio-
thek in der Lutherstadt zurücklassen. Der Vater löste die Bücher
aus, um dem Sohn ihre Titel vorzuwerfen. Der wehrte sich, es be-
fänden sich höchstens zwei Komödien unter den nach Camenz ge-
retteten Werken. ,,Der größte Teil besteht aus statistischen Schriften,
die Ihnen ganz natürlicher Weise hätten können schließen lassen,
daß ich künftig gesonnen wäre, ebensoviel in der Welt und in dem
Umgange mit den Menschen zu studieren als in Büchern.^' Und aus
dem Bestreben, sich in seiner wenig günstigen Berliner Lage weiter-
zuhelfen, kam die Klage ins Elternhaus: „Es fehlt mir jetzo nichts
als meine Wäsche und meine Bücher. Ich habe Ihnen den Katalogen
davon schon überschrieben und erwarte sie mit größtem Verlangen,
Sie können leicht erachten, wie schwerlich es sei, sich mit geborgten
Büchern zu behelfen." Von dem Bibliophilen Lessing während
274 *Abb. 177, 178
18. JAHRHUNDERT
seines Literatenlebens in Berlin, wo eine seiner ersten lohnenden Be-
schäftigungen die ihm von Mylius verschaffte Ordnung der Biblio-
thek des Buchhändlers Rüdiger war und ihm später das Amt des
Bibliothekars an der Königlichen Bibliothek entging, und in Leipzig,
das ihm das Jahrzehnt 1750—1760 ausfüllte, wissen wir nichts. Erst
die Berufung nach Breslau als Sekretär des Generals Tauentzien gab
Lessing vermutlich wieder die Möglichkeit, Bücher sammeln zu dürfen
und seit 1760 überließ er sich einer Büchersucht, die seiner Spiel-
sucht verglichen wurde. ,,Die zweite Sünde, deren er in Breslau
von seinen Freunden beschuldigt wurde, war das viele Bücherkaufen.
Es war Spekulation und Liebhaberei. Die Bücher gingen damals
in schlechtem Gelde fast wohlfeiler weg als sonst im guten ; er wußte,
daß er Bücher besser verwahren konnte, als Baarschaften, die ihm
der erste beste Dürftige ab jammerte, und sie waren auch das Einzige
von Erheblichkeit, das er aus Breslau nach Berlin zurückbrachte,** be-
richtet der Biograph und Bruder Carl Gotthelf Lessing darüber
und ein anderer Freund vermerkt: ,, Sobald er vom General voni
Tische kam, welches gewöhnlich um vier Uhr war, ging er entweder
in einen Buchladen oder in eine Auktion.** Lessing sammelte syste-
matisch, seine Ankäufe beschränkte er nicht auf den Breslauer
Büchermarkt, sondern nahm die anderswo sich bietenden Gelegen-
heiten, stets zu hohen Geldopfern bereit, wahr. In Berlin war
Friedrich Nicolai [1733—1811]* der Vertrauensmann, der die Auf-
träge besorgen mußte und dem er einmal schrieb: ,,Auf beiliegendem
Zettel stehen Bücher, die ich mir aus dem Baumgartenschen Cata-
lögo — — gezogen habe und die ich alle haben muß. Seien Sie also
so gut und lassen Sie mir sie erstehen. — Sehen Sie, wenn ich jetzt
auch noch so viel vergesse, ich behalte doch wenigstens die Bücher,
wo ich es wieder finden kann. Und kann ich mir nun die Bücher
vollends selber kaufen, das kann ich jetzt, so gewinne ich ja offenbar
im Verlieren. Denn in den Büchern steht sicherlich mehr, als ich
vergesse. Geben Sie nur acht, je mehr ich vergesse, desto gelehrter
werde ich werden! Und ein dickes Buch bekömmt die Welt nach
meinem Tode — vielleicht auch noch vor meinem Tode, gewiß noch
von mir zu sehen. Nämlich Bibliothecam Lessingianam seu Cata-
18» * Abb. 179 275
DEUTSCHLAND
logum librorum quos dum sapere legere vivere desiisset, coUegit vir
cum paucis sie stultis comparandus, Gotth. Ephr. Lessing etc. Aus
diesem Catalogo habe ich vor der Hand nichts gezogen — sondern
aus dem Baumgartenschen Catalogo . . . Sie gehen also in die Auc-
tion und erstehen mir die Bücher, — Hier werden sehr oft Pferde
und Packsättel verauktioniert; ich bin wieder zu Ihren Diensten.
Die ich mit einem * notiert habe, müssen Sie mir um Gotteswillen
nicht weglassen. Ich muß Sie absolut haben.^^ Diesmal war der
leidenschaftliche Sammler Lessing auch ein vergeßlicher Samm-
ler gewesen, er hatte einen ähnlichen dringenden Auftrag noch
einem zweiten Bekannten in Berlin gegeben und die beiden Bieter
für Lessing übersteigerten sich gegenseitig zu Lessings Schaden,
bis sie endlich einander aufklärten. Ein Geschichtchen, das häufi-
ger vorgekommen sein wird — es hat dem Herzog von Welling-
ton einmal in den Tagesruhm der Bibliomanie gebracht — das aber
jedenfalls auch beweisend genug ist für den Bibliophilen Lessing,
dem die in seinem Briefe an Nicolai scherzhafte Zweifelsfrage, wann
die Welt seinen dicken Katalogband zu sehen bekäme, sich bald in
der unerwünschtesten Weise beantworten sollte. Eine gewählte und
große Büchersammlung zierte 1765 die Wände von Lessings Berliner
Wohnung, 1767, als er die Übersiedlung nach Hamburg vorbereitete,
mußte er sich notgedrungen von ihr trennen, um den Vorschuß für
die neubegründete Bode-Lessingsche Buchdruckerei zahlen zu
können, wie er am 21. Dezember 1767 nach Hause schrieb. Dar-
über berichtete er am 1. Feburar d. J. an Job. Ludw. Gleim [1719
— 1803]: „Meine Bibliothek wird springen; ich behalte von 6000
Stück nichts, als was ich zu meinen vorhabenden Arbeiten unum-
gänglich brauche. Es geht mir nahe, daß ich mich ihrer entschlagen
muß, daß ich mich ihrer an einem Orte entschlagen muß, wo Bücher
ganz und gar nichts gelten. Aber was zu thun? Ich wünschte, daß
Sie einen reichen gelehrten Domherrn wüßten, der mir wenigstens
meine Journale abhandeln wollte. Ich habe das Journal des Savans
bis auf 1764 complet, in 235 Bänden; den Mercure de France bis auf
1758, in 254 Bänden; die Acta eruditorum, die Ann^es litteraires
de Freron, kurz einen Praß von solchen Werken von siebentehalb-
276
18. JAHRHUNDERT
hundert Bänden, die mir herzlich zur Last sind und die man doch
wohl selten so vollständig findet. Denn die letzten Jahre, die daran
fehlen, sind überall zu haben. Schade, daß der Graf von Wernigerode
nur Bibeln sammelt!*^ Gleim, der Hilfsbereite, antwortete sogleich:
„Und daß Sie Ihre Bibliothek zu verkaufen genöthigt sind! Welch
ein Jammer, daß ich nicht den Augenblick Ihnen den Werth geben
und sie Ihnen auf Lebenslang zum Gebrauch lassen kann! Wäre
denn aber gar kein Rath, sie zu erhalten? Sagen Sie doch, sagen Sie,
liebster Lessing, was kann ich dazu beitragen? Könnten wir, ich,
Nicolai, Moses, Ihre besten Freunde, nicht soviel zusammenschießen,
als Ihnen nötig ist? Zu allem, zu allem bin ich bereit. — Wenn es
aber schlechterdings nicht anders sein kann, so sagen Sie mir doch
bald, was Sie haben wollen für die siebenhundert Bände Journale.
Vielleicht überrede ich den Grafen von Wernigerode oder mein
Domcapitel, sie zu kaufen!** Lessing verfolgte aber Gleims An-
gebot nicht weiter, er ließ in Berlin seine Büchersammlung zurück
und sich aus ihr eine von ihm getroffene Auswahl nach Hamburg
kommen, auf deren Sendung sein Brief vom 21. April 1767 drängte:
„Wie steht es mit meinen Sachen? Ich will doch hoffen, daß sie
abgegangen sind? Ich kann eher weder in Ordnung noch in Ruhe
kommen, als bis ich meine Bücher um mich habe.'* Gleichzeitig be-
gann er die Versteigerung der Berliner Bücher vorzubereiten, wobei
ihn der in Berlin lebende Bruder Carl Gotthelf unterstützte. Ihm
schrieb er am 22. Mai 1767: „Laß ja an dem Catalogo fleißig
drucken*^ am 14. August: „Mit nächstem will ich Dir den Cata-
logum mit Preisen schicken, unter welchen Du die Bücher nicht weg-
gehen lassen sollst. Mache nur, daß der Katalog fein herumgeschickt
wird," am 21. September: „Hier schicke ich Dir den Katalog mit
beigefügten Preisen, unter welchen Du die bemerkten Bücher nicht
wohl mußt gehen lassen. Weise ihn aber vorher Herrn Voß und höre
seine Meinung in Ansehung der Hauptbücher, als des Journal des
Savans, des Mercure etc. Ich hoffe nicht, daß ich die Preise zu hoch
angesetzt, und da ich vielleicht mehr als die Hälfte gar nicht taxiert
habe, so sollte ich meinen, daß doch wenigstens die 660 Thaler, auf
die ich den Überschlag gemacht, nach Abzug der Kosten heraus-
277
DEUTSCHLAND
kommen müßten. Das Geld muß an Herrn Voß berechnet werden,
dem ich, wie du weißt, 500 Thaler schuldig bin." Anfang 1768
scheint die Druckvorlage des Kataloges fertig geworden zu sein,
ein Brief Carl Gotthelfs vom 10. Februar dieses Jahres meldete:
,, Liebster Bruder! Hier ist der Katalog. Deine fanatischen Bücher
habe ich weggelassen. In der Auction gelten sie nichts. In Ham-
burg aber, wo ein Goeze das Gift der Allgemeinen Deutschen Biblio-
thek nicht um sich greifen läßt, kann noch eher damit etwas zu
machen sein." Diesen Katalog [er ist bisher nicht aufgefunden oder
nachgewiesen] ließ dann Carl Gotthelf drucken, was der Brief Gott-
hold Ephraims vom 9. Juni 1768 lobte: ,,Du hast wohlgethan, daß
du den Katalog drucken lassen. Sobald er fertig, schicke mir ein
Exemplar, und ich will Dir die Preise dabei notieren, für welche ich
sie lassen will; das Journal des Savans aber nicht unter 100 und den
Mercure nicht unter 60 Thaler." Anfang Oktober wird dann wohl
die Versteigerung stattgefunden haben, da ein Brief Lessings vom
28. Oktober bereits bei seinem Bruder über ihren Rückstand ver-
ügte: ,,Ich habe an Herrn Voß geschrieben, was ich mit den aus
der Auction zurückgebliebenen Büchern zu machen wünschte, be-
sonders mit dem Journal des Savans und dem Mercure. Es ist zu
spät sie hierher kommen zu lassen. Herr Voß wird sie also wohl nach
sich nehmen. Mag er doch auch allenfalls das Journal an den Grafen
von Anhalt verkaufen, was dieser dafür geben will." Das Ergebnis
der Berliner Versteigerung war also weit hinter den Erwartungen
Lessings zurückgeblieben. „So wenig er daraus lösete, so würde es
doch noch weniger gewesen sein, wenn nicht aus Warschau für die
Zaluskische Bibliothek Bestellungen eingelaufen wären, denn in Berlin
war niemand, der den seltenen Schund erstanden hätte." [Carl
Gotthelf Lessing.] Das mag neben dem Entschluß, Hamburg zu
verlassen, mitbestimmend gewesen sein für die Eile, mit der er nun
auch die Auflösung seiner in Hamburg befindlichen Bücherei ver-
anlassen wollte, so daß es ihm zu spät erschien, die beiden zurück-
erhaltenen Hauptwerke der in Berlin verkauften nach Hamburg
kommen zu lassen. Kurz und bündig meldete er dem Bruder am
24. September 1768: „Auf dem instehenden Februar gehe ich mit
278
18. JAHRHUNDERT
dem ersten Schiffe von hier nach Livorno und von da geraden Weges
nach Rom. Ich verkaufe alle meine Bücher und Sachen, wovon der
Kiatalog bereits gedruckt und die Auktion auf den löten Januar
angesetzt ist." Aber der Katalog war damals doch noch nicht oder
noch nicht zu Ende gedruckt, denn Mitte Oktober arbeitete Lessing
neben der „Hamburgischen Dramaturgie** noch an ihm. Diesmal
nahm er, nach seiner Fertigstellung im Dezember 1768 und im
Januar 1769 die Versendung selbst in die Hand und verschickte den
[bisher nicht wieder aufgefundenen] Katalog an die Bekannten und
Freunde. Nicolai sollte den Katalog verteilen helfen. „Sie werden
besonders vortreffliche italiänische Sachen darin antreffen," bemerkte
er ihm, worauf der Berliner Buchhändler zurückschrieb: „Schicken
Sie mir ihren Catalogus, ich will ihn bestens bekannt machen. Haben
Sie nicht den Ricciardetto italiänisch? Ich hätte ihn gern.** Am
29. November 1768 gab darauf Lessing die Antwort: „Meinen
Catalogum werde ich Ihnen künftige Woche senden. Den Ricciar-
detto habe ich, und zwar die prächtige Ausgabe in 2 Octavbänden
mit Kupfern, Lucca 66. Es war eben noch Zeit, ihn aus dem Cata-
logo zu lassen, und er steht für das, was er mich kostet, zu Ihren
Diensten. Schreiben Sie mir nur, ob ich ihn Ihnen mit der Post
senden soll.'* Auch Rudolf Erich Raspe, damals noch der Direktor
des Kasseler Münzkabinetts, der in England später in englischer
Sprache das Münchhausenbuch kompilierte, sollte mithelfen. An
ihn wandte sich Lessing mit den folgenden Worten: „Ehe ich von
hier wegreise, lasse ich einen Teil meiner Bücher verauktionieren.
Ich nehme mir die Freiheit, Ihnen einen Catalogum davon zuzu-
schicken; nicht zwar als ob ich glaubte, daß Sie etwas für sich darin
finden würden, sondern weil Sie vielleicht sonst einen Liebhaber
wissen möchten, dem einiges daraus anständig wäre. In diesem Falle
würde unser Freund Hr. Meyer die Commission gerne übernehmen.**
Johann Andreas Dieze in Göttingen bemühte er am 5. Januar 1769:
„Jetzt sende ich Ihnen ein Verzeichniß von Büchern, deren ich mich
hier entlasten muß, weil ich Hamburg und Deutschland in einigen
Monaten zu verlassen gedenke. Ich bilde mir nicht ein, daß für
Ihre öffentliche Bibliothek etwas darunter sein sollte; vielleicht aber
279
DEUTSCHLAND
sind sonst Liebhaber in Göttingen, an welche ich die Exemplare zu
verteilen bitte. . . . Von den spanischen Comödien habe ich hier
eine ansehnliche Menge zusammengebracht. Denn selten ist ein
Hamburger, der sich zu Cadix bereichert, wieder zurückgekommen,
ohne ein paar Comödien mitzubringen.'* Und auch die Bestellungen
kamen, wie die Johann Adolf Eberts aus Braunschweig: „Ja, ich
muß etwas von Ihren Büchern haben, obwohl bei uns die Zeiten gar
nicht danach sind, daß man viel Bücher kaufen könnte. — Seien
Sie so gütig und lassen meine Commission wohl besorgen. Diejenigen,
denen ich ein * vorgezeichnet habe, möchte ich am liebsten haben.
Sie kennen aber die Preise der Bücher gewiß besser als ich. Wenn
Sie also nötig finden hier und da noch etwas hinzuzusetzen, so thun
Sie es. Beim Aristophanes habe ich den Preis gar weggelassen. Sie
werden ihn schon nach Ihrer Billigkeit bestimmen. Andere, außer
den Griechen, gehen vielleicht wohlfeiler weg. . . . Auf die französi-
schen darf ich mir wohl am wenigsten Rechnung machen, da sie in
Hamburg verkauft werden, wo es so viele seinwollende Kenner giebt,
welche die Bücher noch teurer zu bezahlen pflegen, als sie im Laden
kosten.'* Anzeigen, in der ,, Neuen Hamburgischen Zeitung" dreimal
bekannt gemacht, bestimmten Ort und Zeit der Versteigerung: „Auf
den Isten des instehenden Februar [1769] und folgende Tage soll
auf dem Einbeckischen Hause allhier eine Sammlung auserlesener
Bücher zur classischen Gelehrsamkeit, der Geschichte, den schönen
Wissenschaften und der Philosophie gehörig, verauctionieret werden.
Es finden sich in selbiger nicht allein viele der schönsten und besten
Ausgaben der alten griechischen und lateinischen Autorum, sondern
auch die vorzüglichsten Schriftsteller und Dichter der lebendigen
Sprachen, nemlich der französischen, italiänischen und englischen,
wie auch sehr viele größere historische Werke und Sammlungen, durch-
gängig wohl konditioniret, zum Teil auch sehr sauber und prächtig
gebunden." Aber die beiden Versteigerungen von 1768 und 1769
hatten den Büchervorrat Lessings immer noch nicht erschöpft und
die Verwertung von dessen Resten blieb einer dritten vorbehalten.
Für sie stellte er die Berliner Bücher mit den übrig gebliebenen Ham-
burgern zusammen. Am 6. Juli 1769 bat er den Bruder: ,, Notire
280
18. JAHRHUNDERT
mir die vorzüglichsten nur mit einem Worte auf, damit ich urteilen
kann, ob es sich der Mühe verlohnt, sie hierher kommen und verauc-
tioniren zu lassen. Ich muß alles zu Gelde machen, was ich noch
habe; und auch so noch werde ich meine Reise nur kümmerlich be-
streiten können.'' Carl Gotthelf schickte das verlangte Verzeichnis
am 15. Januar 1770 ein und versprach die Verschickung der Bücher,
sobald das Wasser aufgegangen sei. „Oder verlangst Du sie auf der
Achse dahin, so darfst Du es mir nur melden. In Berlin haben sie
fast keinen Wert.** Auch für die dritte Versteigerung ist ein [bisher
unaufgefundenes] Verzeichnis veröffentlicht worden und auch für
sie verwandte sich Lessing, unter dem 7. Mai 1770, bei dem Braun-
schweiger Freunde Ebert: „Eben besann ich mich heute morgen,
daß wir schon den 7ten schrieben und daß den 14ten meine Auction
in Hamburg ist. Geschwind also noch ein paar Cataloges zusammen-
gepackt und sie an Eberten geschickt, der immer klagt, daß er kein
Geld habe, und doch immer Bücher kauft, als ob er seines Geldes
kein Ende wüßte. — Ihr unglücklichen Leute, die ihr noch Geld
für Bücher ausgeben müßt! Diese Torheit habe ich überstanden,
und ins künftige kann ich das Geld, das ich sonst auf Bücher
wandte, ver— was meinen Sie, was ich schreiben wollte? vertrinken?
verspielen? — verhuren? Wahrlich, ich wollte schreiben: vergraben.
— Wenn Sie Commissiones nach Hamburg schicken wollen, so
schicken Sie sie doch an den Auctionsschreiber Koester, wohnhaft auf
dem Brauerknechtgraben. Ziehn — um mit einem Nürnberger zu
schließen, bezieht seine Leute.** Lessing war aller Büchersorgen
ledig. Am 7. Mai 1770 trat er sein Amt als Bibliothekar in Wolfen-
büttel an, am 14. Mai 1770 fand die letzte der Lessingversteigerungen
statt und der, dessen Namen sie trug, durfte sich erleichterten Her-
zens bekennen: ,, Bücher kann ich nun am Ersten entbehren.**
Ein artiger Zufall wollte es, daß die 235 Bände des Journal
des Savans und die 254 Bände des Mercure de France auch dies-
mal ihn nicht verließen. Die Bibliothek in Wolfenbüttel, die
am 14. Mai in Hamburg für 175 Taler 16 gute Groschen kaufte,
hatte die beiden Reihen sich zugeeignet; die erstgenannte für
51 Taler 16 gute Groschen, die andere für 63^^ Taler. Daß bereits
281
DEUTSCHLAND
Lessing selbst diesen Auftrag ausgefertigt haben sollte, ist freilich'
nicht anzunehmen. Die Anschaffungen für die Bibliothek in Wolfen-
büttel nahm er auf eigene Rechnung vor; er sammelte für sie, so
auf der italienischen Reise, wie für sich selbst; und der Bibliophile
Lessing konnte als Bücherkäufer, Bücherleser, Büchernutzer in
den elf Jahren seiner amtlichen Tätigkeit fast freier schalten als
ehemals. Dem bibliothekarischen Rechnungs- und Verwaltungs-
wesen blieb er allerdings fremd und im wesentlichen bestand sein
Büchernachlaß aus 150 der Bibliothek in Wolfenbüttel entnommenen
Druckwerken und 30 ihr gehörenden Handschriften, deren Nach-
weisung nach seinem Tode noch Schwierigkeiten machte, weil er sie
ohne Bemühung des Bibliotheksdienstes der eigenen Verwahrung
anvertraut hatte: auch darin ohne alle Pedanterie, ohne die der
Büchersammler Gotthold Ephraim Lessing gewesen ist.
Eine ansehnliche Bücherei hatte auch der Vater Gotthold
Ephraims, der Camenzer Primarius Johann Gottfried, die nach
dessen Tod aufgelöst und zerstreut worden ist, während sein Bruder
CarlGotthelf, ebenfalls schon vor seinem Tode, von seinen Büchern
Abschied nehmen mußte, bei welcher Gelegenheit wohl der Brief-
wechsel und der andere handschriftliche Nachlaß des Dichters ver-
zettelt worden ist. Der Bestand der Bibliothek des ältesten Sohnes
Carl Gotthelfs, des Kanzlers Carl Friedrich, verbrannte in den
wertvollsten Teilen 1813. Ein Familienarchiv, eine Familienbibliothek,
die den Grundstamm einer Lessing-Sammlung hätten bilden können,
waren also nicht vorhanden, als der Sohn des Kanzlers aus zweiter
Ehe, CarlRobert Lessing [1827—1911]* den Plan einer Sammlung
solcher Art zu verwirklichen begann. Daß deren Richtpunkt die
Gestalt des berühmten Ahnen werden mußte, war selbstverständlich.
Da jedoch die Bibliothek des dritten Heros der deutschen klassischen
Literatur sich nicht wie diejenige Goethes [in Weimar] und Schillers
[in Weimar und Hamburg] ganz oder großenteils erhalten hatte,
würde es ein aussichtsloses Beginnen gewesen sein, eine Rekon-
struktion dieser Privatbibliothek aus ihren Bruchstücken zu unter-
nehmen. Weniger aussichtslos erschien es, die überallhin zerstreuten
Lessinghandschriften zusammenzusuchen, um so allmählich einen
282 * Abb. 227
18. JAHRHUNDERT
Mittelpunkt ihrer neuen Vereinigung zu schaffen. Damit ließ sieh
der Ausbau eines Familienarchivs in Zusammenhang bringen und die
Begründung einer Lessing-Bibliothek im weiteren Sinne, die die
Ausgaben Lessingscher Schriften in möglichster Vollständigkeit,
die Bücher über Lessing und seine Werke in einer engeren Auswahl
enthalten sollte. Begünstigt durch Beharrlichkeit und Glück konnte
Carl Robert Lessing, unterstützt von seinen reichen Mitteln, das
Sammlungsziel, das er sich gestellt hatte, in wenigen Jahrzehnten er-
reichen und eine Lessing-Sammlung schaffen, die die weitaus be-
deutendste ihrer Sonderart wurde. Sie läßt sich, mit den hier not-
wendigen engeren Maßstäben gemessen, die sich vor allem aus dem
eben angedeuteten Schicksal des Gotthold Ephraim Lessingschen
Nachlasses ergeben, den Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar
vergleichen. Damit aber gewann die Lessingsche Privatbibliothek
ihren allgemeinen nationalen Wert. Das hat auch ihr Erbe, Carl
Roberts Sohn Gotthold Lessing [1861—1919], Rittergutsbesitzer
zu Meseberg bei Gransee, wo er seine eigene kleinere Büchersamm-
lung aufstellte, erkannt, indem er für ihre Erhaltung sorgte, eifrig
darauf bedacht, sie als Lessing-Sammlung zu vermehren und weiter-
zuführen und ihre wissenschaftliche Benutzung durch die Druck-
legung eines Kataloges zu ermöglichen. Anbauten an den Grund-
stock der Lessing-Bibliothek enthalten die nicht zu ihr selbät ge-
hörenden übrigen Teile der Büchersammlung Carl Robert Lessings.
Mehr mit behaglicher Muße, ohne ängstlich auf Abrundung und Voll-
ständigkeit bedacht zu sein, hat der Sammler auf den Gebieten der
deutschen Dichtung und Geschichte manches schöne Stück noch in
die Bändereihen seiner Schränke aufnehmen können. Von seinem
Oheim, dem Justizkommissar Christian Friedrich Lessing
[1780—1850] erbte er eine stattliche Anzahl erdkundlicher, geschicht-
licher, naturwissenschaftlicher Werke, auch englische und fran-
zösische Literatur. Besonders ausgezeichnet sind die aus dieser
Lessing-Sammlung stammenden Bücher durch ihre, in der Ber-
liner Buchbinderei von C. W. Vogt ausgeführten dunkelblauen und
grünen Halbfranzbände. Ein Vorzug, der zumal bei wissenschaft-
lichen deutschen Büchern aus der Zeit jenes Buchfreundes recht
283
DEUTSCHLAND
selten ist. Eine abgerundete Folge, etwa der Hauptwerke der klassi*
sehen und romantischen Epoche der deutschen Dichtung in ihren
Urdrucken lag nicht in den Absichten Carl Robert Lessings. Hätte
er sie gehabt, dann hätte er für die Abgrenzung des Umfanges seiner
Büchersammlung den Maßstab seiner mitsammelnden Zeitgenossen,
etwa den seines bibliographisch-bibliopolischen Vertrauensmannes
Wendelin von Maltzahn anlegen oder sich gar mit den Biltz, Heyse,
Meusebach und anderen in die früheren Jahrhunderte verlieren
müssen. Dafür gab er das in aeinen Tagen in Deutschland ganz un-
gewöhnliche Beispiel kostbarer Liebhaber-Privatausgaben in den
beiden für ihn veranstalteten Drucken des , Nathan^ [1881] und der
,Minna von Barnhelm' [1890]. Und wenn die Grenzen seiner Hand-
schriftensammlung weitere wurden, so ergab sich das aus ihrem Er-
werb. Als Carl Robert Lessing am 28. April 1876 von dem Berliner
Numismatiker Julius Friedländer die Friedländersche Handschriften-
sammlung in seinen Besitz bringen konnte, hatte er mit diesem
Familienerbgute viele Mappen erstanden, deren erster Besitzer
noch mit dem Dichter des Nathan selbst und manchen seiner per-
sönlichen Freunde Beziehungen unterhalten hatte. David Fried-
länder [1750-1834] aus Königsberg i. Pr., seit 1771 in Berlin, der
Freund Moses Mendelssohns und der Schwager J. [H]Itzigs, be-
kannt durch seine von ihm auch als Schriftsteller erfolgreich ver-
tretenen Bestrebungen zur Emanzipation des Judentums, kam ein
halbes Jahrhundert hindurch in mehr oder minder enge Berührungen
mit den geistigen und künstlerischen Größen Deutschlands. Da
war es kein Wunder, daß ihm sich aus einem solchen Verkehr seine
Autogrammkollektion fast ganz von selbst sich bildete. Sein Sohn
Benoni Friedländer [1773—1858] hat sie in einen planmäßig er-
weiterten und geordneten Handschriftenschatz verwandelt, dabei
aufs tatkräftigste von seinem Vater unterstützt. Weit mehr Ge-
lehrter als Kaufmann, beschränkte er seine Begeisterung nicht allein
auf Drucke und Handschriften. Er war auch ein tüchtiger Münzen-
kenner, insbesondere ein Liebhaber der italienischen Schaumünzen
des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts und ist auf diesem
Gebiet, wie es Goethes Briefwechsel mit Zelter erläutert, auch mit
284
]8. JAHRHUNDERT
dem Herrn der Sammlungen des Hauses am Frauenplan in einen
Tauschverkehr gekommen, bei dem er ein wenig den Kürzeren zog.
Johann Jacob Engel hatte 1795 mit dem leichten Herzen des Philo-
sophen für die Welt Lessings Handschrift der , Minna von Barn-
helm* an Benoni Friedländer verschenkt. Die Handschrift des
,,Laokoon*' einschließlich der Vorarbeiten und Korrekturbogen so-
wie acht Briefe Lessings hatte Benoni Friedländer dazu erwerben
können. Briefe und Briefreihen des Lessingkreises schlössen sich
an; der Briefwechsel seines Vaters, in ihm die von Goethe an diesen
gerichteten Briefe, führten die Sammlung bis in das erste Jahrzehnt
des neunzehnten Jahrhunderts fort. Von seinem Vater erhielt
Benoni Friedländer auch eine Urhandschrift des „Antimachiaveir'
Friedrich des Großen, die jenem von dem Berliner Buchdrucker Voß
übergeben worden war. Aber Benoni Friedländer ist trotzdem kein
ganz konzentrierter, kein ganz systematischer Autogrammsammler
gewesen. Ihm, dem seine Familienbeziehungen und Lebensverhält-
nisse beim Sammeln unterstützten; der durch den 1824 in Paris
verstorbenen Dr. med. Michael Friedländer aus den Verbindungen
dieses dort beliebten Arztes manches schöne Stück erreichbar
wurde; dem der Geschäftsverkehr seines Vaters gelegentliche Ge-
schenke gewann, wie die der Herzogin Dorothea von Kurland,
bildeten sich immer neue Richtlinien zur Vervollständigung des
Ganzen, wenn eine neue Provenienz, z. B. die von ihrem Arzte,
dem eben erwähnten Dr. Friedländer, gekommenen Papiere aus dem
Besitze der Madame de Stael, dafür neue Ausgangspunkte bestimm-
ten. Und ihm, dem von Kants Briefen an Marcus Herz, von Mendels-
sohns Handschrift seiner Psalmenübersetzung und von dessen Brief-
wechsel mit Lavater, Bonnet und Herz an bis zu Nicolais Brief-
wechsel mit Lavater und Wieland, mit Kleist, Gleim, Lichtenberg
und Johannes von Müller, bis zu Gerstenbergs Briefwechsel mit
Matthias Claudius und Jacob Friedrich Schmidt, bis zu den Goethe-,
Schiller- und Wilhelm von Humboldt-Briefen, bis zu den Hand-
schriften der Helden des Freiheitskrieges und E. T. A. Hoffmanns
Notatenbuch in reichster Fülle die Handschriftenschätze seiner
eigenen Zeit zuflössen, genügte es nicht, sich auf sie allein zu be-
285
DEUTSCHLAND
schränken. Auch das, was im bunten Wechsel eine ferne Vergangen-
heit ihm spendete, barg er, gern romantisch, in seiner Schatzkammer:
alte Kaiserurkunden, Humanisten- und Reformatorenbriefe, Schrift-
stücke von der Hand in der Staatengeschichte vorübergegangener
Jahrhunderte hervorragender Persönlichkeiten und manches andere
ehrwürdige Stück noch, das schwarz auf weiß ein geschichtliches
Zeugnis ablegte. Denn noch war das Autogrammsammeln mehr
sentimentalisch als systematisch begründet.
Als Carl Robert Lessing die Friedländerschen Handschriften
mit dem Versprechen, sie zusammenzuhalten, übernahm, war es
ihm klar, daß auch ein langes Menschenleben und noch so reiche
Mittel nicht ausreichen würden, sie in ihrer vollen Ausdehnung weiter-
zubauen. Hatte er doch die Sammlung nicht zum wenigsten ihres
starken Lessingstammes wegen erworben. Ihn zu vergrößern be-
trachtete er als die Hauptaufgabe, deren Lösung ihm zufiel. Von
acht auf achtzig vermehrte er, keinen hohen Preis scheuend, die
Zahl seiner Lessingbriefe, die er, darin weniger glücklich als Vater
und Sohn Friedländer, bis auf einen kaufen mußte. Den Erwerb der
Briefe Lessings an Elise Reimarus vermittelte Christian Redlich.
Wie denn überhaupt die Lessingforscher die Bestrebungen des mit
der Mitteilung seines Besitzes nicht geizenden Lessingsammlers
durch wertvolle Winke auf günstige Gelegenheiten und neue Funde
gern unterstützten. Von den Erben des Lichtenbergschen Nach-
lasses konnte er aus ihm die Handschrift der drei ersten „Gespräche
für Freymäurer'* zurückerwerben — so darf man es wohl nennen,
wenn man Carl Robert Lessing als den Verwalter des handschrift-
lichen Nachlasses von Gotthold Ephraim Lessing gelten lassen will.
Dazu kamen die Handschriften der Oden an Gleim und Christian
Ludwig von Kleist nebst anderen Handschriftenblättern, die bei
den Händlern, in Verkaufs- und Versteigerungsverzeichnissen aus
dem Dunkel ihrer Vergessenheit wieder auftauchten. Auch diesmal
bewährte sich eben die magnetische Kraft, die ein Sammler, der ein
Sondergebiet ohne ängstliche Knauserigkeit pflegt, auf den Alt-
büchermarkt ausübt, in ihrer doppelten Wirkung. Die Lessing-
autogramme stiegen zwar rasch in ihrem Liebhaberwerte, aber die
286
18. JAHRHUNDERT
hohen Preise lockten dafür auch manches bisher unbeachtete oder
zurückgehaltene Stück aus seinem Versteck hervor. Wenn Carl
Robert Lessing, obschon nicht ausschließlich, so doch mit ständig
angestrengtem Eifer ein Menschenalter hindurch als Autogrammlieb-
haber sein Sondergebiet bestellte, konnte er doch hin und wieder der
Verlockung nicht widerstehen — und welcher Sammler vermöchte das
wohl — sich dieses oder jenes Prachtstück zu sichern, das ihm, den
von den Händlern umworbenen, die Gelegenheit zuführte. Und
einmal noch hat er, obschon seines Verhältnisses zur , Vossischen
Zeitung* wegen dabei immerhin im eigenen Kreise bleibend, den
raschen Griff nicht verschmäht, als er eine Handschriftenmasse an
sich bringen konnte, die seinen Besitz an Autogrammen der Ro-
mantikerepoche vorteilhaft ergänzte. Mit den Dichter- und Künst-
lerbriefen aus dem Nachlaß von Friedrich Wilhelm Gubitz [1786
— 1870] verschaffte er sich den Briefwechsel eines vielseitigen
Mannes, der jahrzehntelang seiner buchgewerblichen und schrift-
stellerischen Tätigkeit wegen weit- und wohlbekannt gewesen ist.
Die Bücher- und Handschriftensammlung erweiterte sich durch die
Kunstsammlungen zum Lessing- Museum.*
Unter den Gegnern Lessings war wohl Johann Melchior
Goeze [1717—1786], seit 1755 Hauptpastor an der Katharinen-
kirche zu Hamburg, der bedeutendste Bibliophile. Als ,2^ons Wächter'
ist der streitlustige lutherische Theologe durch seine zahlreichen
Polemiken mit Vertretern der Aufklärung bekannt geworden, be-
rühmt erst durch den Fragmentenstreit und seine ausgezeichnete
Bibelsammlung. Die Ausgaben des Buches der Bücher hatten sich
seit dem ersten Bibeldruck der Gutenbergwerkstätte immer mehr
verändert und vervielfacht; Übersetzungen in zahlreichen Sprachen
waren entstanden; die Beschäftigung mit der Bibelbibliographie war
nicht allein für die Textkritik wichtig geworden, sondern auch für
dogmatische Untersuchungen, sie bot zudem alle Reize, die einen
Sammler kostbarer und seltener Bücher locken können; dazu noch
diesen, eine gewisse Abrundung und Vollständigkeit erreichen zu
lassen. Von allen Seiten betrachtet verwies sie auf eine Sammler-
aufgabe, deren Lösung lohnte. Daß gerade die Aufklärungszeit die
* Abb. 228, 229 287
DEUTSCHLAND
bedeutendsten Bibelsammlungen in Deutschland entstehen ließ,
während die literarische Polemik in den Reformationsbibliotheken
in den Vordergrund getreten war, mag vielleicht auch mit der ratio-
nalistischen Wendung, die die Theologie nahm, zusammenhängen.
Aber im allgemeinen sind es doch wohl die antiquarisch-biblio-
graphischen Rücksichten gewesen, aus denen derartige Sammlungen
zusammengebracht wurden. Daß ihre Sammler selbst meist Theo-
logen gewesen sind, denen die wissenschaftliche Beschäftigung mit
der Bibel ohnehin Pflicht war, brtaucht auf keine bestimmten
theologischen Tendenzen dieser Sammlungen hinzuweisen. Mit der
Behaglichkeit, mit der der Hallenser Bibelsammler Siegmund
Jacob Baumgarten [1706—1757] diese bibliographischen Stu-
dien trieb, hat freilich Georg Wolfgang Panzer [1729—1804],
einer der ersten deutschen Bibliographen wissenschaftlicher Artung
dem Range und der Zeit nach, nicht gearbeitet. Denn wenn der [seit
1772] Schaffer [oder Hauptpastor] in Nürnberg auch seit 1789 Vor-
steher des Pegnitzer Blumenordens war, als Rammler war er allem
spielerischen Treiben fern. Systematisch suchte er die ältere deutsche
Literatur zu durchforschen, reiche Ergebnisse in seinen grundlegen-
den Werken lohnten ihm solches Mühen. Aus seinem Besitz erwarb
Karl Eugen, Herzog von Württemberg [1728—1793] 1645
Bibelausgaben für die Bibelkollektion, mit der er seine 1765 in Lud-
wigsburg begründete Landesbibliothek, die 1775 nach Stuttgart
überführt wurde, ausstattete. Der Bibelsport des Herzogs ist von
seinen Zeitgenossen ebenso belacht worden wie die seinetwegen aus-
geführten Bibelreisen, auf denen er 1784 in Kopenhagen die Bibel-
bibliothek des dortigen Pastors Josias Lork erwarb [5156 Aus-
gaben]. Immerhin ist diese Laune des Herzogs wohl diejenige ge-
wesen, die die am meisten nützliche Leistung lohnte. Neben der
Bibelsammlung in Stuttgart, die im achtzehnten Jahrhundert die
größte ihrer Art war, blieben die kleineren Privatbibliotheken weit
zurück. Ebenso wie die Bibelreihen Goezes sind auch die des Augs-
burger Pfarrers J. A. Steiner, die 982 Bände enthielten, nach
seinem Tode durch eine Augsburger Versteigerung im März 1799
wieder zerstreut worden.
288
18. JAHEHU^NDEET
Die in einem gelehrten Lebensberufe tätigen deutschen Denk er
und Dichter verfügten wohl zumeist auch über das ihnen notwendige
Arbeitsmittel einer Bücherei, ohne deshalb schon zu Sammlern im
engeren Sinne zu werden. Eine um so bemerkenswertere Ausnahme
machte hierin Immanuel Kant [1724—1804]. Als Magister mußte
der Philosoph in den ersten Jahren seiner akademischen Lehrtätig-
keit seine damals ansehnliche Bibliothek nach und nach veräußern.
Wohl deshalb, und vielleicht auch, weil ihm bei der Verwaltung des
Amtes eines zweiten Aufsehers der Königlichen Schloßbibliothek
[1766—1772] das Vorweisen von deren Seltenheiten an bloß Neu-
und nicht Wißbegierige gegen das Buch ,an sich* eingenommen
haben mochte, hatte er späterhin keine Bibliothek mehr gesammelt ;
wie er denn auch niemals von seiner Bibliothek, sondern nur von
seinen Büchern zu sprechen pflegte. Das, was Kant lesen wollte,
erhielt er teils von seinen Freunden, teils und vornehmlich von
seinem Verlegerund ehemaligen Schüler Friedrich Nicolovius. Dieser
schickte dem Philosophen immer den Meßkatalog zu, worauf sich
Kant die Bücher, deren Lektüre er wünschte, notierte und nach und
nach aus dem Laden abholen ließ. In den letzten Jahren sein es
Lebens las er mit Vorliebe ungebundene Bücher, obschon er die von
seinen eigenen Werken verschenkten Widmungsexemplare in einer
verschiedenartigen Einbandausstattung verteilen ließ: teils in halb-
englischen [Halbleder]bänden, teils in Buntpapierpappbänden. Die
nicht umfangreiche Büchersammlung, die nur sehr wenige neuere
Werke enthielt außer denen, die ihm von den Verfassern zugesan dt
wurden, die er indessen großenteils an seine Freunde weitergab,
stand in einer Kammer bei dem Schlafzimmer im zweiten Stock
seines Hauses. Sie zählte bei Kants Tode etwa 450 Bände u nd ist
in der Nachlaßversteigerung, in der die persönlichen Andenken an
ihn hoch bezahlt wurden, zerstreut worden.
Nach Hauptmahlzeit und Spaziergang betrieb Kant seine Lek-
türe von allerhand Art aus allen Fächern zum [pünktlichen] T ages-
schluß [um zehn Uhr] seiner sehr geregelten Lebensweise. „ Nach
6 Uhr setzte er sich an seinen Arbeitstisch, der ein ganz gewöhnUc her,
durch nichts sich auszeichnender Haustisch war, und las bis zur
BOGENG 19
DEUTSCHLAND
Dämmerung. In dieser, dem Nachdenken so günstigen Zeit, dachte
er dem Gelesenen, wenn es eines besonderen Nachdenkens wert war,
nach; oder widmete diese ruhigen Augenblicke dem Entwürfe dessen,
was er am folgenden Tage in seinen Vorlesungen sagen oder fürs
Publikum schreiben würde. Dann nahm er seine Stellung, es mochte
Winter oder Sommer sein, am Ofen, von welchem er durchs Fenster
den Löbenichtschen Turm sehen konnte. . . . Bei Licht setzte er
das Lesen fort bis gegen 10 Uhr. Eine Viertelstunde vor dem
Schlafengehen entschlug er sich so viel als möglich alles scharfen
Nachdenkens, und jeder auch nur kleine Anstrengung erfordernden
Kopfarbeit, um nicht durch sie aufgestört und zu munter zu werden,
denn die kürzeste Verzögerung des Einschlafens war ihm höchst
unangenehm.'* [E. A. Ch. Wasianski.] Dieser bedachten Diätetik
des Geistes und Hygiene des Lesens — Kants Abneigung gegen blassen,
schlechten Druck war so groß, daß er einmal beim Anblick eines
eigenen solcher Art vom Buchdrucker verunstalteten Werkes aus-
rief: es sei abscheuUch, daß man ihn auf diese Weise verhindere, sich
selbst zu verstehen; wie er denn auch in seiner Schrift von der Macht
des Gemütes aus dergleichen Gesichtspunkten die Buchgestaltung
geprüft hat — entsprach die Verarbeitung des Gelesenen zum Wissen«
Das Arbeitsverfahren, das die moderne BibUothekstechnik mit der
Kartothekstechnik vereint, um, in Anpassung und Ausbildung des
menschlichen Denkens und Gedächtnisses, die Büchernutzung aus-
zuwerten, hatte in Kant einen seiner ersten Meister. ,,Kant besaß ein
seltenes Sach- und Wortgedächtnis und eine bewunderungswürdige
innere Anschauungs- und Vorstellungskraft ... Er zitierte oft
lange Stellen aus alten und neuen Schriften, besonders aus Dichtern,
von welchen unter den neueren Hagedorn und Bürger am meisten
seinem Gedächtnis eingedrückt zu sein schienen. Ebenso erinnerte
er sich an historische Gegenstände mit der größten Genauigkeit.'*
[R. B. Jachmann, der an einzelnen Fällen diese ausgebildete Fähig-
keit Kants des Lesers erläutert.] Man kann die Methode des Philo-
sophen, die dem ältesten bekannten griechischen mnemotechnischen
System entspricht, in ihrer Anwendung auf die Benutzung der Bücher
und einer Bücherei aus L. E. Borowskis Hinweis kennen lernen: „In
290
18. JAHRHUNDERT
seinen ersten Magisterjabren empfahl er uns, die wir um ihn her
saßen, den bis dahin etwa eingesammelten wissenschaftlichen Voriat
uns als zerteilt in verschiedene Behältnisse in unserem Kopfe zu
gedenken — und dann, bei der Lesung eines Buches oder Journals,
in welchem eine neue, uns bis dahin unbekannte Idee vorkäme,
immer die Frage zur Hand zu haben : In welches Fach oder Behältnis
gehört dies, das du nun eben liesest, hin, — wo bringst du es bin? —
Hierdurch würde das Gelesene oder Neugelernte sich um desto un-
auslöschlicher eindrücken; wir würden, wenn uns auch die Idee
selbst in der Folge entfiele, doch immer uns zurufen: Hiervon oder
davon ist etwas in dieses oder jenes Behältnis reponiert — und bei
einiger Anstrengung würde es sich alsdann wohl ganz wieder dar-
stellen. Er glaubte, daß solche Rubrizierung des Neugelernten auch
zu einem gehörigen Ordnen unsers Wissens viel beitrage. — ...
Ebenso angelegentlich empfahl er uns auch, Miszellaneen nach den
Wissenschaften geordnet, anzulegen, um auch hierdurch der et-
wannigen Untreue des Gedächtnisses zu Hilfe kommen zu können.
Über den Nutzen, den ihm selbst seine in dieser Art frühe schon an-
gelegten Sammlungen geschafft hätten, sprach er sehr gern.'* Die
ausschöpfende Buchgelehrsamkeit Kants, der Umfang seines Wis-
sens, war sehr groß, auch er durfte noch als Polyhistor gelten.
„Kant war im eigentlichen Sinne des Worts ein Uni versialgelehrter . . .
Er hatte die ganze klassische Litteratur der Griechen und Römer
vollkommen inne ... Er besaß eine umfassende Altertumskunde
aller Völker und eine ebenso ausgebreitete Kenntniß der alten, neuen
und neuesten Geschichte und vorzüglich der Erde nach ihren ver-
schiedenen Epochen. Er hatte viele statistische, politische, öko-
nomische und naturhistorische Kenntnisse eingesammelt. Daß er
die ganze philosophische Litteratur alter und neuer Völker inne hatte,
daß er ein großer Mathematiker, Physiker und Astronom war, wissen
[wir] aus seinen Werken, aber er besaß auch ebensoviele Kenntnisse
in allen übrigen Teilen der angewandten Mathematik, [eine] vorzüg-
liche Kenntnis in der Chemie ... Er hatte auch eine ziemliche Be-
kanntschaft mit der neuern ästhetischen Literatur. Mit allen diesen
Wissenschaften verband er noch eine genaue Kenntnis der Reli-
!»• 291
DEUTSCHLAND
gionsurkunden der Christen, Juden und anderer Völker und viele
theologische Gelehrsamkeit, auch hatte er viele medizinische Kennt-
nisse eingesammelt. Von den neuern Sprachen verstand er fran-
zösisch, sprach es aber nicht/' Mag dieser Jachmannsche Pane-
gyrikus auch die Fachgelehrsamkeit des Philosophen überschätzen,
so läßt er dafür deutlich werden, welche Auffassung, an dem Maß-
stabe des schärfsten Denkers seiner Zeit gemessen, man von einer
Universalgelehrsamkeit hegte, wie sie sich auch in dem Charakter
der größeren Privatbibliotheken ausprägte. Wichtiger noch er-
scheint Kants Verhältnis zur Dichtung, insbesondere zu der seiner
Gegenwart. Denn es deutet auch für die BibUophilie und die Biblio-
theken Deutschlands die Grenzen an, die die alte und die neue Zeit
trennten. Hierüber urteilte Borowski : „Er schätzte Wohlredenheit
und bedauerte es, diese ebensowenig als den klaren, gleich faßlichen
Ausdruck (den er auch in gelehrten Vorträgen eben nicht so sehr
nötig hielt, damit dem Leser doch auch etwas zu eigenem Nach-
denken verbleibe) sich in seinen Schriften ganz eigen machen zu
können. Beredsamkeit war unserm Kant weiter nichts als die
Kunst zu überreden, den Zuhörer zu beschwatzen . . • Freund war
dagegen unser Kant von Sprachuntersuchungen, von Etymologi-
sieren . • . Auch echte Satiren der Älteren und Neueren galten bei
Kant sehr viel. Vom Erasmus von Rotterdam sagte er mehrmals,
daß dessen Satiren der Welt mehr Gutes gebracht hätten, als die
Spekulationen der Metaphysiker zusammengenommen. Liscov . . .
war ihm immer noch mehr wert als der spätere Rabener . . . Freilich,
in den letzten Jahren ging ihm Lichtenberg noch weit über seinen
geliebten Liscov. Poesie schätzte er sehr hoch. . . . Außer den klassi-.
sehen Dichtern des Altertums ^ . . war ihm Milton und Pope vor-
züglich lieb. Das verlorene Paradies des erstem hielt er für wahre,
ganz eigentliche Poesie und setzte dabei unsern Klopstock weit
unter Milton. . . . Unter den deutschen Dichtern befriedigte ihn
Haller vorzüglich; er wußte ihn größtenteils auswendig. Späterhin
las er gerne einige der Meisterwerke Wielands. [Allerdings, als ihm
Jachmann noch in seinem achtundsechzigsten Jahre den Oberon
zur Lektüre bringen mußte, konnte er an ihm doch nicht den Ge-
292
18. JAHRHUNDERT
schmack finden, als an den Göttergesprächen und früheren sonstigen
Werken Wielands, den er als den größten deutschen Dichter zu
rühmen pflegte.] Nur von Herders Gedichten und auch von seinen
prosaischen Werken nahm er weiter keine Notiz, nachdem er dessen
Ideen zur Geschichte der Menschheit nicht hatte goutieren können/*
Da Kant [und gleich ihm Schopenhauer] der Menschen- und Welt-
kenntnis wegen ein eifriger Zeitungsleser gewesen ist, darf es nicht
Zufall genannt werden, daß in Borowskis Zusammenstellung Lessings,
Goethes, Schillers Namen nicht erwähnt sind. Ebenso wie der große
König in Berlin hat auch der große Philosoph in Königsberg, trotz-
dem sie alle beide die Dichtkunst verehrten, deren Propheten in
ihrem Vaterlande nicht würdigen können. Sie haben hier das ge-
lobte Land nur von ferne sehen können.
Die Behaglichkeit der Bücherstube eines deutschen Gelehrten
im achtzehnten Jahrhundert, der, ohne Amtspflichten, nicht seines
Berufes wegen, sondern in sorgfältiger Wahl des für ihn wichtigen
die Bändereihen anwachsen läßt, die für seine Bildung zeugen, gibt
Goethe in den Stimmungen wieder, in denen er das Arbeitszimmer
seines Vaters als des Hauses Heiligtum beschreibt. Der auf sein
Ansehen bedachte, pedantisch würdevolle Herr Rat, der nicht zu
sparen brauchte, ohne darum verschwenderisch die wirtschaftliche
Ordnung zu stören; der sich in seiner Beschränkung als Meister ein-
zurichten verstand, lebte in einer Epoche, in der man die Perücke
mit dem Zopf zu vertauschen begann. Der Bürger der freien Reichs-
stadt mit dem kaiserlichen Titel hatte nicht den Ehrgeiz, in seiner
Liebhaberbücherei im Zeitgeschmack weit über den Gesichtskreis
des Juristen hinauszuschauen, aber auch nicht das Verlangen, seinen
Geist in der Polyhistorie zu begraben. Ja, er betrieb sogar die schönen
Wissenschaften mit einem gewissen weltmännischen Wohlwollen, aus
dem heraus er sich als ihr Förderer fühlen mochte, weil er, der ernst-
hafte Mann, ihnen die Ehren seiner PrivQtbibliothek gab, in der alles,
"das Geringe und das Große, seinen festen Rang hatte. Vergleiche
liegen nahe, weil in diesen Räumen, in denen wir uns noch heute
umsehen dürfen, ein Genius seine Schwingen entfaltete, die ihn in
die Höhen deutscher Dichtung tragen sollten.* Da ist es gut, sich
* Abb. 198 293
DEUTSCHLAND
einmal zu vergegenwärtigen, wie ein Bibliophile von freiem Blick
und umfassenden Wissen, der, als Dr. Johann Caspar Goethe seine
Studien beendete, unter den Frankfurter Gelehrten führend war,
wie Zacharias Conrad v. Uffenbach über Belletristik dachte. Beim
Anblick des Gestelles mit Romanen, das ihm der Abt Molanus in
Hannover zeigte, entsetzte er sich, weil dieser Vorrat „seines Be-
dünkens der Gravität eines so hohen Alters und ansehnlicher Würde
ziemlich entgegenlief' \ In Vätern und Söhnen trennt sich immer
wieder die alte von der neuen Zeit. Aber die Gegensätze, die zwi-
schen Johann Caspar [1710—1782] und Johann Wolf gang Goethes
in ihrer Ursprünglichkeit noch vorhandenen Privatbibliotheken zu
bestehen scheinen, sind nicht so groß, daß sie nicht überbrückt
würden durch eine innere Verwandtschaft ihres Wesens. Nicht die
Rückentitel veralteter Werke sprechen zu uns, wenn wir vor den
beiden Goethe-Büchereien in Frankfurt oder Weimar stehen. Des
Lebens ernstes Führen, an das sie erinnern, hat ihnen ihr Gepräge
verliehen. Aus den Engen deutschen Geistes- und Schrifttums ge-
wann der die Weite, dessen Namen sie adelte. Auch in Goethes des
Vaters Bücherei ist schon freiere Luft zu spüren, die mit einer rasch
aufstrebenden Entwicklung weht. Ein Eindruck, den in den Einzel-
heiten zu erörtern eine kulturhistorische Mosaikarbeit von nicht
geringer Ausdehnung werden würde. Hier mag der Hinweis, daß sie
auch die Bücherei des jungen Goethe war, sie als Vorstufe von dessen
eigener Büchersammlung hinreichend erklären.
Vergangenheit war die friedliche Stille bei Goethes Großvater
mütterlicher Seite, dem Stadtschultheißen Johann Wolfgang
Textor [1693—1771]. „Seine Bibliothek enthielt außer juristischen
Werken nur die ersten Reisebeschreibungen, Seefahrten und Länder-
Entdeckungen.** Dagegen war das Arbeitszimmer des Herren Rat im
umgebauten Wohnhause noch ein der Gegenwart gehörender Raum.
„Das erste, was man in Ordnung brachte, war die Büchersämmlung
des Vaters, von welcher die besten, in Franz- oder Halbfranzband
gebundenen Bücher die Wände seines Arbeits- und Studierzimmers
schmücken sollten. Er besaß die schönen holländischen Ausgaben
der lateinischen Schriftsteller, welche er der äußeren Ubereinstim-
294
18. JAHRHUNDERT
mung wegen sämtlich in Quart anzuschaffen suchte; sodann vieles,
was sich auf die römischen Antiquitäten und die elegantere Juris-
prudenz bezieht. Die vorzüglichsten italiänischen Dichter fehlten
nicht, und für den Tasso bezeigte er eine große Vorliebe. Die besten
neuesten Reisebeschreibungen waren vorhanden, und er selbst
machte sich ein Vergnügen daraus, den Keyßler und Nemeiz zu
berichtigen und zu ergänzen. Nicht weniger hätte er sich mit den
nötigsten Hilfsmitteln umgeben, mit Wörterbüchern aus verschiede-
nen Sprachen, mit Reallexiken, daß man sich also nach Belieben
Rats erholen konnte, so wie mit manchem andern, was zum Nutzen
und Vergnügen gereicht. Die andere Hälfte dieser Büchersammlung,
in säubern Pergamentbänden mit sehr schön geschriebenen Titeln,
ward in einem besondern Mansardzimmer aufgestellt. Das Nach-
schaffen der neuen Bücher, so wie das Binden und Einreihen der-
selben, betrieb er mit großer Gelassenheit und Ordnung. Dabei
hatten die gelehrten Anzeigen, welche diesem oder jenem Werk be-
sondere Vorzüge beilegten, auf ihn großen Einfluß. Seine Sammlung
juristischer Dissertationen vermehrte sich jährlich um einige Bände.^^
Den *achtunggebietenden äußeren Eindruck, den der Knabe von
diesem Bücherschatz empfing, hat der auf sein Leben rückblickende
Mann sich erhalten. Erst in das Bewußtsein des erwachenden Dich-
ters kam die Erkenntnis, wo die Grenzen lagen, die die Sammlung
seines Vaters gegen das Geistesland seiner eigenen Generation ab-
schlössen; erst im zweiten Buche von Dichtung und Wahrheit werden
die deutschen Schriften erwähnt, die dem Herrn Rat noch genehm
waren. „In meines Vaters Bibliothek hatte ich bisher nur die
früheren, besonders die zu seiner Zeit nach und nach heraufgekomme-
nen und gerühmten Dichter gefunden. Alle diese hatten gereimt,
und mein Vater hielt den Reim für poetische Werke unerläßlich.
Canitz, Hagedorn, Drolhnger, Geliert, Creuz, Haller standen in
schönen Franzbänden in einer Reihe. An diese schlössen sich Neu-
kirchs ,Telemach', Koppens ,befreites Jerusalem^ und andere Über-
setzungen. . . . Eine verdrießliche Epoche im Gegenteil eröffnete
sich für meinen Vater, als durch Klopstocks , Messias* Verse, die ihm
keine Verse schienen, ein Gegenstand der öffentlichen Bewunderung
295
DEUTSCHLAND
wurden. Er selbst hatte sich wohl gehütet, dieses Werk anzuschaffen ;
aber unser Hausfreund, Rat Schneider, schwärzte es ein und steckte
es der Mutter und den Kindern zu/' Also nicht amusisch, sondern
ernsthaft gebildeten Geschmackes, das bezeugen die angeführten
Namen, hatte Johann Caspar Goethe ein Ohr auch für die deutschen
Dichterworte seiner Epoche gehabt. Die neuen Töne hörte er nicht
mehr, wie auch seih Sohn im Alter sich ihnen verschloß.
Von den ersten Ausflügen in verbotenes Bücherland und ihrer
Verwirrung in unruhiger Wißbegierde bis zu den ihr entlehnten Aus-
gaben klassischer Autoren, die nach Straßburg den Studenten be-
gleiteten, ist des Vaters Sammlung für Goethe ein Bildungsmittel
von außerordentlichem Werte gewesen, die einzige Bibliothek, die
als solche seinem Leben nahestand. Er blieb dem Buche zugetan,
als einer Einzelerscheinung, die eine Persönlichkeit vertrat, die die
Verkörperung eines Werkes war; er schätzte es als Handwerkszeug und
Hausgenossen, aber das väterliche Vorbild ahmte er kaum nach.
Er hinterließ Bücher in nicht geringer Zahl, eine wohl ausgemessene
Bücherei wie die im Hause auf dem Großen Hirschgraben in Frankfurt
am Main fehlte in dem am Frauenplan in Weimar. Die ehrenvoll in
Franzbände mit goldverzierten Rücken gekleideten Werke der
Fleming, Canitz, Besser, in denen das Kind einst lesen lernte; die
schönen Globen, die die Studierstube des Vaters schmückten, mit
denen spielend er die Weltkugel oft genug herumgedreht hatte, für
ein bewahrenswertes Erbe hielt Goethe sie nicht. Mochten auch die
ungünstigen Verhältnisse es ihm verbieten, den Nachlaß seines Vaters
an sich zu ziehen [Annalen 1794 und 1795], Goethe der Sammler und
Goethe der Sohn trennten sich von ihm.
Goethes Vaterstadt war längst ihre Vormachtstellung im deut-
schen Buchgewerbe und Buchhandel von Leipzig abgewonnen
worden, als der junge Student den Freuden von Klein -Paris und
der Gelehrsamkeit von Pleiße- Athen teilhaftig wurde. Zwar hatte der
Besuch, den er im ersten Stock des Goldenen Bären dem Altvater
Johann Christoph Gottsched [1700—1766] abstattete, ihn in
den Bezirken von dessen ansehnlicher Bibliothek, die schon eine zur
Vergangenheit werdende Leipziger Literaturherrschaft repräsen-
296
18. JAHRHUNDERT
tierte, nicht heimisch werden lassen, womit er dann auch den Be-
mühungen dieses Mannes um die bibliographische Sammlung älterer
deutscher Buhnendichtungen fernblieb. Dafür kam er in den Bann-
kreis der Bibliophilie, als ihm die Besuche, die er den Besitzern und
anderen Bewohnern dieses Hauses, der Breitkopfschen Familie,
machte, ihn mit ihr in einen näheren freundschaftlich geselligen
Verkehr brachten. Der goldene Bär war das Stammhaus des buch-
gewerblichen Großbetriebes, dessen Gründer Bernhard Christoph
Breitkopf [1695—1777] mit seinem zweiten vielseitig wissenschaft-
lich gebildeten Sohne Johann Gottlob Immanuel [1719—1794]*
einen in der Geschichte des Buchwesens nachlebenden Namen
hinterließen. Damals baute man gerade dem alten Geschäftshause
gegenüber ein neues, den Silbernen Bären, und Goethe half beim
Umzüge. Unter den reichen Breitkopfschen Sammlungen fesselte
ihn eine Weile auch die Bücherei Johann Gottlob Immanuels. Dar-
über heißt es in , Dichtung und Wahrheit*: „Von einer schönen Bi-
bliothek, die sich meistens auf den Ursprung der Buchdruckerei und
ihr Wachstum bezog, erlaubte er mir den Gebrauch, wodurch ich
mir in diesem Fache einige Kenntnis erwarb.*' Eine besondere
Teilnahme für die Bestrebungen des jüngeren Breitkopf, der der
Buchvervollkommnung als Praktiker und Theoretiker gleich her-
vorragend sich widmete, dessen Büchersammlung, ähnlich der seines
gleichzeitigen Kunstverwandten Enschede in Haarlem, eine der her-
vorragendsten ihrer Art war, klingt aus den trockenen Worten nicht
hervor. Auch keine Begeisterung für die Bibliophilie, die sonst unter
so günstigen Umständen wachgerufen sein würde, kann der Kom-
mentator aus ihnen herauslesen. Ein Bibliophile im engeren Sinne ist
Goethe nicht gewesen. In den ,Bekenntnissen einer schönen Seele'
[Wilhelm Meisters Lehrjahre. Sechstes Buch] ist einmal von einer
Idealbibliothek die Rede: ,,Wir bewunderten die Auswahl und dabei
die Menge der Bücher. Sie waren in jedem Sinne gesammelt; denn
es waren beinah auch nur solche darin zu finden, die uns zur deut-
lichen Erkenntnis führen oder uns zur rechten Ordnung anweisen;
die uns entweder rechte Materialien geben oder uns von der Einheit
unsers Geistes überzeugen. Ich hatte in meinem Leben unsäglich
* Abb. 196 297
DEUTSCHLAND
gelesen, und in gewissen Fächern war mir fast kein Buch unbekannt ;
um desto angenehmer war mir's hier, von der Übersicht des Ganzen
zu sprechen und Lücken zu bemerken, wo ich sonst nur eine be-
schränkte Verwirrung oder eine unendliche Ausdehnung gesehen
hatte/' Anschaulichkeit des Schrifttums ist es, das die Bächer-
sammlung vermittelt, sie ist ,,die Gegenwart eines großen Kapitals,
das geräuschlos unberechenbare Zinsen spendet/' [Annalen 1801.]
Die Bibliothek faßt einen Bücherschatz in seinem geistigen Ge-
halt, indem sie eine Form schafft, ihn erkennend zu verstehen und
lesend zu verwerten. Einer sich fortbildenden Sammlung soll man
ihre Lebendigkeit anmerken. „Alle Fächer sind in Bewegung,
überall schließt sich etwas Neues an, überall fügt sich*s klarer
und besser, so daß man von Jahr zu Jahr den schaffenden und
ordnenden Geist mehr zu bewundern hat.'' Das Beharren im
Engeren, dem die Erfolge von Sondersammlungen verdankt wer-
den, dieser vielleicht wertvollsten Privatbibliotheken, war nicht
der Geschmack Goethes. Um so mehr der, aus der Gabe der Ge-
staltungsfähigkeit und Gestaltungsfreudigkeit, die ihm im hohen
Maße eigen war, Gewinn zu ziehen, wo es galt, die fertigen, großen
Linien zu umreißen. Sie machte es ihm auch zum Bedürfnis,
die Ausgestaltung des staatlichen Büchersammelwesens zielsicher
zu leiten.*
Als bedeutsamen Anstalten wissenschaftlicher Arbeit fehlte daher
den öffentlichen Bibliotheken in Sachsen- Weimar die Fürsorge des
Ministers nicht. Der klare Blick auch des Beamten Goethe für das
wesentliche und — mögliche zeigte sich sehr weitsehend, wenn er
sogar [in dem 1795 in der Freitagsgesellschaft „Über die verschiede-
nen Zweige der hiesigen Tätigkeit" gehaltenen Vortrag] die Arbeits-
gemeinschaft als die Voraussetzung einer Zusammenfassung dieser
Sammlungen bezeichnete: „BilUg ziehen nun auch die Bibliotheken
unsere Aufmerksamkeit auf sich. Wir haben ihrer viere, die hiesige,
die Jenaisch- Akademische, die Buderische und Büttnerische, welche
alle der Stiftung der Anstalt und dem Platz nach wohl immer getrennt
bleiben werden, deren virtuale Vereinigung aber man wünscht und
man sich möglich gedacht hat. Hiezu die nötigen Vorkenntnisse zu
298 *Abb.204
18. JAHRHUNDERT
sammeln und eine so schöne Idee der Ausführung näher zu bringen,
würde schon allein einer literarischen Sozietät Beschäftigung geben
können. Ein Blick auf die Privatbibliotheken würde dabei nicht ver-
säumt werden.*' Mit solchen Worten umschreibt Goethe den Pflich-
tenkreis, den ihm das Büchersammelwesen des von ihm geleiteten
Staates zog. Die Aufsicht über die bibliothekarischen Geschäfte der
Landesbibliotheken in Sachsen-Weimar hat er erfolgreich und pflich-
tenstreng geübt. Den Beamten Goethe zierte seine abwägende Be-
dachtsamkeit, Goethe den Sammler kennzeichnete seine abwartende
Gelassenheit. Genießend, sich unterrichtend, verlangte er nicht danach,
im Sammlerehrgeiz seinen Stolz zu finden. Er hat, soweit er auch den
Bereich seines Besitzes an sammelnswerten Gegenständen ausdehnte,
ein so fleißig vielseitiger Sammler er auch gewesen ist, nie der Samm-
lung wegen, sondern immer nur seiner selbst wegen gesammelt.
Und schon deshalb verlangte er nach einer geregelten Ordnung, war
er einem Sammeltreiben abhold, das mit großangelegten privaten
Sammlungen verbunden zu sein pflegt. Er bedachte nicht einem
alten oder neuen Buche Platz und Rang in der Bücherei. Es kam,
es war da; eine Begegnung, aus der sich viel oder wenig machen
ließ, die erneuert, die hingenommen, die vergessen wurde, je nachdem.
Sie machte nur zornig, wenn sie aufdringlich die Ordnung störte.
Goethe vergaß seine Lebenskunst auch in dem Umgange mit den
Büchern nicht.
Die Bekanntschaft mit einem beinahe zum Bibliomanen ge-
wordenen Bibliophilen, dem Polyglotten und Polyhistor Ch. W.
Büttner [1716—1801], der, bis 1782 in Göttingen Professor, seitdem
in Jena lebte, bereitete Goethe, der den alten Herrn seiner Kennt-
nisse wegen sonst als eine lebendige Bibliothek schätzte, nicht allein
manchen kleinen persönlichen Verdruß — wenn etwa den mit der Ge-
schichte der Farbenlehre beschäftigten ungeduldige Mahnungen
des bereitwilligen Bücherverleihers Büttners störten. Entliehenes
zurückzugeben — sondern auch vielen Ärger von Amts wegen, weil
ihn [worüber die Annalen berichten, sowie die an Voigt in der zweiten
Januarhälfte 1802 geschriebenen Briefe] von Mitte Januar bis Mitte
Juni 1802 die Büttnersohe Nachlaßordnung mit einer unerquick-
299
DEUTSCHLAND
liehen Aufgabe beschäftigte. Unklarheit verwirrte Goethe, sie be-
leidigte sein ästhetisches Gefühl für das ausgeglichene Ebenmaß.
Ausartungen des Sammeltriebes, das Verlieren in sinn- und zweck-
losem Aufhäufen an sich besitzenswerter Bücher mußte gerade den
Sammler Goethe stören. Ein Ausdruck dieser Empfindungen ist
sein Bericht über die vom Sachsen- Weimarischen Staate angekaufte,
später der Jenenser Universitätsbibliothek einverleibte, Bücher-
sammlung Büttners: „Der Tod des Hofrats Büttner, der sich in der
Mitte des Winters ereignete, legte mir ein mühevolles und dem Geiste
wenig fruchtendes Geschäft auf. Die Eigenheiten dieses wunder-
lichen Mannes lassen sich in wenige Worte fassen: unbegrenzte Nei-
gung zum wissenschaftlichen Besitz, beschränkte Genauigkeitsliebe
und völliger Mangel an allgemein überschauendem Ordnungsgeiste.
Seine ansehnliche Bibliothek zu vermehren, wendete er die Pension
an, die man ihm jährlich für die schuldige Summe der Stammbiblio-
thek darreichte. Mehrere Zimmer im Seitengebäude des Schlosses
waren ihm zur Wohnung eingegeben, und diese sämtlich besetzt und
belegt. In allen Auktionen bestellte er sich Bücher, und als der alte
Schloßvogt, sein Kommissionär, ihm einstmals eröffnete, daß ein be-
deutendes Buch schon zweimal vorhanden sei, hieß es dagegen, ein
gutes Buch könne man nicht oft genug haben. Nach seinem Tode
fand sich ein großes Zimmer, auf dessen Boden die sämtlichen Auk-
tionserwerbnisse partienweis, wie sie angekommen, nebeneinander
hingelegt waren. Die Wandschränke standen gefüllt, in dem Zimmer
selbst konnte man keinen Fuß vor den andern setzen. Auf alte ge-
brechliche Stühle waren Stöße roher Bücher, wie sie von der Messe
kamen, gehäuft; die gebrechlichen Füße knickten zusammen, und
das Neue schob sich flözweise über das Alte hin. In einem anderen
Zimmer lehnten an den Wänden umhergetürmt, planierte, gefalzte
Bücher, wozu der Probeband erst noch hinzugelegt werden sollte.
Und so schien dieser wackere Mann, im höchsten Alter die Tätigkeit
seiner Jugend forzusetzen, begierig, endlich nur in Velleitäten ver-
loren . • ." Eine Verworrenheit, deren Beseitigung bis 1804 an-
dauerte, in welchem Jahre die Annalen die Büttnersche Sammlung
mit einiger Erleichterung erwähnen; und deren Rückerinnerung für
300
19. JAHRHUNDERT
Goethe zur Vorstellung der Bücherwut wurde. Das läßt die Be-
sprechung des ,,Bibliomane^' von Charles Nodier [Kunst und Altertum
VI, 3 (1832)] deutlich erkennen, in der die Anschauungen des Dichters
auch über die Bücherliebhaberei schlechthin sich deutlich ausprägen;
. . . ,,Das Seltene und oft Einzige alter Ausgaben steigert sich derge-
stalt in einem Liebhaber solcher Kuriositäten, daß es zuletzt in
Wahnsinn übergeht.. , . . Es ist nicht zu leugnen, daß dergleichen Lieb-
habereien, wenn sie nicht die Organe eines höheren Interesses sind,
immer in eine Art von Verrücktheit ausarten . . . Bei Kupferstichen,
besonders eigenhändigen Radierungen der Meister, kommt, genau
besehen, etwas ähnliches vor. Doch liegt die Entschuldigung hier
näher, weil zwischen den Exemplaren meist ein großer Unterschied
stattfindet.^^ Die Beziehungen zwischen Bibliographie und Biblio-
philie interessierten den Kunstfreund wenig.
Die Bücherei Goethes, soweit er selbst sie zusammenbrachte,
diente seinen fachwissenschaftlichen Studien. Wenn er aber syste*
matisch sammelte, wie zur Farbenlehre, worüber er in deren Ge-
schichte berichtete; wenn er etwa die botanischen Forschungen auf
Hand- und Hauptbücher gründete, auf die Vermehrung des ihm un-
entbehrlichen Vorrates mineralogischer und anderer naturwissen-
schaftlicher Werke bedacht blieb, dann galten alle diese Bemühungen
nicht geradezu einer Vervollkommnung oder Vervollständigung
seiner Privatbibliothek. Mit einer bequemen Buchleihe gab er sich
gern zufrieden. Man kann sagen und man kommt damit ja auch den
tatsächlichen Verhältnissen ziemlich nahe, daß sich Goethe, seitdem
er in Weimar wohnte, etwa in der Lage des leitenden Beamten einer
großen öffentlichen Büchersammlung befand, der über sie mit einiger
Freiheit verfügt. Die Äußerungen der Bibliophilie Goethes liegen in
seiner bibliothekarischen Tätigkeit [wenn es erlaubt erscheint, sie
so zu nennen], in derjenigen Buchpflege, die dem Buchwesen über-
haupt, nicht lediglich dem öffentlichen Büchersammelwesen zugute
kam. Insbesondere in ihren ökonomischen und technologischen Be-
ziehungen interessierte dabei den Minister das Buchgewerbliche
nicht weniger als das Wissenschaftliche. Er war kein Einbandlieb-
haber und -Sammler, soweit ihn altes Kunstgewerbe reizte. Aber er
301
DEUTSCHLAND
ergriff die Gelegenheit, durch ausländische Muster das Gewerbe in
Weimar zu heben. Sein Briefwechsel mit Carl August zeigt, wie in
solchen Fällen die Absichten beider Freunde sich begegneten, auch
dem Buche in ihrem Lande eine ihm günstige Stellung zu verschaffen.
Die Bereicherungen der Bibliothek Goethes durch Buchgaben an
den weltberühmten Dichter, an den angesehenen Gelehrten und
hohen Staatsbeamten, waren nicht gering. Dergleichen Geschenke
erweiterten ihren Umfang, vermehrten ihren Wert. Und die liebe-
volle Betrachtungsweise, mit der sich ihr Empfänger ihnen zu nähern
verstand, war oft genug der Anlaß, die Bibliophilie Goethes in ihrer
edelsten Entfaltung sich offenbaren zu lassen, wenn er an der Begeg-
nung mit einem Buche, an einem Bucherlebnis die Mitstrebenden, die
Nachwelt teilnehmen ließ. Für den Umgang mit Büchern ist Goethe
ein unvergleichlicher Lehrmeister, die Art, in der er Bücher in den
Mittelpunkt geselligen Verkehrs stellt, um, von ihnen ausgehend,
zu ihnen zurückkehrend, sie in einen bedeutenden Kreis zu schließen,
kann die alte Weisheit erklären: Der Buchstabe tötet, aber der Geist
macht lebendig. Goethe verstand es, auch aus den Büchern Gewinn
zu ziehen, die von anderen gelesen waren, die ihn beratenden Freunde
für sich lesen zu lassen. Will man dafür das Beispiel eines Biblio-
philen anführen, dann ist der Name eines der hervorragendsten
deutschen Büchersammler des achtzehnten Jahrhunderts zu nennen,
der des Berliner Orientalisten Diez.
Heinrich Friedrich [seit 1786] von Diez [1751-1817],* von
seinem Ehrgeiz getrieben, von seinem linguistischen Talent unter-
stützt, hatte 1784 das Amt des Charg6 d'affaires Preußens bei der
Hohen Pforte erhalten, das er mit diplomatischer GeschickUchkeit,
zum bevollmächtigten Gesandten und außerordentlichen Minister
ernannt, bis 1791 verwaltete, in welchem Jahre eine durch seine
Türkenfreundlichkeit veranlaßte Übertretung seiner Instruktionen
seine plötzliche Abberufung herbeiführte. Fortan als Geheimer Le-
gationsrat im Ruhestande lebend — er hatte sich in Konstantinopel
ein beträchtliches Vermögen erwerben können — , widmete er sich dem
Ausbau seiner im Osmanenreiche mit vielen wichtigen orientalischen
Manuskripten bereicherten großen Bücherei, in der er die ihm seinen
302 * Abb. 20S
19. JAHRHUNDEBT
Forschungen und Veröffentlichungen notwendige Unterstützung
fand. Anfangs auf seinem Landgute bei Potsdam und dann in Kol-
berg wohnend, siedelte er 1807 nach Berlin über; ein großes Haus
machend und in seiner Haushaltung nicht ohne Absonderlichkeiten
die östlichen Gewohnheiten zeigend. Ein in jenen Tagen häufiger
von Männern, die lange in den östlichen Ländern eine Rolle gespielt
hatten, gern zur Schau getragener Exotismus. Der Kunde des Mor-
genlandes dienten seine wissenschaftlichen Arbeiten, von denen das
,Buch des Kabus* [Berlin: 1811] erheblichen Einfluß auf den West-
östlichen Diwan Goethes gewinnen sollte und eine erst mit Diezens
Tode aufhörende Verbindung des Dichters mit dem Gelehrten
knüpfte, aus dessen Werken jener oft „frische, östliche Luft ge-
schöpft". Die BibHotheca Dieziana, 17000 Bände und 835 Hand-
schriften, gelangte als Vermächtnis ihres Sammlers in die König-
liche Bibliothek zu Berlin, in der sie als Ganzes erhalten wird.
Die leidenschaftliche Bücherliebhaberei des preußischen Diplo-
maten fand keinen Vertreter in Weimar. Amt und Beruf ihrer
schriftstellerischen Tätigkeit haben Wieland, Herder, Schiller dazu
geführt, die Bücher nicht zu vernachlässigen. Chr. M. Wieland
[1733—1813], der wohlhabendste von ihnen und derjenige, der
seinen literarischen Arbeitsbereich am weitesten ausdehnte, besaß
auch die beste Büchersammlung, die, ebenso wie J. G. Herders
[1744 — 1803] Privatbibliothek, durch eine Versteigerung zerstreut
wurde, indessen der Bestand der Bücherei F. v. Schillers [1759
—1805],* durch Erbgang geteilt, nach mannigfachen Schicksalen
in seiner Hauptmasse zusammengeblieben ist, wenn er heute auch
an zwei verschiedenen Stellen, in Hamburg und in Weimar, auf-
bewahrt wird. Gehütet von seinen Enkeln, blieb mit dem Goethe-
hause und den anderen Goethesammlungen auch die Bibliothek
Goethes erhalten, soweit nicht einzelne Stücke aus ihr, teils schon
von ihm selbst fortgegeben [so durch seine Beteiligung an einer
Bücherversteigerung in Weimar 1799, durch die er den Bestand
seiner BibUothek stark verringerte], teils späterhin fortgekommen,
in den Altbuchhandel und aus ihm in die Liebhaberbüchereien ge-
langt sind, die Goetheana- Kollektionen kostbar schmückend.
* Abb. 203 303
DEUTSCHLAND
Die Verklärung Goethes zum Heros, begonnen, als er noch auf
Erden wandelte, vollzog sich nach seinem Tode nicht in einem Auf-
flammen der Begeisterung, sondern in einem nach und nach heller
werdenden Lichte. Vielen war der kluge Kunstgreis von Weimar
noch eine allzu lebendige Kraft, deren unmittelbare Wirkung spür-
bar blieb. Die Beziehungen, die von ihm ausgingen, die zu ihm
und seinen Werken zurückführten, wurzelten zwar in diesen. Aber
das Bedürfnis einer bibliographischen Reliquienbewunderung, ohne-
hin damals in Deutschland wenig entwickelt, konnten sie nicht
wachrufen, weil Ausgaben der gesammelten Schriften, von Goethe
selbst besorgt, noch überall vorhanden waren; weil der Abschluß
der Ausgabe letzter Hand, die annähernd vollständig alle seine Werke
bekannt machte, erst 1842 erreicht wurde. Bis sich auf sie die end-
gültige Gesamtausgabe gründen konnte, mußte ein halbes Jahr-
hundert verfließen, in dem der ästhetisierende Goethekultus, der in
engen, einzelnen örtlichen und persönlichen Gemeinschaften ge-
pflegt wurde, seine allgemeine Ausbreitung in der Goetheliteratur,
und in ihren sicherer bestimmbar gewordenen Verhältnissen zur
Literaturgeschichte fand.
Wenn man bedenkt, mit welcher Achtsamkeit Goethe sein
Aktenwesen betrieb; welche Kennerschaft und Liebe er für den
Bilddruck hatte; wie sehr er die Handschriften als Persönlichkeits-
Selbstzeugnisse schätzte, dann darf man sich immerhin ein wenig
über seine Nichtbeachtung des Buches als Gegenstand bildender,
edler Sammlerfreuden verwundern. Aber sie kann ebenso wie die
bibliographische Rücksichtslosigkeit, die er für seine eigenen Schrif-
ten hatte — ein Umstand, der manche Textverschlechterung späterer
Ausgaben seiner Werke veranlaßte — kaum allzu schwierig psycho-
logisch zu deuten sein. Der schaffende Schriftsteller, der von Jugend
auf im Überflüsse seines geistigen Reichtums wirkend von der ab-
geschlossenen Beschäftigung mit einem eben beendeten Buche sich
neuen Zielen zuwendete; der es von Jugend auf erfahren hatte,
daß Künstlertum fortschreitendes Überwinden wird, konnte in
einem abgeschlossenen Buche nicht die endgültige Lösung er-
blicken, selbst sich nicht zur Nachwelt werden. Deshalb ist nie-
304
19. JAHRHUNDERT
mals ein ausgezeichneter Dichter in voller Schaffenskraft zum
Sammler seiner eigenen Schriften geworden. Eher könnte es schon
erstaunen, daß Goethe, dem die Ausstattung seiner Bücher nicht
gleichgültig war, der selbst als Radierer sich glücklich versucht
hatte, zur Buchkunst kein näheres Verhältnis finden wollte. Hier
wirkte der Zeitgeschmack ein, der nur die Einzelheiten einer solchen
Kunst erkennen konnte, weil ein buchgewerblicher Tiefstand die
Auffassung der Buchherstellung als einer notwendigen Gesamt-
leistung nicht zuließ. Goethe hat nicht verkannt, von welchem
nationalen Wert Sammlungen sind, die die Ausgabenreihen bester
Schriftsteller einer Sprache vereinen; er hat selbst hervorgehoben,
daß auch das Zeitalter deutscher Dichtung, in dessen Gegenwart er
lebte, Aufgaben stelle, die Büchersammlungen lösen müßten: „Und
nun betrachte man die Arbeiten deutscher Poeten und Prosaisten
von entschiednem Namen ! Mit welcher Sorgfalt, mit welcher Reli-
gion folgten sie auf ihrer Bahn einer aufgeklärten Überzeugung ! So
ist es zum Beispiel nicht zu viel gesagt, wenn wir behaupten, daß ein
verständiger, fleißiger Litterator durch Vergleichung der sämtlichen
Ausgaben unsres Wielands, eines Mannes, dessen wir uns, trotz dem
Knurren aller Smelfungen, mit stolzer Freude rühmen dürfen, allein
aus den stufenweisen Korrekturen dieses unermüdet zum Bessern
arbeitenden Schriftstellers die ganze Lehre des Geschmacks würde
entwickeln können. Jeder aufmerksame Bibliothekar sorge, daß eine
solche Sammlung aufgestellt werde, die jetzt noch möglich ist, und
das folgende Jahrhundert wird einen dankbaren Gebrauch davon zu
machen wissen.*' [Literarischer Sansculotismus. 1795.] Ein biblio-
graphisches Kompliment, dessen Lehren Goethe indessen aus den
eben erwähnten Gründen eine Anwendung auf die eigenen Schriften
nicht gegeben hat; ein Umstand, der bereits Eckermann [gelegentlich
der Unterhaltung am 31. Januar 1830] verwunderte: „Wir sprachen
über die verschiedenen Ausgaben seiner Werke, wobei es mir auf-
fallend war, von ihm zu hören, daß er den größten Teil dieser Edi-
tionen selber nicht besitze. Auch die erste Ausgabe seines , Römi-
schen Karnevals', mit Kupfern nach eigenen Originalzeichnungen,
besitze er nicht. Er habe, sagte er, in einer Auktion sechs Thaler
BOOENG so 305
DEUTSCHLAND
dafür geboten, ohne sie zu erhalten/' Auch des Dichters Freunde
und Mitarbeiter in seiner Umgebung sind, mochten sie immerhin
gelegentlich einem Blatte oder Buche, die selten geworden, nach-
spüren; sich an den Bereicherungen erfreuen, die ihrem Besitz
die Sendeblätter und sonstigen Schriften brachten, welche nach
dem Beispiele Goethes zu einer literarischen Mode des Privat-
drucks in Weimar wurden, aus der sich eine Art literarhistorischer
Tradition bildete, nicht die ersten Goetheana- Sammler. Sie
hatten ja noch den verehrten Lebenden vor sich, sie wohnten mit
den Erinnerungen an die ihm vorausgegangenen großen Männer
Weimars zusammen/ In die Ferne brachten nur Brief und Buch
ein Persönlichkeitszeichen, dort war der Abstand von ihren Ge-
stalten, den Klassikern der Nachwelt, schon viel weiter. —
Unter den Goetheana-Sammlern aus des Dichters Verwandtschaft
war wohl Johann Friedrich Heinrich [Fritz] Schlosser [1780 —
1852] der einzige, der hierbei auch der Bibliophilie und nicht nur der
Pietät huldigte. In Frankfurt a. M. als Sohn des Hieronymus Peter
Schlosser, des Bruders von Goethes Schwager Georg, geboren, war er
seit 1803 als Advokat, seit 1806 als vom Fürstprimas Dalberg ernann-
ter Stadtgerichtsrat in seiner Vaterstadt tätig, entsagte aber bei der
Aufhebung des Großherzogtums Frankfurt diesem Amte und trat am
21. Dezember 1814 zur katholischen Kirche über, worin auch sein
Glaubensbekenntnis zur Romantik liegen mochte. Seitdem lebte er
bald in Frankfurt, bald auf Reisen, bis ihm sein 1825 erworbenes,
bei Heidelberg gelegenes Landgut, das ehemalige Stift Neuburg,
zum eigentlichen Wohnsitze wurde. Das gastliche Haus, eine
Stätte edler heiterer Geselligkeit, nahm die Sammlungen Schlossers
auf, denen durch dessen freundschaftlichen Beziehungen zu Dichtern
und Künstlern der Romantik manchse kostbare Blatt und Buch
zukam. Auch Frau v. Willemer, der einmal der Hausherr mit seiner
Übersetzung des „Freudvoll und leidvoU" in zwölf Sprachen huldigte,
zeigte sich gern und oft in dem im zwölften Jahrhundert begründeten
Klosterbau. Als Goethe seine Frankfurter Vermögensangelegenheiten
ordnete, hatte Fritz Schlosser ihm die hilfreichsten Dienste geleistet;
und bei den Erwerbungen, die der Dichter in Frankfurt für seine
306 * Abb. 199, 200, 212
\
19. JAHRHUNDERT
Kunstsammlungen machte, war er ihm ein geschäftskundiger, sach-
verständiger Vermittler gewesen, wofür den immer Hilfsbereiten
das Kügelgen-Porträt mit einer in den Rahmen geschnitzten Wid-
mung lohnte. Weit entfernt von einseitiger Frömmelei, ein geist-
reicher Mann, bewahrte Schlosser sich, wenn auch in den eigenen
Schriften ihm nicht folgend, eine echte Verehrung Goethes, wie sie
ein Brief an Boisseree aussprach: ,,Von unserer Kindheit an hatte
Goethes Gestirn mit immer gleichem Glänze über uns gestrahlt;
Generationen waren neben ihm aufgeblüht und dahingewelkt,
manches schon aufstrebende Talent, manches reiche Gemüt hatte
sich wenigstens in Perioden der Entwicklung an ihn gerankt und
seine Einwirkungen aufgenommen und wie manche der uns Teuersten
deckt längst das Grab, während wir uns gewöhnt haben, dem alten
Heros gewissermaßen eine Art physischer Unsterblichkeit beizu-
legen. In ihm und dem im verflossenen Jahre geschiedenen Minister
von Stein starben die beiden kräftigsten Heldennaturen, die mir
im Leben begegnet.'* Die von Schlosser angelegte Sammlung der
Erstausgaben Goethescher Schriften schenkte seine Witwe mit
seiner Privatbibliothek dem Bischöflichen Seminar zu Mainz; die an
ihn gerichteten [1877 von Julius Frese veröffentlichten] 49 Briefe
Goethes sind 1913 versteigert worden.
Auch in den Berliner biedermeierischen Salons, denen der Rahel
von Varnhagen, der Bettina von Arnim blieb das Bild Goethes, an
das man wenigstens die Behauptung einer geistigen Verwandtschaft
zu knüpfen wünschte, noch eine Erinnerung an den Menschen,
dessen persönlicher Bekanntschaft, und sei es auch nur durch einen
abwehrenden Brief mit seiner eigenhändigen Unterschrift, man sich
zu rühmen wußte. Hier, wo Rahel für Goethe warb. Bettine ihn in
ihrem Briefwechselbuche dichterisch selbstgefällig verklärte; wo das
Denkmal der Freundschaft, das Goethe sich und Zelter errichtet
hatte, erschien, das erste hervorragende Werk einer biographisch
dokumentierenden Goethe- Literatur [denn die Ausgabe des Goethe-
Schillerschen Briefwechsels hatten letzten Endes bestimmte künstle-
rische Ursachen veranlaßt] wurde auch das erste Verzeichnis einer
bestehenden Goethebibliothek von deren Sammler Alfred Nicolo-
20<
307
DEUTSCHLAND
vius, Goethes Schwesterenkel, herausgegeben: Verzeichnis einer
Sammlung der Goethe'schen Werke, der sich auf sie be-
ziehenden Schriften und Kupfer. [Berlin, 1826, Gedruckt
bei C. Fr. Amelang (Brüderstraße Nr. 11)]. Die sechzehn Seiten
dieses Oktavbogens sind die erste Goethebibliographie. Die überall-
her vordringenden Quellen beginnen in den Ozean des Goethe-
namens zu münden, sich in ihm zu vereinen. „Ganz allein aus
Goethe läßt sich schon ein Leben führen, eine Literatur, ein Zeit-
alter aufbauen; und was haben wir nicht alles außer ihm! ja hätten
wir ihn noch nicht, wie hätten ihn doch schon, denn er ist vorbe-
reitet durch alles Frühere, das in ihm zur Blüthe wird, zur Frucht !"
— schrieb am 6. Juli 1851 K. A. Varnhagen von Ense über Goethe,
den Klassiker, in sein Tagebuch.
Um 1850 war bereits die Goethe- Literatur, sich vermehrend,
vervielfachend, zerstreuend, zur Goethe- Literaturgeschichte geworden,
die die Gestalt des Klassikers allseitiger zu betrachten sich mühte;
allmählich sich zur Goethe-Philologie umbildend, weil man zu er-
kennen anfing, daß die Persönlichkeit dieses großen Mannes erst aus
seiner Schöpfung verständlich werde, aus den sämtlichen Werken
des reichen, aber auch reichhaltigen Schriftstellers. Der Dichter,
entfremdet dem Zeitgeschmack erscheinend; der Mensch, nicht
mehr in Haß und Liebe umkämpft, zeigte sich kritischen Maßstäben
erreichbar, die eine Umgrenzung seiner Werdens, Wesens, Wirkens,
WoUens versuchten. Dabei erwies sich, daß die abschließende Samm-
lung seiner Schriften nur einen Anfang bezeichnete, die gewaltigste
Hinterlassenschaft eines deutschen Schriftstellers neuer Zeit zu
bergen. Gewaltig nicht allein nach ihrem Umfang und ihrem Wert;
gewaltig auch nach dem Bereiche des Lebenskreises, dessen be-
stimmender Mittelpunkt Goethe war. Die Beziehungen, die von ihm
ausgingen und auf ihn zurückführten, in ein richtiges Verhältnis zu
seinem Werk zu bringen, wurde zu einer Aufgabe kritischer Be-
sonnenheit, wofern man, um den Dichter zu verstehen, in Dichters
Lande gehen wollte. Eine stille Gemeinde, die gegen die herrschende
öffentliche Meinung sich wehrend, mit ihrer Verehrung Goethes für
die erneuerte Anerkennung seiner Machtstellung im deutschen Geistes-
308
I
I " Abb. 226
19. JAHRHUNDERT
leben sich verband, mußte sammelnd in Goethes Schatzkammern
verweilen, um deren Überfluß ordnend zu verteilen. Bahnbrechend
ist deshalb Hirzel, der bedeutendste Goetheana-Sammler dieser
Zeit, mit den ihm folgenden Forschern für die Goethebibliographie
geworden. Sie war für den stolzen Aufbau einer endgültigen Ausgabe
von Goethes Werken, der erst möglich wurde, nachdem das Erbe
des Hauses am Frauenplan dem deutschen Volke sich erschlossen
hatte, das Gerüst, das die Vollendung dieses Buchdenkmals sicherte.
Salomon Hirzel [1804—1877],* einer im Kanton Zürich ver-
breiteten Familie entstammend, kam 1830 nach Leipzig, wo er mit
seinem Schwager Karl Reimer die seinem Schwiegervater gehörende
Weidmannsche Buchhandlung erwarb, die seit der Mitte des acht-
zehnten Jahrhunderts zu den führenden deutschen Verlagsanstalten
gehörte. Als er dann 1853 unter eigenem Namen einen neuen Ver-
lag gründete, übernahm er nicht nur einen Teil der alten Verlags-
bestände der Weidmann-Firma, sondern verstand es auch, ihm rasch
eine eigene Geltung zu geben. Das Wagnis des Deutschen Wörter-
buches der Brüder Grimm, in dem die erste Epoche der deutschen
Germanistik gipfelte, fand in ihm den kräftigsten Förderer. Doch
wenn er auch verständnisvoll den früheren Jahrhunderten des deut-
schen Schrifttums gegenüberstand und in seiner 1886 versteigerten
Bücherei sich dessen wertvollste Leistungen lesend und sammelnd
aneignete — dem Schweizer Hirzel gelang es, eine kostbare Reihe
der Schriften Zwingiis zusammenzustellen, die er der Universitäts-
bibliothek Zürich hinterließ — wenn er auch dem werdenden neuen
deutschen Reich ebenso hingebend als Buchhändler diente, wie er
der Allgemeinheit des deutschen Buchhandels nie seine Unter-
stützung versagte: seine eigentliche Vorliebe blieben doch Goethe
und die Seinen; er selbst einer der ersten unter den Goethe- Forschern
aus Goethe- Verehrung, der mit den Verzeichnissen seiner sehr voll-
ständigen Goethebibliothek, die er samt seinen Goethehandschriften
der Leipziger Universitätsbibliothek vermachte, zum Begründer der
Goethebibliographie in einem höheren wissenschaftlichen Sinne
wurde, um die sich mit ihm gleichstrebende Bibliophilen mühten,
unter denen noch ein anderer Schweizer hervorgetreten ist.
309
DEUTSCHLAND
Edward Dorer-Egloff [1807—1864], Landammann von
Baden im Kanton Aargau, hatte in seiner [4083 Nummern zählenden]
Bücherei das schönwissenschaftliche Schrifttum aller Völker und
Zeiten zusammenstellen wollen, aber Goethe wurde doch auch für
ihn der Mittelpunkt dieses weit ausgedehnten Kreises. Die Be-
ziehungen, die ihm sein Plan, Deutschland und die Schweiz literarisch
zu vermitteln, überallhin geschaffen hatten, wuchsen sich allmählich
zu einem Briefwechsel des Sammlers aus, der persönliche Anknüp-
fungen suchte, um auf damals schon erforderlichen Umwegen in die
Goetheana- Verstecke zu gelangen. Fr6d6ric Soret ebnete ihm die
Wege nach Weimar, wo besonders der Besitz des Bibliothekssekretärs
E. Kräuter an Goetheanis seinen eigenen wertvoll bereicherte. Bei
seinen Schillersammlungen stand ihm beratend Joachim Meyer in
Nürnberg zur Seite, dessen „Beiträge" zur Feststellung des Schiller-
schen Textes 1858—1860 die Bibliographie von Schillers Schriften
gesichert hatten. Abe.^ der mit diesem Eifer glücklich der Voll-
endung entgegengefühlten Bücherei war keine Dauer beschieden.
Am 14. Dezember 1868 wurde sie bei T. 0. Weigel in Leipzig ver-
steigert. Man muß, wenn man das Sammeln der Freunde deutscher
Dichtung um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts richtig schätzen
will, berücksichtigen, daß sie sich noch einer behaglichen Muße be-
fleißigen konnten. Denn sehr viele der von ihnen begehrten Bücher
waren allenthalben auf dem Büchermarkt, ja sogar noch bei den
Verlegern zu finden — ein Teil der Goethe- und Schiller- Urausgaben
ist erst im zwanzigsten Jahrhundert vergriffen worden — und zwar
zu ganz geringen Preisen. Die Funde, die man in der stillen Gemeinde
zu machen hoffte und wünschte, waren, abgesehen von einigen be-
kannten Seltenheiten, Abzüge außergewöhnlicher Art und Hand-
schriften. Wie man denn überhaupt noch weit weniger methodisch
und systematisch sammelte, als mit genießender Regsamkeit. Der
Gedanke einer nahezu unbegrenzten Vollständigkeit des Erstdruckes,
den etwa Hirzel bibliographisch vertrat, führte weit über die Buch-
veröffentlichungen hinaus. Hier zogen sich von selbst die Grenzen
wieder zusammen. Daß man damals bei der Anwendung einer ausge-
bildeten Sammeltechnik rasch zum Tiele gelangen konnte, bewies der
310
19. JAHRHUNDERT
hervorragendste deutsche Altbuchhändler des neunzehnten Jahr-
hunderts, Albert Cohn [1827—1906],* der seine 1859 begonnene
Reihe sämtlicher Urausgaben von Goethes und Schillers Werken in
zwölf Jahren vollendete, zeigte der Freiherr Wendelin von Malt-
zahn [1815—1889], der trotz seiner geringen Mittel, die ihn zum
literarischen Agenten reicherer Sammler werden ließen, den Bereich
der eigenen Bücherei auf dem Gebiete der deutschen Dichtung des
siebzehnten bis neunzehnten Jahrhunderts sehr weit auszudehnen
vermochte. Denn, ein Umstand, der nicht vergessen werden sollte:
die berühmten deutschen Goetheanasammler sind fast alle, obschon
sie in ihrem Sonderfache sich hervortaten, durchaus nicht engherzige
bibliographische Spezialisten gewesen. Vielmehr Männer, die, wie
ihre Bibliotheken erwiesen, mit dem ganzen deutschen Schrifttum
vertraut waren; und dazu mit der „Weltliteratur" [eine durch Goethe
eingebürgerte Bezeichnung des Schrifttums aller Völker und Zeiten,
deren Auffassung freilich eine verschiedenartige Auslegung erfuhr].
Allein diese Vielseitigkeit, die doch wiederum nach einer einheit-
lichen Abrundung der Büchersammlungen strebte, ließe den Vorwurf
einer Waschzettel - Bibliophilie nicht zu. In den Worten: Einen
einzigen verehren — lag das Bekenntnis zur Persönlichkeit, das man
sich an Goethes Vorbilde deutlich werden ließ; lag aber auch die
Bestimmung der Bücherliebhaberei als einer vornehmen Tugend, wie
sie einstmals Sebastian Francks Spruch treuherzig erklärt hat: Das
ist der Bücher rechter einiger Gebrauch, daß wir darinnen ein Zeug-
nis unseres Herzens sehen. Wenn die Bibliophilie in Deutschland
ihre eigene Richtung finden konnte, die zu ihrer selbständigen Ent-
wicklung geführt hat, ist hierfür wegweisend die Beschäftigung mit
Goethe und seiner Zeit gewesen. Denn sie verband die schöngeistigen
mit den wissenschaftlichen Zwecken; sie erlaubte es, den Augenblick
verweilen zu lassen, der einen weiten Weltblick gewährte, nicht nur
von der kalten, steilen Höhe einer humanistischen Philosophie,
sondern auch von wärmenden Alltagswinkeln des deutschen Vater-
landes. Die Behaglichkeit des kleinen, die gemütliche Stimmung
selbstbescheidener Genügsamkeit ließ sich hier gewinnen und lernen;
gerade weil der Gegenstand, an dem sie sich übte, so groß war, daß
* Abb. 238 311
DEUTSCHLAND
er ein gänzliches Versinken in den Kuriositäten- und Raritäten-
spielereien früherer Jahrhunderte nicht zuließ.
Erst die unablässige Beschäftigung mit den Beziehungen, den
Drucken und Handschriften; eine Kleinarbeit und philologische
Sammeltätigkeit, die geleistet werden mußte, um den notwendigen
wissenschaftlichen Standpunkt zu gewinnen; ein bibliographisches
und biographisches Nachrichtenwesen, das leicht zu verspotten
war, konnte die Masse des Goetheschen Nachlasses durchdringen,
das geschichtliche Bild des Dichters und seiner Dichtung aufhellen
lassen, das von den Mitlebenden so oft entstellt worden war. Das
Verfahren, das man wählte, war die Einordnung von Goethes Werken
in seines Lebens Zusammenhang. Bei den Bemühungen, nach Goethes
Mahnung ,,vom Häuslichen auszugehen*', die Dichtung als Erlebnis
zu erklären, ist die Generation der Goetheanasammler, der Hirzel
und die mit ihm lebenden angehörten, im Eifer des Erklärens, Fin-
dens und Verbindens vielleicht weiter gekommen, als nur zu rein
wissenschaftlichen Zielen. Immer jedoch sind diese Bibliophilen
geblieben „Vertreter jenes unzünftigen, aber durchgebildeten Dilet-
tantismus reiner, hoher Art, der aus innerem Drang heraus die
Neigung zur Pflicht und seinen Namen von der Liebe hat**.
Michael Bernays, der mit kritischem Scharfsinn zeigte, wie man
die Goethedrucke nach ihrem inneren Werte zu sondern habe;
Woldemar Freiherr von Biedermann [1817—1913], der als
Zweiundsiebzigj ähriger seine Ausgabe der Gespräche Goethes be-
gann, mit der er erwies, das jenes Ordnen und Sichten nicht ver-
geblich gewesen war, das ein Ganzes aus den zusammengelesenen
Stückchen sich gestalten ließ, in dem die großen Züge des Lebens
sichtbar wurden; Carl Schüddekopf [1861—1917], dem sich be-
schränkender Sammlerfleiß eine Nachlese jener Blätter und Blätt-
chen erlaubte, die Goethe in reicher Zahl sich zerstreuen ließ, sie
alle sind in ihrer Art verarbeitende, vorbildliche Sammler gewesen.
Gern mochte ein feingebildeter Mann wie der Berliner Professor der
Rechte Karl Bernstein [1842—1894] sich an der deutschen
Klassikerbibliothek in Urausgaben erfreuen wollen, da er einen jeden
Band nun besser als Teil eines Ganzen zu deuten vermochte. Es ist
312 * Abb 241
19. JAHRHUNDEKT
ein artiger Zufall, daß die ausgezeichnetste bestehende Goetheana-
sammlung ebenfalls einem Leipziger Verleger, AntonKippenberg,*
gehört. Die beiden Verzeichnisse, die die berühmtesten Goethe-
privatbibliotheken beschreiben, erweisen ebenso auch die Aus-
bildung der deutschen Bücherkunde und Bücherliebhaberei in einem
Halbjahrhundert, wie sie den Fortschritt der Goethephilologie von
der Aufnahme des Bestandes bis zu seiner bibliographischen Durch-
arbeitung zeigen.
Als Karl Goedeke [1814—1887] 1858 auf seiner großen Deutsch-
landreise bei Hirzel in Leipzig weilte, wurde ihm nach dreistündigem
Suchen und Blättern in dessen Goetheschätzen taumelig. Und
doch war gerade er es, der sich solcher Überfülle des Stoffes gegen-
über nicht kleinmütig zurückzog, sondern in seinem, in der ersten
Auflage mit drei starken Bänden abgeschlossenen ,, Grundriß zur
Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen" eine biblio-
biographische Materialiensammlung angelegt hat, die auf Jahrzehnte
hinaus der Mittelpunkt für die Bücherkunde der deutschen Schrift-
tumsgeschichte werden sollte. Ursprünglich war es nur seine Ab-
sicht gewesen, eine Neubearbeitung des 1795 veröffentlichten
,Compendiums der deutschen Litteraturgeschichte' von dem Ber-
liner Prediger Dr. E. J. Koch [den seiner „großen Kenntnisse
und Büchersammlung wegen" (Gl. Brentano) auch die Berliner Ro-
mantiker gern aufsuchten] zu liefern. Als er dann aber in den fünf-
ziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts die Arbeit aufnahm,
entschloß er sich, sie von neuem zu beginnen und auf Autopsie zu
begründen, um die bibliographischen Zitate richtig und vollständig
geben zu können. Eine Absicht, die er weder methodisch noch syste-
matisch überall durchführen konnte, die aber allein schon als solche
betont zu haben sein unbestreitbares Verdienst war. Sie brachte das
kritisch-literarhistorische Moment für das Büchersammelwesen auf
dem Gebiete der deutschen Dichtung zur vollen Anerkennung und
Würdigung; gab die Erklärungen für den Gehalt der Originalausgaben;
vereinte Bibliographie, Bibliophilie und Germanistik zu einer deut-
schen Literaturwissenschaft. Von seiner eigenen, groß angelegten
ersten Büchersammlung hat sich Goedeke aus wirtschaftlichen Rück-
* Abb. 249 313
DEUTSCHLAND
sichten vor seiner Übersiedlung nach Göttingen trennen und sie
zum Verkauf bringen müssen; ein allmählich ihm entstandener
zweiter Bücherzuwachs ist nach seinem Tode aufgelöst worden.
Um 1800 war in Deutschland der Antiquariatskatalog neben
dem Auktionskataloge oder doch der von Büchereien und Bücher-
lagern ohne feste Preise aufgekommen. Die Altbuchhändler Helmert*
& Püschel in Dresden scheinen die ersten deutschen Altbuchhändler
gewesen zu sein, die regelmäßig solche Bücherpreislisten veröffent-
lichten; ihr Berliner Vertreter, der damalige Verlagsbuchhändler
J. E. Hitzig [1780—1849] befolgte das Beispiel, ein bequemeres
Format wählend. Von den Buchfreunden wurde diese Neuerung
nicht ungern aufgenommen. Gab sie doch ihrem Sammeln mehr
Gelegenheiten als die meist zufälligen, alle ihre Mittel auf einmal
beanspruchenden Großverkäufe. Mochte auch die bibliographische
Gründlichkeit der Antiquariatskataloge noch recht zweifelhaft sein
— ein Helmertscher ließ das ,Kazungali-Problem* wieder aufleben
und bot so Brentano den Anlaß zu einigen Spaßen — der Bücher-
vorrat, den sie zugänglich werden ließen, war um so wertvoller. Hatte
nicht im Jahre 1808 einer der geschicktesten Aufstöberer seltener
Buchware, Herr von Meusebach, noch die Restauflage der Erst-
ausgabe von Schillers Räubern wiederfinden können? Und konnten
nicht noch wenig wohlhabende Büchersammler alte Handschriften
und kostbare Wiegendrucke spottwohlfeil erwerben, von den Schar-
teken späterer Jahrhunderte zu schweigen?* Solcher Bücher Überfluß
hatte vor allem zwei Ursachen. Einmal die Auflösung alter Bücher-
sammlungen durch die Säkularisationen in Süddeutschland, die mit
einem Male eine Fülle von seltenen Werken auch in den Handel
brachten. Sodann die Änderung der Sammelrichtung, die von den
bisher bevorzugten antiken Klassikern, von der gelehrten poly-
historischen Privatbibliothek- Repräsentation sich der modernen
Literatur zuwandte; der deutschen, auf die die Germanistik und die
neue Blütezeit der deutschen Dichtung, in der man lebte; der fremden,
auf die die Idee der Universalpoesie, die die Romantiker verkünde-
ten, verwies. Auch der Orient war dem Okzident genähert worden,
durch Aneignungen östlicher Weisen, wie sie der Diwan Goethes bot ;
314 * Abb. 2o6~2IO, 2l6
19. JAHRHUNDERT
und durch Übertragungen, auf die eine entstehende Sprachwissen-
schaft ihren Einfluß übte. Wenn auf dem Wiener Kongresse, wo
mit kostbarer Buchware die Händler die dort die europäischen Staaten
vertretenden Gelehrten und wohlhabenden Würdenträger um-
warben, ein Wilhelm von Humboldt [1767—1835] die neue
deutsche Bildung in ihrer schönsten Form verkörperte, durfte der
bahnbrechende Sprachforscher, der in den Geisteswissenschaften
mächtig war, auch die Verehrung entgegennehmen, die seinem Bruder
Alexander [1769— -1859], einem Führer in den völkerverbindenden
Naturwissenschaften, entgegengebracht wurde. Mit dem Anwachsen
der Naturwissenschaften vollzog sich ihre notwendige Trennung von
den Geisteswissenschaften, die einen Ausdruck auch in den Bücher-
sammlungen fand, zunächst in der Form eines Verzichtes. Denn
der Bereich der Naturwissenschaften blieb nun in seinem großen
Umfange den Spezialbibliotheken überlassen, während die Geistes-
und Geschichtswissenschaften ihre Gemeinsamkeit durch die Philo-
sophie suchten. Derart ergaben sich als die Hauptgruppen nicht be-
stimmte Fächer pflegender deutscher Liebhaberbüchereien des neun-
zehnten Jahrhunderts Philosophie und Poesie, in denen ergänzend
untergebracht wurde, was sonst den dauernden Leistungen des
Schrifttums zugerechnet wurde. Hierin wurde die Auffassung des
Klassischen in der modernen Bibliophilie deutlich; ihr Verlangen nach
den bleibenden Büchern, das auch die rasch wechselnden politischen
Schriften nicht zu erfüllen vermochten. So erklären sich die Ab-
grenzungen der Privatbibliotheken gegen die Tagesliteratur, als
welcher man, im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten, alles zu-
rechnete, das, eben erschienen, rasch dem Veralten oder der ver-
besserten Auflage zueilte.
Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hatten die For-
schungen, die der Erkundung des deutschen Schrifttums und der
deutschen Sprache der Vorzeit galten, eine neue Wendung genom-
men, die mittelbar aus dem Aufblühen eines neuen deutschen Schrift-
tums und einer neuen deutschen Sprachkunst hervorging. Gott-
sched und J. C. Adelung [1734—1806], ihm ähnlich, Bodmer und
Breitinger, ihm widerstrebend, hatten manchen Nachfolger ihrer
315
DEUTSCHLAND
hierher gehörenden Bestrebungen. Noch wichtiger wurde es jedoch,
daß in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts mit seinen mannig-
faltig sich verzweigenden Geistesströmungen sich vieles vorbildete,
das richtunggebend für die altdeutschen Studien werden sollte; wie
etwa die Begeisterung an einer Naturpoesie, die auch auf das nor-
dische Altertum führte, sich allmählich in eine nüchternere Auf-
fassung der Volkskunde wandelte. Aber den eigentlichen, den ent-
scheidenden Aufschwung gaben den germanistischen Studien doch
erst die älteren Romantiker, nicht sowohl durch ihre eigenen Einzel-
untersuchungen als durch ihre Gesamtanschauung eines , Mittel-
alters*, in dem die Jahre nationalen Verfalls ein Vorbild für die
Wiederaufrichtung im deutschen Geiste zu sehen glaubten. Die
literarischen Brennpunkte dieser germanistisch-romantischen Be-
wegung wurden Berlin und Heidelberg, ihre Vertreter waren Männer
einer Generation. Denn die Görres, Brentano, von der Hagen, Docen,
A. V. Arnim, v. Meusebach, Büsching sind alle um 1780 geboren;
wenige Jahre jünger als die Brüder Schlegel und Tieck, ihre Führer,
wenige Jahre älter als die Brüder Grimm und Uhland, die das be-
gonnene Werk einer wissenschaftlichen Erneuerung deutscher Volks-
und Vorzeitkunde zur Ausführung brachten. In Berlin war Fried-
rich Heinrich von der Hagen [1780—1856] seit 1807 in
jener eiligen Art, die ihn in seinem langen Leben nicht verließ, mit
Ausgaben und Vorlesungen, die ein germanistisches Studium grün-
den halfen, hervorgetreten; in Heidelberg gaben Arnim und Brentano
als Dichter „Des Knaben Wunderhorn" heraus und, von ihnen gewon-
nen, Joseph Görres [1776—1848] seine Schrift über die deutschen
Volksbücher [1807], Ferner bleibend, weil weit weniger gefühlsmäßig,
nahm Ludwig Uhland teil. Aber auch ihn behinderten ebenso wie
seine späteren politisch-praktischen Tendenzen, sich ganz und Görres
gar Arbeiten zu widmen, die zu einem ruhigen Verweilen in den
stillen Bezirken der Vergangenheit und in einer versunkenen Bücher-
welt zwangen. Jacob Grimm und Karl Lachmann, aus deren Zu-
sammenwirken die deutsche Philologie eine Schule und eine Tra-
dition erhielt, stellten auch die Muster einer streng wissenschaft-
lichen FachUteratur auf, die, zu ihrer Beherrschung ein eigenes
316
19. JAHRHUNDERT
Studium voraussetzend, sich mählich von den durch sie kritisch ver-
arbeiteten alten Drucken und Handschriften, die den Sammlern
als Seltenheiten überlassen wurden, sonderte.
Der Freundschaftsbund, den Jacob Grimm im Marburger
Wintersemester 1802 auf 1803 mit seinem Lehrer Friedrich
Karl von Savigny [1779— 1861] schlofi , versinnbildlicht das
im Zeichen der Bibliophilie sich vollziehende Zusammenfinden der
Germanistik und der Romantik. Nicht etwa, daß damals schon der
achtzehnjährige scheue Student daran gedacht hätte, ihm könne die
Führerschaft in der deutschen Altertumskunde und Sprachwissen-
schaft bestimmt sein. Oder aber, daß gar der große Romanist den
rasch Aufwärtsstrebenden auf den Ursprung einer gelehrten Ger-
manistik in der deutschen Rechtswissenschaft des siebzehnten und
achtzehnten Jahrhunderts hätte verweisen wollen. Das, was Grimm,
dafür dankbar bis in sein höchstes Alter, von ihm lernte, war wissen-
schaftliches Arbeiten; und die erste Unterstützung auf seinem ferne-
ren Lebenswege, die er Savigny verdankte, war die Benutzung von
dessen ausgezeichneter Büchersammlung, die in ihren hohen Schrän-
ken die unscheinbare Wohnung des Professors zierte. Von hier aus
begann Jacob Grimm seine Wanderungen in das Bücherland, in dem
er ein Herrscher werden sollte. In dem gleichen Jahre 1803, in dem
Savigny mit seinem ersten Hauptwerke hervorgetreten war, hatte
Tieck seine Ausgabe der Minnelieder aus dem schwäbischen Zeit-
alter veröffentlicht; ein anregendes Buch, das diese deutschen Dich-
tungen aus dem Hintergrunde der Universalpoesie sich lösen ließ
und das, hierin mag sein erheblichstes Verdienst liegen, Jacob
Grimm [1785—1863] sich selbst finden ließ. Denn nun bildete
seinem auf das Heimatliche, Vaterländische, Volkstümliche gerichte-
tem Wesen sich ein festes Lebensziel. Die Bibliothek Savignys zeigte
ihm die alte Bodmersche Sammlung, auf die die neue Tiecksche ver-
wies und sein Sprlachgefühl wurde geweckt. In den Bann der Bücher
zog es auch Jacobs jüngeren Lieblingsbruder Wilhelm Grimm
[1786—1859], der ihm auf die Universität gefolgt war. Im Geschmack
der Romantik gründeten die beiden ihre kleine ,liebe' Bibliothek,
die ihnen gemeinsam bis zu ihrem Tode blieb. Im amtlichen Bücher-
317
DEUTSCHLAND
dienste und in der Buchpflege, die ihre Forschungen von ihnen ver-
langten, haben die Brüder dem Buche gelebt. Die beiden Brüder
Grimm sind von Jugend auf Bücherfreunde gewesen; ihre For-
schungen und ihr Lebenslauf verwies sie von überallher auf das
Buchwesen in seinen mannigfachen Verzweigungen. Jacob, der einer
Einladung seines Lehrers Savigny folgend schon 1805 in Paris den
Betrieb einer großen öffentlichen Bibliothek kennengelernt hatte;
der auf die Empfehlung J. v. Müllers hin nach Begründung des
Königreiches Westfalen 1808—14 Verwalter der vom Kurfürsten
angelegten Büchersammlung in Wilhelmshöhe und 1815 wiederum
in Paris der Beauftragte der Preußischen Regierung für die Rück-
erstattung der dorthin geraubten Handschriften gewesen war, stand
von 1816 bis 1830 in Kassel, von 1830 bis 1837 in Göttingen im
Bibliotheksdienste, Wilhelm von 1814 bis 1830 in Kassel, von 1830
bis 1837 in Göttingen. Aber beiden blieb noch weit über diese äußeren
Beziehungen das Buch ein unentbehrliches Werkzeug ihrer gelehrten
Untersuchungen und ihr Amt vermittelte den Bedürfnissen ihrer
Arbeit auch ein näheres Verhältnis zu anderen öffentlichen BibUo-
theken, vor allem zu denen in Heidelberg, Jena und Weimar, wo sie
sich der Förderung Goethes erfreuen konnten. Ein sich immer weiter
ausbreitender Schülerkreis ließ sie in den Beiliner Jahren zum geisti-
gen Mittelpunkt der Germanistik werden; Jacobs letztes großes
Unternehmen, das Wörterbuch, vereinte, ebenso wie schon früher
das Belegesuchen für die deutsche Grammatik und das Hand-
schriftenvergleichen, alle Bestrebungen, die sich auf die Erschließung
des deutschen Sprachschatzes und des älteren deutschen Schrift-
tums richteten, in seiner leitenden Hand. Und seine mannigfachen
Veröffentlichungen mit ihren vielfach neuen Wegen, die sie suchten,
wurden auch beispielgebend für buchgewerbliche und buchhändle-
rische Ausgestaltungen des deutschen Buches. Bescheidener blieb
die eigene Büchersammlung unter solchen die Nutzung fremden
Bücherreichtums gestattenden Verhältnissen. Das Bild des Biblio-
philen Jacob Grimm hat sein Neffe Hermann umrissen: „Einen wie
köstlichen Feierabendfrieden genoß Jacob Grimm nach dem Tode
seines Bruders Wilhelm, die wenigen Jahre, die er diesen überleben
318
19. JAHRHUNDEBT
sollte, in stetiger stiller Arbeit unter seinen Büchern verbringend.
Seine Lieblingsblumen, Goldlack und Heliotrop, standen am Fenster,
auch auf dem Arbeitstische, der überdies mit allerlei Andenken be-
setzt war, standen ein paar Blumen in einem Glase. Seine und seines
Bruders Werke waren alle dicht um ihn herum aufgereiht, so daß
er sie bequem von seinem Sitze ergreifen konnte. Das für ihn, wie
für Wilhelm, mit breitem Rande gedruckte Exemplar des Wörter-
buches lag in einzelnen Bogen zu einem dicken Stoße aufgeschichtet
neben seinem Schreibtisch. Bald seine vielen kleinen Abhand-
lungen für ihre endgültige Sammlung durchsehend, bald neu zu-
geschickte Bücher mit der Feder oder dem Bleistift in der Hand
durchlesend, wenn ihn nicht eine größere Arbeit in Anspruch nahm,
immer bereit, an geselliger Unterhaltung, an Tagesereignissen teil-
zunehmen, mit jener heiteren Ruhe, die ihm auch die Worte seiner
Rede über das Alter eingegeben hat. . . . Seine Bücher liebte er, das
Wort ist nicht zu stark, mit Zärtlichkeit. Die gemeinschaftliche
Bibliothek [der Brüder Jacob und Wilhelm] stand unter seiner be-
sondern Obhut. Er ließ die Werke nach eigner Angabe verschieden-
artig einbinden und konnte es bis zu einem gewissen Luxus darin
treiben. Die gute oder bessere Meinung, die er von dem Werte eines
Buches hegte, deutete er durch mehr oder weniger kostbaren Ein-
band an. Bei kleineren Gelegenheitsschriften ließ er das zu über-
reichende Exemplar gern in dunkelroten Sammt binden. Der nach
dem Tode meines Vaters [Wilhelm] gedruckte Freidank erhielt den
teuersten Einband, der herzustellen war. Es hat etwas natürliches,
daß er, der so lange Jahre Bibliothekar gewesen war, nun seine Bi-
bliothek als eine Art Persönlichkeit betrachtete. Mit Wohlgefallen
ging er oft die aufgestellten Reihen entlang, nahm auch wohl diesen
oder jenen Band heraus, besah ihn, schlug ihn auf und stellte ihn
wieder an seinen Ort. Es machte ihm Freude aufzuspringen und das
Buch selbst zu geben, wenn man es bei ihm suchte und nicht gleich
finden konnte. Nach meines Vaters Tode, als er dessen Stube mit
zur Bibliothek einrichtete, ordnete er die Brüder nach einem neuen
Plan und besorgte die Umstellung ganz allein. Er konnte im Dunkeln
jedes Buch ergreifen ohne Irrtum. Er verlieh nicht gern, weil er
319
DEUTSCHLAND
in die Bücher zu schreiben und Zettel hineinzulegen pflegte. Viele
tragen auf dem letzten leeren Blatt ein doppelt angelegtes Inhalts-
verzeichnis, eins von Jacobs, eins von Wilhelms Hand. Ich finde,
daß er in einem Briefe an Lachmann einmal scherzweise von der
späteren Auction der Bibliothek redet, wie die Leute da sich wundern
würden, so kostbare Bücher, wie die große prächtige Ausgabe der
Nibelungen, bei ihm zu finden; er hat auch mir einmal davon geredet,
wie nach seinem und meines Vaters Tode die Bücher zerstreut werden
würden und so der Plan, nach dem sie sie gesammelt, niemanden als
ihnen bewußt gewesen wäre, allein wenn ihm bei solchen Gelegen-
heiten widersprochen ward, ließ er das gelten. Mehrfach haben meine
Geschwister und ich ihm versichert, es würden die Bücher nicht aus-
einandergerissen und versteigert werden, und noch in den letzten
Stunden, als seine Augen zeigten, daß er verstand was man sagte,
und als wir uns bemühten, auszusprechen, was ihn erfreuen und be-
ruhigen könnte, wurde ihm die Versicherung gegeben, daß die Bi-
bliothek in würdiger Weise erhalten bleiben würde. Vielleicht daß sie
auf einer Universität ihren Platz findet, wo sie Nutzen bringt und an
ihre Urheber fördernd erinnert." Jacob und Hermann Grimms
Hoffnung ist erfüllt worden, in die, 1831 begründete, Universitäts-
bibliothek Berlin aufgenommen, ist die Grimmbücherei an einen Ort
gelangt, an dem sie im Sinne ihrer Urheber weiterwirkt.
Die literarhistorisch-retrospektive Orientierung der j üngeren
Romantik auf die Universalpoesie verband sich bei ihren Vertretern
anfänglich auch mit der eben erwachenden Begeisterung für die ältere
deutsche, insbesondere die Überlieferungen der volkstümlichen
Dichtung. Und die Romantik des alten Buches in Druck oder Hand-
schrift; die Romantik des Sammeins, des Suchens der Trümmer der
Vergangenheit, die auch den Germanisten nicht fremd war, ihnen
sich aber bald in eine geschichtswissenschaftliche Auffassung wan-
delte und derart zur festgeleiteten Forschung wurde, mußte die
Dichter mehr noch als alle anderen in die bunten Gefilde der Bücher-
welt locken. Waren von den drei am meisten hervortretenden Biblio-
philen der deutschen Romantik die konsequenten Kritiker August
Wilhelm V.Schlegel [1767-1845] undLudwigTieck[1773-1853]
320
* I
19. JAHRHUNDERT
schließlich dahin gelangt, in ihren umfassenden Büchereien die
Weltliteratur, d. h. die Dichtungen aller Völker und Zeiten, aufzu-
bewahren, so bedachte Clemens Brentano [1777—1842] einen
Büchereiplan, als er, der in alten und neuen Schriften wohl be-
wanderte Leser, seiner Leidenschaft für altertümliche Bücher nach-
gebend, die Kunde deutscher Vorzeit in ihren verblichenen Zeug-
nissen, in den fliegenden Blättern, den Holzschnitten, den Volks-
büchern aufzuspüren sich bemühte. Schon im August 1802 teilte
er dem Freunde A. v. Arnim mit: „Ich bin fünf bare Wochen in
Koblenz gewesen und habe unter anderm viele seltene alte Bücher
und einige Manuskripte gekauft/* Manche ähnliche Stellen aus
seinem Briefwechsel, die seinen Sammeleifer beweisen, ließen sich
dieser anfügen. Sogar das Büchergesuch in der Form der Zeitungs-
anzeige hat der Dichter nicht verschmäht. Beabsichtigte doch
Brentano der ersten Auslese seiner Büchersammlung, dem 1805
entstandenen Volksliederbuche „Des Knaben Wunderhorn", als
Gegenstück eine Ausgabe der deutschen Volksmärchen zu schaffen,
bei der ihm die Brüder Grimm, die dann selbst später seinen Plan
verwirklicht haben, helfen wollten. Ähnlich hatte er die alten
Volksbücher herausgeben wollen. Noch im Anfang des Jahres 1805
beklagte ein Brief an einen Antiquar in Freysing, daß ihm die
^,Mörin'* entgangen sei, für die er gern den doppelten Preis gezahlt
hätte; wünschte er sich die Feyerabendausgabe des Buches der Liebe,
Lieder und Märchendrucke. Aber schon 1807 stellte er das Ergebnis
seiner Sammeltätigkeit Josef Görres zur Verfügung. Ein rascher,
ein romantischer Wechsel der literarischen Neigungen zeigte sich
derart auch in den Bemühungen des Buchfreundes, dessen Phantasie
die alten Bilder und Bücher erquickten. Der Bibliophile Brentano
verrät sich in seinen Dichtungen häufig, bisweilen schon in ihrer
Anlage. Die,,Chronika eines fahrenden Schülers^' gab er als den Fund
eines Handschriftenaufspürers heraus. Der Schartekenstaub ließ
Brentano nicht unempfindlich werden für die Kleinigkeiten und
Nebensächlichkeiten, die einen empfindsamen Sammler verraten,
der ein geschmackvoller Seltenheitenstöberer ist. Einbände und
Größe seiner Bücher waren Brentano nicht gleichgültig. „Quart,
^OOENG «1 321
DEUTSCHLAND
Folio, fein und roh, Schweinsleder bis zum Safian . . . und die Dichter
in Großoktav** heißt es im „Gustav Wasa**. Eine eigene Vorliebe
war ihm freilich schon in frühen Jahren eigentümlich gewesen, die
für die geheimwissenschaftlichen Schriften. Als er nach der inner-
lichen Umwandlung des Jahres 1817 mit dem Dichten und Leben
abschloß ; seine Büchertsammlung zu wohltätigen Zwecken versteigern
ließ, sich von den weltlichen Büchern trennend, hat er „den größten
Teil seiner Bibliothek über Theologie, Exorzismus und Kabbala
seinem Bruder Christian geschenkt**, mit dessen eigener Sammlung
sie erst 1853 verkauft worden ist. In Marburg, wo Brentanos
späterer Schwager, Friedrich Karl von Savigny, sein einziger Um-
gang wurde, begegnete er mit diesem sich wohl in der Liebhaberei
für die von der deutschen Vorzeit Kunde bringenden alten Bücher,
die an gleicher Stelle auch Jacob Grimm in den Bann der Bücher
gezogen hatten. Aber in ihrem auf gegenseitiger Zuneigung be-
gründeten freundschaftlichen Verhältnisse zeigte sich doch schon
der Gegensatz zwischen dem Enthusiasmus des Dichters und der
Pedanterie des Gelehrten; trennte sich die Bibliophilie der Ro-
mantik von der Bibliophilie der Germanistik und Romanistik. „Ich
kann oft sehr traurig werden,** berichtete ein Brief Brentanos an
Sophie Mereau, „wenn ich so dem Savigny zusehe, wie er im un-
endlichen Gleichmuth von Morgens bis Abends seine Folianten
durchbuchstabiert, so ekelt mich diese Ruhe an, um die ich ihn doch
wieder beneide.** Den Finder störte der Gleichmut des Forschers;
als Leser wie als Sammler war der Führer der historischen Rechts-
schule, obschon der hervorragendste Jurist der Romantik, nicht
Eklektiker, sondern Systematiker. Das beweisen auch die 1861 in den
Besitz der Königlichen Bibliothek zu Berlin aus der Bibliothek
Savignys übergegangenen Reihen römischer und kanonischer Rechts-
quellen. Der Romanist Savigny, seit der Errichtung der Berliner Uni-
versität [1810] einer ihrer ersten Lehrer, stand der Germanistik und
der germanistischen Rechtsforschung fern, soweit er nicht geradezu
ihrer Gegnerschaft angehörte. Ein anderer Berliner Jurist in hoher
amtlicher Stellung schuf, nicht als Rechtsgelehrter, sondern als
Schrifttumsfreund, der aufstrebenden, die Einheit deutscher Ver-
322 ^
\
19. JAHRHUNDEBT
gangenheit erfassenden jungen Wissenschaft ihren berühmtesten
Büchersaal.
Karl Hartwig Gregor Freiherr von Meusebach [1781
— 1847],* aus Neubrandenburg in Mecklenburg, war, nachdem er in
Göttingen und Leipzig die Rechte studiert hatte, 1803 zu Dillen-
burg Kanzleiassessor und später Prokurator am dortigen Ober-
gerichtshofe geworden, hatte 1814 die Leitung des Justizwesens in
Trier übertragen erhalten und dann den Vorsitz bei dem provisori-
schen Kassationshofe zu Koblenz. Hier verbrachte er, im an-
geregten Verkehr mit Gneisenau, Pfuel, Clausewitz, Max von Schen-
kendorf, Stein, Johannes Schulze, Goethe, Tieck, Görres, Hebel
und anderen ausgezeichneten Männern, fröhliche Jahre. 1819 als
Oberrevisionsrat mit dem rheinischen Kassations- und Revisions-
hofe, dessen Präsident er später wurde, nach Berlin versetzt, nahm
er 1842 seinen Abschied, die letzten Lebensjahre ganz seinen Büchern
widmend, die er auf seinem Landsitze zu Alt-Geltow bei Potsdam
um sich versammelt hatte. Seit Meusebachs Übersiedlung war
Berlin das bibliographische Hauptquartier der Germanistik ge-
worden; die Bibliotheca Meusebachiana der Ort, wo man Bücher und
Nachrichten ausgab oder sie einschickte, wo Forscher und Samm-
ler sich trafen, begehrend, mitteilend, bisweilen vergeblich ver-
suchend, die Erfüllung ihrer Wünsche zu erreichen. Denn den
,Marktverderbern* wollte Meusebach nicht allzu wohl, den allzu-
schnell bereiten, eilfertigen Herausgebern, die den von anderen und
ihm sorgsam vorbereiteten Ausgaben, weniger schwerfällig sorgsam^
zuvorkamen. Es ging damals lustig in der deutschen Philologie zu.
Sie war noch eine fröhliche Wissenschaft, deren Bücherlust in den
Gastmählern und Gastgeschenken sich zeigte, die die Geselligkeit
heiter verschönten. Jacob und Wilhelm Grimm hatte Meusebach
vielleicht schon in Marburg bei Savigny kennen gelernt, Lachmann
und Haupt traten auch in seinen Freundeskreis; nicht ohne daß die
Eigenwilligkeit Meusebachs hin und wieder einige Unruhe in seine
Beziehungen zu den Häuptern der Germanistik brachte. Aber in
seiner Art war er, dem Jacob Grimm 1828 die Rechtsaltertümer
widmete, doch auch eine Autorität der Germanistik. Wenn ihm
«!• * Abb. 221 323
DEUTSCHLAND
etwa der mit seiner Ausgabe deutscher Dichter des siebzehnten
Jahrhunderts beschäftigte Wilhelm Müller am 2. Juni 1825 aus
Dessau schrieb: „Wollen Sie mir, was Sie von Rist, Clai und Hars-
dörfer an poetischen Werken besitzen auf ein paar Monate mit-
theilen? Ich habe mit einem Worte noch nichts von diesen Dichtern
in Händen und brauche Ihnen daher kein Verzeichniß dessen zu
schicken, was ich haben möchte** — dann erweist eine solche Brief-
stelle hinreichend genug, welch ein Verdienst in der bloßen Sammel-
tätigkeit lag; wofern diese, nach Meusebachs Muster, nur eine biblio-
graphisch-kritische und methodisch-systematische blieb. Um das
nicht zu unterschätzende Verdienst des Bibliophilen Meusebach sich
klarer zu vergegenwärtigen, braucht man sich lediglich an einen seiner
erfolgreichsten Mitsammler, an den Bibliothekar der fürstlichen
Bibliothek in Wernigerode Karl Zeisberg [1804—1850], zu er-
innern, dessen Bücherliebhaberei nicht über die äußerliche Be-
mächtigung der Bücher hinaus gelangte und dem nach abgeschlosse-
nen Universitätsstudium noch die Abfassung eines Briefes die aller-
größten Schwierigkeiten machte. Daß ein angesehener Beamter und
vielseitig gebildeter Gelehrter die Bibliophilie als eine damals not-
wendige Hilfswissenschaft der Germanistik richtig verstand, war
schon etwas wert.
Das Büchersammeln Meusebachs galt ihm selbst als ein Vor-
arbeiten für groß angelegte Ausgaben und Werke. Doch ist er über
solche Vorarbeiten nicht hinausgekommen, sogar nicht für den deut-
schen Schriftsteller, dem seine ganze Liebe galt. Auf dem Vorsatz-
blatte einer alten Fischartausgabe trug er am Ende seines Lebens
die Worte F. H. Jacobis [aus der Vorrede zu Eduard AUwills Brief-
sammlung] ein: Er sammelte zu seinem Werke mit einer Liebe, die
ihn von der Ausführung desselben entfernte. Besser läßt sich nicht
das Ergebnis des Meusebachschen Fleißes und der Meusebachschen
Gelehrsamkeit kennzeichnen. Was er geleistet hat, war der biblio-
graphische Teil der Arbeit, geborgen in seiner Bibliothek. Doch ob-
schon er selbst über das Planen auch nicht weit hinauskam und ob-
schon er meist nur ungern den ihn bedrängenden Wünschen nach
diesem oder jenem Buche, dieser oder jener Materialienkollektion
324
19. JAHRHUNDERT
entsprach — er hätte seinen Bücherschatz dauernd verleihen müssen
und viele zufriedenstellen sollen, die den Aufgaben nicht gewachsen
waren, die sie lösen sollten; die Pfuscherei begünstigen müssen —
den berufenen Forschern seines Freundeskreises ist er ein treuer
Helfer gewesen, trotzdem die mancherlei Mißverständnisse, die sein
schrullenhaftes Wesen hervorrief, nicht ausbUeben. Das liebevolle
Versenken in das Denken, Fühlen und Sprechen deutscher Vorzeit
mag Meusebach zu mancher Sonderlichkeit verleitet haben, wenn
er mit barocken Wendungen bibliographische Themata in seinem
Briefwechsel erörterte, Auskünfte gab, Fragen stellte und vor allen
Dingen seine Sammlersorgen nicht vergaß, von denen sich zu be-
freien ihm die anderen mithelfen sollten. Die Ansprüche, die er hier
stellte, waren nicht weniger weitreichend, als die an ihn gestellten.
Man braucht nur seinen Briefwechsel mit F. A. Ebert zu lesen, wie
er gelegentlich sogar den Bibliothekar in Versuchung führen will,
ein unermüdlicher Bücherjäger. Gerade das zeichnete Meusebach
aus, daß er ein Bibliophileningenium hatte und ein bibliographisches
Gewissen, daß er die Sammelgebiete, die er bestellte, sich recht
eigentUch schuf, indem er sie nach klugem Plane systematisch durch-
forschte. Derart entstanden ihm Sonderreihen. Die Drucke geist-
licher und weltlicher Lieder; die deutsche Dichtung des siebzehnten
Jahrhunderts in unübertroffener Vollständigkeit; die polemische
und satirische Literatur; die Schwankbücher, die Sprichwörter-
sammlungen; die Schriften über Spiele, Trachten, Speise und Trank,
Kochkunst, Weinbau; über geistige und leibliche Fertigkeiten; über
das Familien- und Frauenleben; über Hebammenkunst und Kinder-
erziehung und andere noch bildeten geschlossene glänzende Gruppen,
die in ihrem großen Zusammenhange derart noch nie dies ältere
deutsche Schrifttum in einer Büchersammlung vereinigt hatten und
vielleicht nie wieder vereinigen werden. Daß der gelehrte Hand-
apparat nicht fehlte, der, etwa bei den Vokabularien und Wörter-
büchern, sehr vollständig war und sehr weit zurückreichte, so daß
er einen eigenen Wert gewann, verstand sich für den gewissenhaften
Sammler von selbst. Um so bedauerlicher bleibt es, daß Meusebach,
der sich mit dem Gedanken trug, das Kochsche Kompendium um-
325
DEUTSCHLAND
zuarbeiten, kein ausführliches Verzeichnis seiner Bücherei hinter-
ließ, daß überhaupt deren Katalog nicht gedruckt worden ist. Eine
Aufnahme des Bestandes haben erst nach Meusebachs Tode Zacher
und Zarncke für den Verkaufszweck besorgt; und die von der Ber-
liner Bibliothek herausgegebenen Bücherlisten, die die Dubletten der
Meusebachbibliothek ausboten, sind kein Ersatz eines vollständigen
Kataloges der unvergleichlichen Sammlung. „Er ließ es sich freilich
viel, sehr viel kosten, bei Versteigerungen mußte für ihn immer der
letzte Preis geboten werden'* [Hoffmann]. Auch sie sind nicht zu
unterschätzen, die materiellen Opfer, die Meusebach seiner Samm-
lung und ihrer Sache zu bringen hatte. Denn am Ende nützte
solcher Aufwand großer Mittel doch der Gesamtheit der Anteil-
nehmenden, die sich seiner Ergebnisse zu bedienen und zu erfreuen
verstanden. Wer den Weg zum Bücherherzen des liebenswürdigen
Menschen zu finden wußte, dem öffnete sich auch die Bücherei des
gelehrten Sammlers und seine reiche Wissenschaft vom Buche der
deutschen Vorzeit. Hof f mann von Fallersleben* hat ausführlich
seinen ersten Besuch in dem behaglichen Bücherheiligtum beschrieben.
„Schon in Koblenz hatte ich viel gehört von einem Herrn
von Meusebach, der dort Präsident der provisorischen Verwaltung
der Rheinlande gewesen war und dann als Geheimer Rat an den
Rheinischen Kassations- und Revisionshof in Berlin versetzt sei.
Der besitze eine große Bibliothek, reich an altdeutschen Werken
[nebenbei bemerkt jetzt ein kostbarer Besitz der Königlichen Biblio-
thek in Berlin], sei ein großer Kenner und immer noch ein eifriger
Sammler. Ich erfuhr bald seine Wohnung, eines Morgens ging ich
zwischen 9—10 hin und ließ mich anmelden, wurde aber abgewiesen.
Ich wiederholte noch zweimal meinen Besuch um dieselbe Zeit,
wurde aber immer abgewiesen, es hieß: „Der Herr Geheime Rat
schläft noch.^' Ich ließ mich nicht abschrecken: ich ging zum vierten
Male hin, aber erst um 11 Uhr. Diesmal hatte ich sagen lassen, der
Herr von Arnim habe mich ja schon angemeldet. Nach einiger Zeit
kehrte der Bediente zurück: ich möchte eintreten. Herr von Meuse-
bach war im eifrigen Gespräche begriffen mit Frau von Savigny,
begrüßte mich, ließ mich stehen und setzte sein Gespräch fort. Frau
326 * Abb. 223
19. JAHRHÜNDEBT
von Savigny war so gesprächig, daß sich gar kein Ende absehen ließ.
Endlich nach einer guten Viertelstunde war der Born ihrer Bered-
samkeit versiegt, und sie empfahl sich. Meusebach wendete sich nun
an mich. Ich sprach einfach aus, was ich von ihm wünschte, nämlich
seine Bücher zu sehen. Das gefiel ihm. Ehe er mir aber etwas zeigte,
öffnete er die Thür zur Bibliothek und holte links aus der Ecke zwei
gestopfte Pfeifen, und bot mir die eine an. Als wir so recht im Zuge
waren, schloß er eine Tapetenthür auf, in diesem unbemerkten
Wandschrank wurden die Lieblingsbücher und kostbarsten und
seltensten aufbewahrt. Zuerst zeigte er mir das Lutherische Ge-
sangbuch von 1545: ,Was sagen Sie dazu?' Ich freute mich, staunte,
bewunderte. Es folgte nun eine ganze Reihe derartiger Bücher, die
ich alle noch nie gesehen hatte. Die Bücherschau dauerte bereits über
anderthalb Stunden, da trat Friedrüch, der Bediente, ein: ,Herr
Geheime Rat, es ist angerichtet^ Das störte uns nicht, wir fuhren
in unserm angenehmen Geschäfte fort. Friedrich kam wieder: ,Herr
Geheime Rat, das Essen steht schon längst auf dem Tische.* — ,Gut,
nun kommen Sie mit !' Ich hatte früher nie Sauerkraut essen können,
heute schmeckte es mir vortrefflich, sowie der leichte Moselwein —
einen andern führte der Geheime Rat nicht. Frau v. Meusebach
lachte, daß ich es heute so schön getroffen hätte. Die Unterhaltung
war sehr heiter. Ich erzählte allerlei hübsche Geschichten so unbe-
fangen, als ob ich in einem Kreise alter lieber Freunde mich befände.'*
„Nach Tische begaben wir uns wieder an unsern Wandschrank.
Als der Kaffee kam, holte ich mir selbst eine frisch gestopfte Pfeife.
— Friedrich mußte immer an die dreißig wohlgereinigt und gestopft
im Gange halten. Meusebach ergötzte sich sehr, daß ich schon so gut
Bescheid wußte. Wir begannen von neuem die Bücherschau. Es
wurde Licht angezündet, wir setzten uns. Jetzt kamen die Lieder-
bücher und die Fischartiana an die Reihe. Meine Freude steigerte
sich. Der Tee wurde gebracht. Frau v. Meusebach kam mit ihren
Kindern. Das störte uns weiter nicht. Wir unterhielten uns und
besahen Bücher, Tee und Essen war Nebensache. Die Kinder gingen
wieder fort, Frau v. Meusebach folgte bald nach, wir waren wieder
allein. Eine frische Pfeife wurde angebrannt. Es war bereits spät.
327
DEUTSCHLAND
Mein Bruder wußte nicht, wohin ich gegangen war — ich wollte
jetzt nach Hause. Ich mußte bleiben. Es wurde zwölf, es wurde eins.
Immer noch kein Ende . . . Endlich um halb zwei schieden wir und
waren nach funfzehntehalb Stunden erster Bekanntschaft beide
recht frisch und vergnügt. Ich mußte versprechen, meinen Besuch
bald zu wiederholen, und es fiel mir denn auch nicht im geringsten
schwer, recht bald Wort zu halten.**
Uhlands Wunsch: „Möge doch über dem Meusebachschen Nach-
laß ein günstiger Stern walten, damit nicht eine Sammlung ins
Elend gehe, oder kläglich zerstreut werde, die so recht dem eigensten
Leben des deutschen Volkes angehört und, einmal verschleudert,
nicht mehr zu ersetzen wäre," ist in Erfüllung gegangen. Aller-
dings die Bücherzimmer, die bis dahin [nach Uhlands Ausdruck] „im
Dämmerlicht eines Märchens" gelegen hatten, sollten die kostbarste
Hinterlassenschaft des alten Freiherrn noch drei Jahre nützen, ehe
sie in fünf großen Möbelwagen der Königlichen Bibliothek in Berlin
zur endgültigen Verwahrung zugeführt werden konnte.
Anfang und Auflösung der Bücherei Meusebachs gehören der
Romantik an. Um den Schatz vor seiner Zerstörung zu schützen,
wandte sich die Romantikerin, Bettina v. Arnim [in einem Briefe
vom 5. September 1847] an den Romantiker, König Friedrich Wil-
helm IV., in der Hoffnung, der Bauten und Bücher liebende Monarch
werde sich Alt-Geltow selbst zu eigen machen und die Sammlung
mit dem Schlößchen erwerben, in dem sie stand: ,,Eure Majestät
haben eine stolze Burg am Rhein aber so nahe der Heimat ein
so sinniges Asyl, was den Charakter bürgerlicher Einfachheit trägt —
einem genievollen Geist ist es der Sitz des Behagens — einen solchen
Sommersitz, nur durch den Abglanz der Natur verschönt, den haben
Eure Majestät noch nicht. — Wo der Nußbaum vor der Thür Schatten
giebt, wo die Tauben sich niederschwingen, wo die Windmühlen mit
ihren Telegraphenarmen andeuten, es gehe einen Tag wie den andern,
wo die Segel im Wettlauf bis zum Horizont hintanzen und der Abend-
schein mit den Wellen der Havel sich zu purpurnem Goldstoff ver-
webt, wo die Frachtwagen am Fuße des Berges auf der Landstraße
ächzen, dann und wann ein Posthorn ertönt, wo am Sonntag in der
328
19. JAHRHUNDERT
Ferne lustiges Volk auf Kähnen vorüberzieht und dann mit Einbruch
der Nacht die Mondstille alle Laubgänge in somnambulen Schlummer
wiegt, und der Hofhund besser, verständiger und treuer als eine
andere Behörde das geliebte Tuskulum überwacht und schützt. —
Wie Karl der Große seiner Geliebten die köstlichsten Kleinodien
des Orients, die Talismane der Wunderkraft aller Art herbeischaffte,
um den Schatz ihrer Tugenden zu bereichern, so hat Meusebach durch
seinen Scharfsinn Schätze gesammelt, die man nirgends wieder-
findet. — Die Bibliothek ist ein Nationaldenkmal, das dem hohen
Ruhm bringt, der es dem Vaterlande erhält. — Die Bibliothek wird
als unschätzbar erachtet, ich füge hier eine kurze Übersicht dessen
bei, was man im ersten Augenblick wahrnehmen kann. — Sie ent-
hält über 30000 Bände. — Was ich in Vorschlag gebracht wissen
möchte, darüber habe ich mich vielleicht nicht deutlich genug aus-
gedrückt, aber das Herz Eurer Majestät weiß hier die Straße besser
zu finden, als ich sie andeuten kann.'*
Nicht der aufbrausenden Begeisterung Bettinens, erst der be-
harrlichen Bestimmtheit eines Meusebach nahestehenden Biblio-
philen ist die Erhaltung der Sammlung gelungen. Freundschaft-
lich dem Kreise Meusebachs nahestehend, durch Bücherliebhaberei
und Sammeleifer ihm ebenfalls verbunden, war der spätere Adju-
tant Friedrich Wilhelms IV. und General Gustav von Below,
der 1852 starb. „Herr von Below ist bibUomanisch angesehen
mein ärgster Feind und kauft mir alles weg^', meinte Meusebach
einmal mit jenem Bibliophilen-Fanatismus, der sich die Herrschaft
über das eigene Sammelgebiet nicht gern streitig machen läßt. Auch
sonst fehlte es ihrem Verkehr nicht an ähnlich scherzhaft-spötti-
schen Wendungen, wovon eine [in Meusebachs Fisehartstudien,
herausgegeben von Wendeler, abgedruckte] Urkunde aus dem Jahre
1826 ein hübsches Zeugnis liefert, die Below und Meusebach über
ein zwischen ihnen stattfindendes Tauschgeschäft errichteten.
Below war seit 1820 ein Pantagruehst und seine Vorliebe für
Rabelais, der in einer stattlichen Ausgabenreihe seine Bibliothek
schmückte, machte ihn ebenso zum Förderer und Gönner des neuen
deutschen Rabelaisübersetzers Regis, wie sie ihn des alten deutschen
329
DEUTSCHLAND
Rabelaisbearbeiters Fischart Schriften suchen und damit zu Meuse-
bachs Nebenbuhler werden ließ. Freilich ein Nebenbuhler von einer
unter Sammlern seltenen Selbstlosigkeit, dem nicht der eigene Besitz
sondern die Buchpflege das Höchste war. G. von Below hat in seiner
einflußreichen Stellung die dreijährigen Verhandlungen [1847—1850],
die dem Ankauf der Bücherei Meusebachs vorangingen, geleitet und,
mit Moritz Haupt und Karl Lachmann, zu einem glücklichen Ende
geführt. Die Aufnahme des Bestandes der Meusebach-Bücherei
wurde nach seinen Ratschlägen vorgenommen, weil er, eine sehr be-
herzigenswerte Regel, darauf hinwies, daß die geschäftliche Ver-
wertung einer Büchersammlung, die nicht aufgelöst werden soll,
nur auf Grund ihres guten Verzeichnisses möglich werde. Als dann
durch allseitiges Entgegenkommen, auch Frau von Meusebach hatte
den ursprünglichen Verkaufspreis der Bibliothek von 60000 Talern
auf 40 700 Taler gemindert, und nach Überwindung der mannigfach-
sten Widerstände 1850 die Bücher Meusebachs in die Berliner
Königliche Bibliothek aufgenommen werden konnten, gab das Datum
des Erwerbes der glänzendsten deutschen Bibliophilen-Germanisten-
Privatbibliothek für eine öffentliche Sammlung auch das der Be-
endigung einer Sammelrichtung an. Ahnliche deutsche Privat-
bibliotheken geringeren Umfanges sind wohl auch noch in der
zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aufgebaut und auf-
gelöst worden. Aber vorwiegend bevorzugte die literarhistorische
Orientierung von nun an die Zeit, die den Bibliophilen-Germanisten
ferner lag, weil sie ihnen noch allzu nahe gewesen war, die Zeit des
seit etwa 1750 neu aufblühenden deutschen Schrifttums, die
Klassiker- und Romantiker-Epoche.
Von den Berliner Buchfreunden, die gleich Meusebach das alte
deutsche Buch seines Inhalts wegen und als Sprachgut liebten, sind
die meisten ihm in der strengen Begrenzung des Sammelgebietes
nicht gefolgt, da sie ihre Ausflüge in die Bücherwelt viel weiter aus-
zudehnen liebten, wie das auch der Generalpostmeister und Staats-
minister Karl Ferdinand Friedrich von Nagler [1770 — 1846]*
tat, der sich von seinem [in die Berliner Königliche Bibliothek und
die königlichen Museen aufgenommenen] Sammelbesitz noch bei Leb-
330 * Abb. 220
19. JAHRHUNDERT
zelten trennte. ,,Es ist ein beschwerliches Ding mit dem Sammeln.
Da ist kein Halten — bis endlich einer auf die Sprünge des Herrn
von Nagler und seines Arztes Dr. Kloss kommt und die ganzen
Sammelfreuden hingiebt für weniges Geld. Herr von Nagler für
92000 Thl. !** schrieb Meusebach darüber am 14. Juli 1835 an Moritz
Haupt. Ein ähnliches und doch noch schlimmeres Schicksal, das
ihrer gänzlichen Auflösung, ist den Büchereien von Karl Wilhelm
Ludwig Heyse [1797-1855] und Karl Biltz [1830-1901] nicht
erspart geblieben, die nach ihrer Art der Meusebach-Bücherei ver-
gleichbar gewesen waren, obgleich sie deren Umfang und Wert
nicht erreicht hatten. Dafür sollte die bedeutendste Bibliophilen-
Germanisten-Bibliothek Süddeutschlands das Ehrendenkmal ihres
Urhebers werden.
Mehr noch als Uhland vertrat in Schwaben die Bibliophilen-
Germanisten und die Romantiker Joseph Freiherr von Laß-
berg [1770—1855], dessen Bildnis in der Geschichte der deutschen
Bücherliebhaberei und des deutschen Büchersammelwesens das
Gegenstück zu des Freiherrn G. v. von Meusebach Porträt ist. In
Donaueschingen geboren und bis 1817, seit 1804 als Geheimrat und
Landesforstmeister, in fürstlich Fürstenbergischen Diensten stehend,
hat er auf seinem Landsitz Eppishausen im Thurgau — nach dem er
sich Meister Sepp von Eppishausen auf seinen Schriften zu nennen
pflegte — und [seit 1838] auf dem alten Schlosse Meersburg am Boden-
see einen altdeutschen Bücherschatz zusammengetragen, der nach
seinem Tode in die fürstlich Fürstenbergische Hausbibliothek kam,
die, an kostbaren Manuskripten schon vorher reich, recht eigent-
lich erst seit der Einverleibung der 11000 Druckwerke und 273
Handschriften der Laßbergschen Privatbibliothek den raschen Auf-
schwung zu ihrer gegenwärtigen Bedeutung nahm. Manche Unter-
stützung seiner Sammelarbeit hatte der Enthusiast und histori-
sierende Romantiker der fürstlichen Familie, insbesondere der Fürstin
Elise, verdankt. Sie war es auch gewesen, die ihm jene 250 Dukaten
lieh, mit denen er die Nibelungenhandschrift [C] gekauft hatte, die,
während des Wiener Kongresses unter den dort versammelten Wür-
denträgern ausgeboten, in Gefahr geraten war, nach England ent-
331
DEUTSCHLAND
führt zu werden. In einer ,mittelalterlichen* Umgebung, die er sich
im romantischen Zeitgeschmack schuf, der er aber doch das Opfer
seiner gewaltigen Tabakspfeifen nicht zu bringen vermochte, lebte
der Buchfreund und Bücherkenner in der deutschen Vergangenheit;
ein geselliger Mann, mit Begeisterung und Eifer die neugewonnene
Wissenschaft pflegend und durch Besuche und Briefwechsel einen
regen Verkehr mit ihren Meistern unterhaltend. Und wenn er dann
in einen seiner Kodizes mit der kunstgeübten Hand sein gotisch
stilisiertes Wappen als Büchereizeichen hineinmalte,* dann durfte er
wohl seinen Liebhngstraum träumen: als Schwabe ein echter Nach-
komme jener Minnesänger und goldenen Ritterzeit zu sein, mit deren
Entdeckung die Bibliophilen- Romantiker der Germanistik einen Weg
gewiesen hatten, der, wenn er schließlich auch zu anderen Tielen
führte, ohne die fleißigen Sammler den fleißigen Sichtern viel be-
schwerlicher geworden sein würde.
Unter den Verdiensten der Romantik war dieses nicht das
geringste gewesen, aus den literarischen Studien die literarhistori-
schen zur Anerkennung gebracht und recht eigentlich erst für das
deutsche Sprachgebiet einer Literaturwissenschaft gegründet zu
haben. Aus dem katalogisierenden Literator, der in der Gelehrten-
geschichte recht und schlecht auch die schönen Geister registriert
hatte, wurden die Vertreter wissenschaftlicher Fächer, die mehr und
mehr auf engere Sondergebiete sich einschränkten. Hatten am An-
fange des Jahrhunderts noch Germanistik und Romanistik, hatte die
vergleichende Sprachwissenschaft immerhin noch einen romantisch
weiten Ausblick auf die Universalpoesie gehabt, so verlor sich dieser
desto mehr, je strenger wissenschaftlich die neuen Disziplinen sich
entwickelten. Ja die allgemeine, die philosophierende Betrachtung
der Geschichte des menschlichen Geistes und seines Schrifttums,
die im Herderschen humanitätsidealistischen und im Goetheschen
sozialethischen Sinne auf eine Weltliteratur wies, kam ebenfalls auf
die Einschränkung in das literarhistorische Element zurück und die
literarische Orientierung der Bibliophilen wurde in der zweiten Hälfte
des neunzehnten Jahrhunderts zu einer bibliographisch-kritischen;
zu einer Orientierung, die nun allerdings, dank der Ausbreitung und
332 * Abb. 222
19. JAHRHUNDEKT
Vertiefung der Fachwissenschaften, allseitiger und tiefer die Bücher-
massen übersah. Das Bibliotheksideal, das die Bücherwahl hieraus
sich bilden konnte, erweckte das Verlangen, die Meisterwerke aller
Völker und Zeiten in der Bücherei zu vereinen, Vollständigkeit der
wertvollsten Werke in ihren besten Ausgaben zu gewinnen. Das war
ein Eklektizismus, der mehr noch als international, der inter-
intellektuell zu nennen sein würde, sofern dann für die Persönlich-
keit des Sammlers selbst in seiner Bücherstube kein Raum mehr
bliebe. Doch hat schon der deutsche Buchfreund, der in seinen
Katalogwerken seit 1894 die Weltliteratur so interpretierte, der
Dichter Eduard Grisebach [1845—1906],* den Subjektivismus
einer derartigen Auswahl nicht nur betont, sondern auch selbst be-
wiesen. Sie ist nichts weiter als die mit der Entwicklung der Natio-
nalliteraturen sich verbreiternde Anerkennung eines Klassiker-
kanons auf literarhistorischer Grundlage, verbunden mit dessen
bibliographischer Ausdeutung. Und sie wird immer mehr oder
weniger die Richtungen einer Sammlung sich festen Mittelpunkten
Zuwenden lassen, die für die Bibliothek Grisebachs eine ästhetische
Orientierung nach der Persönlichkeit Schopenhauers hin wurde.
Die Betrachtungsweise des Schrifttums ist hierbei zu der seiner
Kunstwerke geworden, nicht im Sinne einer ausschließlichen Ein-
schränkung auf die Wortkunst, sondern in dem der Anerkennung
einer geistigen und literarischen Schöpfung, die die Buchverkörperung
eines Werkes zeigt. [Wozu dann die literarhistorische Betrachtungs-
weise noch die Ergänzungen heranzieht, die den Begriff der literari-
schen Persönlichkeit biographisch-psychologisch vertiefen.] Auch in
den Fachwissenschaften lassen sich solche nach Form und Inhalt blei-
bende Leistungen auffinden; ebenso wie in der Philosophie und nicht
nur in der Poesie der Begriff des Kunstwerkes sich ihren besten
Büchern aneignen läßt. Daraus ergibt sich aber auch die eigene
seelische Mitarbeit als die Quelle des Kunstgenusses. In dieser
[,objektiven'] Kunsttheorie liegt nun eine Erklärung für das Wesen
der Bibliophilie überhaupt. Die geistige und die gelehrte Arbeit des
Forschens und Lernens verbindet sich in ihr am Gegenständlichen
des Buches und an der geschichtlichen Greifbarkeit eines Vergangen-
* Abb. 233—236 333
DEÜTSCHL AND
heitszeugen, wo dann das alte Buch in seinen verschiedenartigen
Erscheinungsformen des Sammlerstückes für den Buchfreund ebenso
wie das seiner Gegenwart ihm lebendig wird. So läßt sich die Biblio-
philie als ein Vergnügen und eine Weisheit, die mit allen Mitteln die
sinnliche Anschaulichkeit eines Werkes zu erhöhen und für den
Leser zu erreichen strebt, von der ihr ebenfalls notwendigen Arbeits-
zweckform einer Büchersammlung trennen, deren beste Buchpflege
das Buch im Dienste seines Gebrauchers hält. BibUophilie ist die
Auffassung des Buches als des Vermittlers eines Geisteswerkes und,
in einer Erweiterung der Doktrin der Bibliophilen- Humanisten, die
in ihm lediglich den Vertreter einer literarischen Persönlichkeit
sahen, als eines Stimmungsträgers, der etwa eine geschichtliche
Rückerinnerung versinnlicht, ein seelisches Erlebnis verstärkt.
Weiterhin aber auch eine Bibliotechnik, die die beste Buch- und
Büchereigestaltung, die nach Möglichkeit alle Buchnutzwerte er-
schließt, sich wünscht. Von der Bücherliebhaberei, der angeborenen
oder anerzogenen Buchfreude, kann sie sich bis in die geistigen und
seelischen Höhen erstrecken, die sie des Bibliophilen Persönlichkeit
finden läßt, sich, nach ihrer jeweiligen Artung, in einem Biblio-
philentemperament ausgleichend. Inwieweit dabei der Buchfreund
auch noch zu einem Büchersammler wurde, ist hierfür gleich-
gültiger.
Arthur Schopenhauer [1788— 1860] , Verächter und Verehrer
des Buches, war wohl derjenige unter den großen Philosophen, der die
gewählteste Privatbibliothek hatte. Seine sehr weitreichende Bil-
dung — er war ebenso als Weltmann mit den europäischen Haupt-
sprachen, in deren Ländern er gelebt hatte, vertraut geworden, wie
mit den klassischen Sprachen in streng philologischer Schulung, er
hatte das naturwissenschaftliche Studium auf der Universität nicht
vernachlässigt und den Erzeugnissen des orientalischen Schrift-
tums eine ununterbrochene Aufmerksamkeit zugewendet — bedingte
ihm eine umfassendere Auswahl als sie die üblichen wissenschaftlichen
Büchersammlungen haben konnten; eine Auswahl, deren Breite seine
strengen Ansprüche an das Buch einschränkten auf eine dünne Ober-
schicht der besten Bücher. Denn auch er mußte sich, obschon er
334
19. JAHRHUNDERT
sein Leben der freien Beschäftigung seines Geistes widmen durfte;
obschon er die Kunst des Lesens in der Vollendung übte, eingestehen,
es wäre gut, Bücher kaufen, wenn man die Zeit, sie zu lesen, mit-
kaufen könnte. Niemand hat so häufig über die Verschwendung
von Zeit an die schlechten Bücher geklagt. Und niemand mit so
herbem Urteil die kopfverderbenden Bücher verachtet. Für Scho-
penhauer galt es als Grundsatz: Kein Buch kann den eigenen
Geist ersetzen, und als Ausnahme dieser Regel: die Menschen können
nicht allein sein, sie brauchen Gesellschaft, wenigstens ein Buch.
Eine Ausnahme, die er sich in Lebensregeln bestätigte: Man kann
Bücher von Leuten lesen, an deren Umgang man kein Genügen
finden würde — Hohe Geisteskultur bringt dahin, daß man nur noch
an Büchern, nicht mehr an Menschen Unterhaltung findet. Wer das
Glück hat, mehr mit Büchern als mit Menschen leben zu dürfen,
vergißt leicht, wie es in der wirkhchen Menschenwelt hergeht und
übersieht die Kluft, welche zwischen dem Volk und den Büchern ist.
Aber die Ablehnung der Bücher hält mit seiner Anerkennung des
Buches sich doch die Wage. Die Zahl der Bücher, welche in einer
Sprache geschrieben werden, mag sich zur Zahl derjenigen, welche
einen Teil ihrer bleibenden Literatur ausmachen, verhalten wie
Hunderttausend zu Eins. — Wohl neun Zehntel aller Bücher sind
schlecht und hätten sollen ungeschrieben bleiben. — Schlechte
Bücher sind intellektuelles Gift. — Viele Bücher taugen bloß zu
zeigen, wie viele Irrwege es gibt. — Derart mahnte er sich ständig
zur Vorsicht in seinem Büchergebrauch und in seiner Bücherwahl,
empfahl sich, das Buch wegzuwerfen, bei dem man merke, daß man in
eine dunklere Region gerate als die eigene sei und der Autor bloß
schreibe, um Papier zu füllen. Man hüte sich, immer nach den
neuesten Büchern zu greifen und die gediegenen älteren ungelesen
zu lassen. Jedes wichtige Buch soll man sogleich zweimal lesen. Mit
ähnlichen Aussprüchen Schopenhauers ließe sich ein modernes
Philobiblon kompilieren, so mannigfaltig und zahlreich sind sie in
seinen Schriften zerstreut. Ein modernes Kompendium. Denn
Schopenhauer gehörte zu den ersten, die aus dem Begriff der
Literatur, wie ihn die Bücher durch ihr Vorhandensein schufen, den
335
DEUTSCHLAND
Begriff einer Literatur aussonderte, der die Bücher als deren Wert-
träger auffaßte. Er meinte, Litteratur müsse geschrieben werden
nicht Literatur, welches von linere, schmieren, kommt. Übrigens
könnte man eine sehr kleine Litteratur und eine sehr ausgedehnte
Literatur unterscheiden. Es gibt, zu allen Zeiten, zwei Literaturen:
eine wirkliche, bleibende, stehende Literatur, welche sehr klein ist,
und eine bloß scheinbare, vergängliche, fließende Literatur, welche
sehr groß ist. Zu fast jeder Zeit ist in der Literatur eine falsche
Grundansicht, Manier, im Schwange. Welch unschätzbarer Gewinn
würde es sein, wenn, in allen Fächern einer Literatur, nur wenige,
aber vortreffliche Bücher existierten. Bei dieser Sachlage und einer
richtigen Einschätzung des Lesens [Das Leben ist ein bloßes Surro-
gat des Denkens — Gelesene Gedanken sind die Überbleibsel eines
fremden Mahls — Man soll sich nicht, des Lesens wegen, den An-
blick der realen Welt entziehen. — Wir behalten viel besser, was wir
erlebt, als was wir gelesen haben] muß in Hinsicht auf die Lek-
türe, die Kunst, nicht zu lesen, höchst wichtig sein. Man lese nicht,
was soeben das größere Publikum beschäftigt^ auch nicht die Dar-
stellungen der Lehren großer Geister aus zweiter Hand. Um das
gute zu lesen, ist eine Bedingung, daß man das Schlechte nicht lese.
Vom Schlechten kann man nie zu wenig und das Beste nie zu oft
lesen. So stellte Schopenhauer ein Bibliophilieideal auf, das als
Bibliosophieideal gelten kann. Doch verschloß er sich auch keines-
wegs der Wirklichkeit, der Zweckerfüllung des Buches. Bücher sind
das papierne Gedächtnis der Menschheit. Bücher teilen nur Be-
griffe mit, keine Anschauung. Bücher sind nicht als Quellen der Er-
kenntnis, sondern nur als Beihilfe zu benützen; sie sind bloße Sprossen
der Leiter, auf der man zum. Gipfel der Erkenntnis steigt. Ein Buch
kann nie mehr sein, als der Abdruck der Gedanken des Verfassers.
Man lese die Urheber der Sachen und kaufe lieber die Bücher aus
zweiter Hand als ihren Inhalt. Der Wert Hegt entweder im Stoff,
in dem, worüber der Verfasser gedacht hat, oder in der Form, in
dem, was er darüber gedacht hat. Vermöge des Stoffes können ganz
gewöhnliche Menschen wichtige Bücher schreiben, z. B. Reise-
beschreibungen; wo es hingegen auf die Form ankommt, da vermag
336
19. JAHRHUNDERT
nur der eminente Kopf etwas zu leisten. Quantität des Wissens
[Gelehrsamkeit] erteilt den Büchern bloß Dicke, Qualität desselben
[Einsicht] hingegen Gründlichkeit und Stil. Die Hälfte fast jedes
Buches besteht aus Gedanken, die an und für sich keinen Wert haben,
die aber der Zusammenhang nötig macht. Bücher, die aus lauter
wertvollen Gedanken bestehen, wobei das Wertvolle zugleich das
Notwendige und umgekehrt ist, sind ein Wunder. Als Büchersamm-
ler hat Schopenhauer das Wunderbare nicht gesucht, hat er auch die
ihm vermöge ihres Stoffes wichtigen Bücher bewahrt, um sie zur
Hand zu haben. Die Ansicht Schopenhauers war: ,,Wie die zahl-
reichste Bibliothek, wenn ungeordnet, nicht soviel Nutzen schafft als
eine sehr mäßige, aber wohl geordnete, ebenso ist die größte Menge
von Kenntnissen, wenn nicht eigenes Denken sie durchgearbeitet hat,
viel weniger wert als eine weit geringere, die aber vielfältig durchdacht
worden.'* Dieser Vergleich des Philosophen verweist darauf, daß
die Bibliothekstechnik noch einen höheren Zweck erfüllen müsse,
als den, die Büchersammlung durch ihre Aufstellung in eine äußere
Ordnung zu bringen. An einer solchen ließ es der Philosoph nicht
fehlen. Ebenso, wie er seine Bücherei planmäßig anlegte und ver-
mehrte, dabei, seine Auktionsaufträge mit ihren Limiten beweisen
das,^ achtsam auf das wirtschaftliche, hielt er sie bei aller Bescheiden-
heit in ihrer Ausstattung in gutem Stande; er verwendete ein Ex libris,*
um jedem Bande seine Zugehörigkeit zum Ganzen anzudeuten. Denn
den Büchern, die er für minderwertig hielt, versagte er dieses Zeichen.
Die Anschauungen des englischen Gentleman, die das Beispiel seines
Vaters und seine Jugenderziehung ihm verliehen hatten, die er in
seiner Lebensführung verwirklichte, ließen ihm die Bücher als einen
zum Komfort des Lebens notwendigen Hausrat erscheinen. Er
verleugnete sein Weltmannstum, das Kosmopolitische in seinem
Wesen, auch nicht in seiner Privatbibliothek, in der er, der neben
den deutschen auch die griechischen, lateinischen, französischen,
italienischen, spanischen, englischen Autoren in ihrer Ursprache las;
es in eine philosophische Universalität weitete. Wenn er dann die
beste Zeit des Tages, die frühen Vormittagsstunden, der eigenen
schöpferischen und schriftstellerischen Tätigkeit vorbehalten hatte,
BOGEKO 2a *Abb. 218,219 337
DEUTSCHLAND
kam er in der bedachtsam eingerichteten Ökonomie seiner Lebens-
führung am Abend zu den Büchern. Viel weniger feierlich als Ma-
chiavelli, viel weniger an ihre Autorität glaubend als der Italiener.
Er benutzte dann seine Bücher, durch Anstreichungen oder Rand-
schriften den Stoff, den er für die Darstellung seiner eigenen Ge-
danken brauchen oder verbrauchen wollte, sich erläuternd. Nicht
ohne daß ihm diese Unterhaltungen mit seinen Büchern gelegentlich
auch zu einer lebhafteren Auseinandersetzung mit ihren Verfassern
wurden; wobei es dann im raschen Urteilen an Anerkennung oder,
häufiger noch, an Widerspruch nicht fehlte. Bisweilen sind die mit
Blei gemachten Randschriften später mit Tinte nachgezogen, ein
Zeichen wiederholten Lesens, bisweilen verlaufen sie in kleinen
Kritzeleien oder Porträtskizzen auf den Vorsatzblättern, ein Zeichen
verweilenden, nachdenklichen Lesens. Doch fehlte es hierbei nicht
an einer gewissen äußeren Ordnung der kritischen Siglen, die in sich
gleichbleibender Form die Nuancierung der Randschriften durch-
führten. Die Persönlichkeit des Philosophen in seiner Privatbiblio-
thek wiederzufinden gestatten die Randschriften Schopenhauers;
und dazu, an einem unvergleichlichen Vorbilde einen modernen
Bibliophilencharakter in seiner Vollendung zu studieren. —
Der Buchhandel in den deutschen Landen hatte die nationale
Einigung im neuen Reich vorweggenommen und damit selbst eine
starke wirtschaftliche Stellung errungen. Waren im Anfange des
neunzehnten Jahrhunderts unter dem Zwange äußerer und innerer
ungünstiger politischer Verhältnisse die das achtzehnte Jahrhundert
beschäftigenden Auseinandersetzungen über Preßfreiheit und Ur-
heberrechtsschutz weitergeführt worden; so gab jetzt der im Zu-
sammenhange mit ihnen entstandene Metternichsche Plan, zur
Beaufsichtigung des Buchhandels ihn zu verstaatlichen, den Anlaß
zur Begründung des ,Börsenvereins der Deutschen Buchhändler'
[1825] und damit zur Einigung des deutschen Gesamtbuchhandels,
die bald von ihren ersten politischen Zwecken abgehend die ökono-
mischen voranstellte; derart den buchgewerblichen Wirtschafts-
zweigen, die infolge der Industrialisierung der Buchherstellungs-
verfahren, die das Maschinenzeitalter mit seinen neuen deutschen Er-
338
19. JAHRHUNDERT
findungen der Schnellpresse, des Holzpapieres usw. veranlaßte, einen
festen Halt verleihend, dessen Mittelpunkt Leipzig war. In den
siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts beendete auch die
Reichsgesetzgebung die noch bestehenden Rechtsunsicherheiten auf
dem Gebiete des Verkehrs mit Geistesgütern. Das Anwachsen der
Büchermassen ließ dann am Ende des neunzehnten Jahrhunderts
ebenso in Norddeutschland [Berlin] wie in Süddeutschland [München
und Stuttgart] eine'nötig gewordene Dezentralisierung eintreten, ohne
das feste Gefüge der buchhändlerischen Organisation zu zerstören,
der der deutsche Altbuchhandel sich sinngemäß eingegliedert hatte.
„Die Litteratur umfaßt beynahe das ganze geistige Leben des
Menschen." Dieses, Friedrich Schlegels , Geschichte der alten und
neuen Literatur* entlehnte, Motto hatte Friedrich Perthes 1816 auf
das Titelblatt seiner Flugschrift: ,Der deutsche Buchhandel als Be-
dingung des Daseyns einer deutschen Litteratur' gesetzt, in der er
von dem eben geschlossenen äußeren Bund der deutschen Staaten
für das innere Bildungsmittel , Deutsche Sprache und Litteratur*
einen die Ordnung des buchhändlerischen Verkehrs ermöglichenden
rechtlichen Schutz verlangte und es als den eigentlichen Beruf des
deutschen Buchhandels, eines auf sich selbst beruhenden, aus dem
eigensten deutscher Geschichte und Verfassung hervorgegangenen
Instituts, bezeichnete, die Einheit der deutschen Litteratur zu er-
halten und zu befördern und alles zu beseitigen, was diese stören und
gefährden könne.
Altbuchhandel mit Druckwerken bestand seit den Anfängen der
Wiegendruckzeit, da bereits damals die Buchführer nebeneinander
alte und neue Bücher kauften und tauschten. Seine Ausbildung zu
den heute hier noch üblichen Geschäftsformen vollzog sich seit dem
achtzehnten Jahrhundert; seitdem der Begriff des Liebhaber-
preises, der alten, seltenen, vergriffenen Werke die Begehrlichkeit
der Sammler auf bestimmte Ausgaben lenkte. Demgemäß vollzog
sich die Entwicklung des Antiquariats im Zusammenhange mit der
der Bibliographie und Bibliophilie. Um 1800 waren, durch die
Säkularisationen in Süddeutschland, die alten geistlichen Anstalts-
bibliotheken, von denen manche eben nach langem Verfall zu einer
22* 339
DEUTSCHLAND
neuen Blüte kamen, aufgelöst und verstaatlicht worden. Aber dem
Altbüchermarkt und den Büchersammlern ging ihr Anteil an diesem
plötzlichen Bücherüberfluß häufig kostbarer und seltener Werke
trotzdem nicht verloren; zumal da bisweilen die Überführung der
Büchermassen in die staatlichen Sammlungen sich nicht mit der not-
wendigen geschäftlichen und wissenschaftlichen Strenge vollzogen
hatte. In München, wo mit einem Male die Hof- und Staatsbiblio-
thek auf etwa 400000 Druckwerke, darunter 13000 Wiegendrucke,
und auf 16000 Handschriften angewachsen war, konnte ein Bücher-
kenner wie Carl Erenbert Freiherr von Moll [1760— -1838]
fast ein Hunderttausend Bände zusammenbringen, die er durch Ge-
schenke oder Verkäufe — 1815 kaufte das British Museum von ihm
für 4500 Pfund eine Auswahl von 20000 Bänden, 1816 die durch den
Brand von 1812 vernichtete Moskauer Bibliothek gegen eine Leib-
rente von 2500 Gulden 50000 Bände, 1817 und 1827 schenkte er der
Münchener Hofbibliothek an die 15000 bis 20000 Bände — großen-
teils weiterleitete. Und lange nachher noch gelang es dem Augs-
burger Händler Albert Fidelis Butsch, Dublettenankäufe von
der Hofbibliothek in München zu machen, deren Art seine Auktion
von 1858 erkennen läßt, die erweist, von welchen Bücherschätzen
sich in diesen Jahrzehnten eine große öffentliche Bibliothek noch zu
trennen vermochte.
Die Bewältigung der sich aufstauenden Büchermassen durch
einen gelehrten und geschickten Sammler bewies Johann Georg
Burckhard Franz Kloss [1787—1854], bekannt als Geschichts-
schreiber der Freimaurerei, seit 1810 praktischer Arzt in seiner
Vaterstadt Frankfurt a. M. Schon als Student hatte er systematisch
10000 medizinische Dissertationen, die er 1820 für 560 Taler der
Universität Bonn verkaufte, zusammengebracht. Dann sammelte
er nach genau bestimmtem Plane, zunächst mit der Absicht, Panzers
bis 1536 sich erstreckende Bibliographie zu vervollständigen, die
deutschen bis zum Jahre 1550 erschienenen Druckwerke. Dabei half
ihm seine Zeit, in der einerseits viele alte deutsche Klosterbiblio-
theken aufgelöst wurden, anderseits nur verhältnismäßig sehr
wenige deutsche Sammler diese Bücher verlangten. So brachte er
340 * Abb. 232
19. JAHRHUNDERT
in den Jahren 1817 bis 1835 eine Bibliophilenbibliothek zustande,
deren Grundstock drei alte Büchereien bildeten, die des 1503 ge-
storbenen Bischofs von Worms, Johannes von Dalberg, die des
Bernhard Adelmann von Adelmannsted und die Kirchen-
bibliothek von Eßlingen. Dazu kamen dann viele wertvolle Erwerbun-
gen aus den Sammlungen des 1542 gestorbenen Christoph Scheurl,
Schöffers, Johann Fichards, der 1581 gestorben war, und aus
der Abteibibliothek zu Ochsenhausen, sowie aus dem Besitze mancher
zeitgenössischer Sammler. Diese Bibliothek ließ Kloß 1835 durch
Sotheby in London versteigern. Mr. S. L. Sotheby wollte, wie er
auch in einem besonderen, 1839 erschienenen, Werke zu beweisen
suchte, gefunden haben, daß zahlreiche Bücher der Kloßschen
Sammlung mit Randschriften Philipp Melanchthons versehen seien;
eine Behauptung, der Kloß selbst mit aller Entschiedenheit wider-
sprach [Serapeum 1841, Nr. 24]. Kloß hatte 1833 seine Bibliothek
verschiedenen größeren Bibliotheken Deutschlands für den geringen
Preis von 17000 Talern angeboten, und erst als dieses Angebot er-
folglos geblieben war — was um so erstaunlicher ist, als Kloß seine
Bücherei, wie ihr in der Frankfurter Stadtbibliothek befindlicher,
von ihm geschriebener, Originalkatalog zeigt, sich mit Recht den
damaligen großen öffentlichen Bibliotheken vergleichen konnte —
sie ins Ausland gehen zu lassen. So erzielte diese prächtige Samm-
lung in einer miserabel geleiteten Auktion, einer Auktion, in der
die Fust-Schöff ersehe Bibel von 1462 £ 20 10 s, das Catholicon von
1460 £ 19 15 s brachten, die außerordentliche geringe Summe von
£ 2261 für 4682 Lose. Auch nach solch doppelt schmerzlichem Ver-
lust seiner schönen Bücherei sammelte Kloß, aber nur in beschränk-
tem Umfange, Monumenta typographica; sein Sammlertalent ver-
wertete er jetzt für den Ausbau seiner die Freimaurerei betreffenden
Kollektion von Handschriften und Drucken. Sie ging nach seinem
Tode in den Besitz des Prinzen Friedrich der Niederlande über, der
sie der Großloge der Niederlande zum Geschenk machte. 1862 wurde
sie dann im Haag gesondert aufgestellt.
Buchgeschichtliche und buchgewerbliche Sammlungen sind seit-
dem in Deutschland zu einer ganz anderen Geltung gelangt und die
341
DEUTSCHLAND
berühmte Inkunabelnbibliothek des 1889 gestorbenen Kommissions-
rates Heinrich Klemm,* die 1884 vom sächsischen Staate erworben
wurde, brauchte nicht das Schicksal der ,Kloss Library' zu teilen,
in London in alle Winde auseinanderzufliegen. Aber die beste Ge-
legenheit ist doch für immer verpaßt worden. Manchen Buchfor-
schern mochten noch Sondersammlungen gelingen, die, durch
Spezialisierung, eine achtunggebietende wissenschaftliche Höhe er-
reichten. Seitdem wandelten sich indessen unter dem Zwange der not-
wendigen Beschränkung auf die erreichbaren, marktgängigen Stücke
die buchgeschichtlichen, die historisch-typographischen Kollektionen
größeren Umfanges und größerer Vollständigkeit immer mehr in
buchkunstgeschichtliche Auswahlsammlungen, diese wiederum ver-
schoben ihr Sammlungsgebiet immer weiter in die der Gegenwart
näheren Jahrhunderte hinein — wie die Kostümbibliothek des Ver-
legers Franz Freiherrn von Lipperheide,* die zu einer
der Bibliothek des Kunstgewerbemuseums in Berlin gestifteten
kulturhistorischen Spezialbibliothek ersten Ranges wurde — das
alte Buch kam in Deutschland ebenso wie in den anderen Ländern
langsam zum Ausverkauf, immer tiefer wurde der Gipfel des Bücher-
gebirges, das in dem Gutenberg- Jahrhundert lag, abgetragen.
Buchdruckgeschichte und Buchkunstgeschichte sind eng ver-
bunden. Bild- und Buchdruck hatten in ihrer Frühzeit die nächsten
Zusammenhänge. Deshalb beachteten die Forschungen und Samm-
lungen zur ältesten Buchdruckgeschichte auch die vermeintlichen
Vorläufer der Druckwerke, die Holtzafeldrucke, überhaupt die
ältesten Erzeugnisse der Bilddruckverfahren. Allmählich gelangte
man dann dazu, mehr und mehr die Buchdruckgeschichte nach
ihren ästhetischen als nach technischen Voraussetzungen zu prüfen.
Und wie man die Buchhandschriften teils wegen ihres diplomatisch-
historischen und ihres literarhistorischen Wertes, teils aber auch
ihrer künstlerischen Ausstattung wegen suchte, fand man mit dem
Einsetzen der neuen Buchkunstbewegung am Ende des neunzehnten
Jahrhunderts zum schönen Buch der Wiegendruckzeit als einem der
edelsten Zeugnisse für die Kunst im Buchdruck zurück. Indessen
die Klemmsche ,bibliographische Sammlung' Dokumente der Proto-
342 * ^»>*> «24, 230
19. JAHRHUNDERT
typographie historisch vereinen wollte, beschäftigte sich bereits der
Berliner Architekt Hans Grisebach [1848—1904] mit einer
Bücherei, die die Buchkunstmeisterwerke des fünfzehnten bis
zwanzigsten Jahrhunderts lediglich ästhetisch wertete. Das Bild
im Buche, die Illustration, hatte seine Höhepunkte gehabt, deren
beste Beispiele zu Sondersammlungen verlockten; um so mehr, als
auch die Beziehungen von der Buchkunst zu den Urausgaben man-
nigfache waren. So dehnte sich ein ergiebiges Sammelgebiet den
es Bestellenden immer weiter aus; die um 1900 beginnende Buch-
kunstbewegung mit ihrer Forderung einer Kunst im Buchdruck
ließ nicht nur an die Buchkunstfreunde sich wendende Liebhaber^'
ausgaben entstehen. Sie schuf auch in deren Form dem deutschen
Buche der Gegenwart, das in dieser Sonderart einzelne Verlage mit
Eifer und Erfolg pflegten, eine starke Anhängerschaft, die, über-
legen an Zahl den Bewunderern des alten Buches, der Bibliophilie
in Deutschland zu einer starken Stütze wurden, freilich auch bis-
weilen buchgewerbliche Mißstände und buchhändlerische Über-
treibungen veranlassend. Altbuchkunstsammlungen, deren Grenze
gegen das Kunstgewerbe überhaupt die Einbandsammlungen an-
deuten, so die von Dr. Carl D. Becher- Karlsbad 1911 an den
deutschen Buchgewerbeverein verkaufte Einbandreihe, verlangen,
wenn sie Ausdehnung und Gehalt gewinnen sollen, wie die von Frau
Ida Schoeller [1863 — 1917]* angelegte, großenteils an das Düssel-
dorfer Museum übergegangene schöne Bücherei, eine Anspannung
der Kräfte und Mittel des Sammlers, die nicht immer aufzubringen
ist. Andererseits fehlt ihnen, wofern sie nicht bis in die Gegenwart
des Sammlers gelangen, die Berührung mit den Kunststrebungen
von dessen eigener Zeit. Hieraus ergab sich, auch in engerer Ver-
bindung mit den literarischen Sammelrichtungen, die Bevorzugung
des seit dem achtzehnten Jahrhundert entstandenen illustrierten
Buches. Die Ausbreitung der Bücherliebhaberei in Deutschland
um 1900 — 1897 war die Zeitschrift für Bücherfreunde von
Fedor von Zobeltitz, 1899 die Gesellschaft der Biblio-
philen gegründet worden — folgte in ihrem raschen Verlaufe der
Anerkennung einer literarischen Moderne, die auch beispielgebend
*Abb. 242 343
DEUTSCHLAND
in ihren Veröffentlichungen und Zeitschriften für die Buchaus-
stattung gewesen ist. Dem älteren Eduard Grisebach nach-
eifernd hatten die damals jungen, hatten Otto Julius Bierbaum,
Richard Dehmel, Otto Erich Hartleben, Oskar Panizza
dem Buchschmuck ihrer Schriften, deren Druckausführung und
Papierwahl die größte Sorgfalt zugewendet. Ästhetische Zeitschriften
bemühten sich, vor allem der ,Pan* [1895] und die ,Inser [1899],
die Alfred Walter von Heymels [1878—1914] Mäzenatentum
entstehen ließ, buchgeschmackbildend zu wirken. Eine Bewegung,
die, nachdem sie erst einmal zu einer buchgewerblichen und buch-
geschäftlichen Festigung gelangt war, eine deutsche ,Bibliophilie
Moderne' entstehen ließ, die auf der Auktion Lennartz [1914]
zum ersten Male mit ihren Liebhaberpreisen ihre Selbständigkeit
erwies.
Ein Jahrzehnt vorher war die deutsche „Erstausgabe*' zu ihren
neuen Liebhaberpreisen gekommen ; die AuktionJosefKürschner
[1853—1902], die 1904 in Leipzig stattfand, bezeichnet hier den
Wendepunkt. Durch geschäftliche Geschicklichkeit in der Wahr-
nehmung einer Zeitströmung ist damals die deutsche Klassiker-
Originalausgabe und bald auch die Originalausgabe der deutschen
Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts zu einem bevorzugten
Sammelgegenstande geworden. Der immerhin die deutschen Biblio-
philenbibliotheken einen festeren Mittelpunkt finden ließ als ihn
die fachwissenschaftlich gerichteten Sondersammlungen geben konn-
ten, deren Voraussetzung, auch soweit sie die Form einer Liebhaber-
bücherei annahmen, ganz abgesehen von dem Aufwände, den sie er-
fordern mochten, eine methodische und systematische Arbeit war. Eine
Arbeit, die bisweilen neue Wege erschließen mußte, immer jedoch ohne
Geduld, Gelehrsamkeit, Geschmackssicherheit nicht zu leisten war.
Unverkennbar ist mit der Ausbreitung der Bibliophilie in Deutsch-
land auch eine nervöse Sammlerstimmung verbunden gewesen,
deren Eklektizismus aus dem Begehren entstand, rasch eine an-
erkennenswürdige Bücherei zu gewinnen. Und die eine Verkleidung
solcher Wünsche dem glücklichen Umstände verdankte, daß einer-
seits die deutsche Dichtung seit dem achtzehnten Jahrhundert ein-
344
19. JAHRHUNDERT
geschlossenes Hauptsammelgebiet war, andererseits Buchkunst und
Liebhaberausgabe dessen Erweiterung zwanglos gestatteten, wo-
durch dann alle derartigen Büchereien, mochten sie auch nur aus
einem Verzeichnis von Nummern bestehen, die, hineingehören', eine
nicht zu bestreitende Abrundung nach außen hin erlangten. Selbst-
verständlich gab es und gibt es unter den deutschen Bibliophilen-
bibliotheken neuerer und neuester Zeit auch viele höheren Wertes.
Aber es ist noch eine voreilige Beurteilung der Bibliophilie in Deutsch-
land, wenn man lediglich aus der Vermehrung von Liebhaberbüche-
reien und Liebhaberpreisen den Schluß ziehen soll, sie bedeute auch
eine Vermehrung der inneren Werte der deutschen Bibliophilie.
Hierüber kann allein die Zukunft zutreffend urteilen. Der Gegen-
wert erscheint sie gelegentlich allzu ästhetisch-einseitig gerichtet;
nicht zum wenigsten wegen der Absonderung des Künstlerischen
vom Wissenschaftlichen.
Für den Bereich der Naturwissenschaften gilt das vor allem.
Das mag, wenn man es derart auslegen will, eine Bibliophilieoppo-
sition des Idealismus gegen den Materialismus sein. Bibliothek-
ornamentik von nicht geringer Kostbarkeit waren von altersher die
großen naturwissenschaftlichen Prachtwerke und Reiseschriften,
die umfangreichen Unternehmungen mit den Tafeltausenden, die
häufig zwischen Anfang und Ende schon veralteten, gewesen. Denn
fühlbarer als bei den Büchern, die den Geisteswissenschaften an-
gehörten, machten sich bei den naturwissenschaftlichen die neuen
Entdeckungen und Erfindungen geltend. Welch einen Abstand fort-
schreitenden Wissens zeigen die drei Jahrhunderte voneinander ent-
fernten Bibliotheken der fleißigen, gelehrten Sammler Konrad
Geßner [1516—1565] und Alexander v. Humboldt [1769-1859];
welche Änderungen des Gesamtgebietes der Naturwissenschaften
in einem Halbjahr hundert konnte der Verfasser des , Kosmos'
registrieren, den der Maler und Weltreisende Eduardt Hildebrandt
in seiner bescheidenen deutschen Gelehrtenstube gezeichnet hat; der
Mann, der allein noch einmal Erde und Himmel zu überschauen
versuchte und trotzdem in seinen eigenen Werken — sie sind eine
Bibliothek für sich, hier gilt die allzu oft mißbrauchte Wendung —
345
DEUTSCHLAND
schon die Ausbildung des naturwissenschaftlichen Buches zeigt
zum Gemeinschaftssammelwerk, zur Monographie des Spezialisten.
Und wozu diente dem ausgezeichnetsten BerUner Genossen Alexander
von Humboldts in den naturwissenschaftlichen Regionen, wozu
diente dem Geographen Carl Ritter [1779—1859] kostspieliger
Kupferprunk pittoresker Reisebeschreibungen, der, um die Ergebnisse
der Forschung zu verwerten, zu den letzten Berichten, Briefen und
Tagebüchern, die in der Unrast und in dem Unrat von mühevollen
Expeditionen geschrieben waren, griff? Die Arbeitsmittel der
Naturwissenschaften, soweit Büchersammlungen zu ihnen gehören,
waren seit dem neunzehnten Jahrhundert wenig mehr deren Ent-
faltung in eng geschlossener ruhiger Sicherheit günstig; die besten
Fachbibliotheken wurden Sondersammlungen mit ihrem Apparat
von Kleinschriften und vollständigen Zeitschriftenreihen; nur da,
wo geschichtliche Rücksichten eine Sammlung leiteten, kamen die
alten Bände noch einmal zu ihrem Recht. Es sei denn, daß sie
auch sonst, aber ihrer buchgewerblichen Eigenschaften wegen und
nicht als Werkzeuge wissenschaftlicher Wichtigkeit, in die Lieb-
haberbüchereien aufgenommen wurden, die nunmehr beinahe stets
bis auf einige Klassiker ganz und gar die Naturwissenschaften ver-
nachlässigten.
Aber auch die Geistes- und Geschichtswissenschaften sind in deut-
schen Liebhaberbüchereien des zwanzigsten Jahrhunderts oft ver-
nachlässigt worden, in denen man durch die beiden Abteilungen
Kulturhistorie und Philosophie alles außerhalb der Kunst und ins-
besondere der Poesie liegende bequem zusammenzufassen sich ge-
wöhnt hat. Als ein Erinnern an die Vergangenheit des eigenen Volkes,
das in den Büchereien anderer Länder stark ist, treten in den deut-
schen BibliophilenbibUotheken diese Gebiete sehr zurück. Über-
gänge vom Kulturhistorischen zum Literarhistorischen, doch eher
umgekehrt, vermitteln besonders die Musik- und Theatersamm-
lungen. Aber auch sie bilden sich da, wo sie eine Erfassung ihres
Gebietes erreichen, in fachwissenschaftliche Sondersammlungen um,
wie die eigentlichen kulturhistorischen und kunsthistorischen Privat-
bibliotheken. Das ist immerhin verständlich, weil es in ihrer Art
346
19. JAHRHUNDERT
liegen muß, die Beschränkung auf das iBibliophilenbuch im aus-
schließlichen Sinne einer Kostbarkeit oder Seltenheit zu vermeiden,
weil sie die Bücher, die für sie wertvoll und wichtig sind, gleich
hoch achten müssen. Und da die Vollständigkeit auf wissenschaft-
lichem Gebiete im Wettbewerb mit den bestehenden großen Biblio-
theken von der meist in einem Menschenalter entstehenden Privat-
bibliothek nur schwer zu erreichen ist, bleibt deren Verdienst auch
hier die durch die Persönlichkeit eines Bibliophilen sich ordnende
Sondersammlung. In dem Fache der Geschichte wird das besonders
in den lokalhistorischen Privatbibliotheken sich zeigen; am stärksten
da, wo eine bedeutende irgendwie historische Persönlichkeit eine be-
deutende Büchersammlung hinterläßt, die zu einer Beurkundung
ihrer Leistungen, zu einem der Nachwelt sich erhaltenden Ausdruck
ihres Wesens geworden ist. Damit ist dann auch gesagt, daß der Be-
griff des Provenienzexemplares dem Buchfreunde der Gegenwart
sich weitete. Einmal, indem er ohnehin den Begriff einer geschicht-
lich merkwürdigen Persönlichkeit ausdehnt. Sodann, indem er fast
mehr deren Bücherei als ein Ganzes hochschätzt als das Einzelstück
aus ihrer Zerstreuung.
Archiv-Bibliotheken, deren historischer Charakter in den Per-
sönlichkeiten ihrer im politischen Leben sich auszeichnenden Samm-
ler ruht, insbesondere also Büchersammlungen hervorragender Staats-
männer, sind im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts, in
größerem Umfange wenigstens, kaum entstanden. Im Anfange dieses
Jahrhunderts besaß zwar der Staatskanzler Fürst Clemens
Lothar Metternich eine sehr ansehnliche Repräsentations-
bibliothek und auch sein federgewandter, geistreicher, gelehrter
Gehilfe Friedrich von Gentz war nicht ohne einiges Biblio-
philentemperament. Aber im allgemeinen sind es doch mehr die
Tagesschriftsteller als die im Amte befindlichen Politiker ge-
wesen, die in ihren Privatbibliotheken auch literarische Dokumente
der Politik vereinten. Und auch sie sind, gleich E. M. Arndt
und J. von Görres, weit eher dem wissenschaftlichen und schön-
wissenschaftlichen Schrifttum zugewandte Buchfreunde gewesen
als die Errichter politischer Registraturen. Es mag ja nun leicht
347
DEUTSCHLAND
erklärlich sein, daß Neigungen für Sammelarbeit in der Stille un-
schwer eine Verbindung mit politischer Tätigkeit eingehen werden.
Als Beispiel dafür kann die Bibliothek Bismarcks gelten.
Ein außerordentlich belesener Mann ist Fürst Otto von Bis-
marck zwar gewesen, jedoch kein Buchfreund und Büchersammler
im eigentlichen Wortsinne. Seine Beschäftigungen mit dem Buch-
wesen, wie etwa sein Festhalten an der Frakturschrift, entsprangen
keinen bibliographischen Rücksichten. Und der beeilte Staats-
mann mußte der ephemeren politischen Literatur so viel von seiner
kostbaren Zeit zuwenden, daß für ein geruhsameres Lesen nichts
übrig blieb. Der entspannende Roman und die Tageszeitungen waren
für den alternden Fürsten hauptsächliche Lektüre. Doch pflegte er
auch die Aufsehen machenden Neuerscheinungen zu durchblättern
und mit seinem scharfen Blick für das wesentliche, von seinem vor-
trefflichen Gedächtnis unterstützt, das aufzunehmen und zu behalten,
was er bei Gelegenheit mit genialer Intuition zu einem treffenden
Zitat, zu einer geistreichen Anspielung benutzen konnte, hierin
Shakespeare vergleichbar. Waren doch die Lesefrüchte, die der
langjährige Leiter der preußisch-deutschen Politik in seinen Reden
und Staatsschriften, die die Ornamentik der Klassiker- Reminiszen-
zen mit prägnanter Stilsicherheit verzierte, in den Mußejahren des
jungen Gutsherren gesammelt worden. Alles Lesen wurde für Bis-
marck zu einem Zwiegespräch mit dem Buch, seine kräftigen Rand-
schriften folgten sich Seite auf Seite; sogar in den Zeitungsblättern,
die sogleich in den Papierkorb flogen, brachte der gewaltige Zimmer-
mannsbleistift die großen steilen Bismarckischen Vermerke an.
Wäre dieser Überfluß den Bänden und Blättern einer eigenen sorg-
fältig geordneten und verwalteten Büchersammlung zugute gekom-
men, dann wäre sie eine deutsche politische Privatbibliothek des
neunzehnten Jahrhunderts geworden, wie es keine zweite gäbe.
Als Urkundensammlungen zur Zeitgeschichte haben die Zeit-
schriften- uud Zeitungssammlungen angefangen, die nicht die gering-
wertigsten unter den geschichtswissenschaftlichen sind. Das Bild
im Flugblatt, die Flugschrift, die den Mangel eines fehlenden regel-
mäßigen Nachrichtendienstes und der fehlenden Organe öffent-
348
19. JAHRHUNDERT
lieber Meinung recht und schlecht ausglichen, mußten schon in
früheren Jahrhunderten zur Aufbewahrung verlocken. Freilich, die
Kleinarbeit, die in den vielen Sammelbänden steckt, die dergleichen
Tagesblätter und Tagesbüchlein zusammenhielten, ist nur selten
zu einer systematischen Vervollkommnung dieser Art von Samm-
lungen gelangt. Vor allem waren es die ikonographischen Materialien,
die methodisch für die Anlage einer Bandfolge zur Zeitgeschichte
dienten — ein Beispiel ist etwa der Thesaurus Picturarum des Kur-
pfälzischen Kirchenrates Dr. Marcus zum Lamm [der um die
Wende des 16. und 17. Jahrhunderts lebte] — während in den Biblio-
theken seit dem sechzehnten Jahrhundert, auch unter dem Ein-
flüsse buchhändlerischer Vertriebsgewohnheiten, die aus Sparsam-
keitsrücksichten sich ergebende Vereinigung von Druckwerken ge-
ringen Umfanges allmählich bibliothekstechnisch in die Formen «des
gelehrten Handapparates hineinwuchs, der, nachdem bis ins acht-
zehnte Jahrhundert hinein die Dissertationenkollektionen in lan-
gen Reihen die Arbeits- und Bücherzimmer geschmückt hatten,
dann seine Auflösung in den beweglichen Buchkästen fand. Aber fast
alle diese Einzelsammlungen waren doch mehr oder minder Neben-
sammlungen geblieben und erst im neunzehnten Jahrhundert ent-
standen größere, selbständige Sondersammlungen, die einen ge-
schichts wissenschaftlichen Grundplan auszuführen versuchten; ent-
standen aus geschichtswissenschaftlichen Rücksichten Flugblätter-,
Flugschriften-, Zeitungssammlungen. Die Abgrenzung bestimmter
neuer Sammlungsgebiete, für die sie kennzeichnend sind, ergibt sich
aus der wissenschaftlichen Bestimmung des Unterschiedes zwischen
, Presse* und , Schrifttum*, wobei dann das Buch, wie in den Kriegs-
sammlungen unter den anderen Druckerzeugnissen keine ausschließ-
liche Wertgeltung mehr hat. Es ist ein Grenzgebiet, auf dem Bücher-,
Griffelkunstblatt-, Handschriften- und andere Sammler sich be-
gegnen; ein Grenzgebiet, auf dem mehr eine archivalisch- doku-
mentierende Orientierung gegeben ist als eine bibliographisch-biblio-
phile. So sind die Bibliophilenbibliotheken in dieser ihrer neuesten
Sonderform wieder in die Anfänge des Bibliothekswesens, in das
Archivwesen zurückgelangt. Ein Anzeichen dafür vielleicht, wie
349
OESTERREICH
Buch und Presse für den Buchfreund und Büchersammler sich durch
die Art der Sammelverfahren genauer scheiden werden. —
Wenn die Bibliophilie des Deutschen Reiches seit Kaiser Maxi-
milians I. Tagen in Wien keinen festen Mittelpunkt finden konnte,
so ist das damit einfach genug zu erklären, daß weder Wien noch
sonst eine deutsche Stadt ein die deutschen Länder verbindendes
Kulturzentrum war. Aber die äußere Machtlosigkeit des alten
deutschen Reiches war letzten Endes doch nur eine Folge seiner
geistigen inneren Zerrissenheit. Und die Bedeutungslosigkeit der
alten deutschen Reichshauptstadt für die ökonomisch und politisch
immer mehr selbständig werdenden deutschen Staaten beruhte eben
darauf, daß sie allein dem Namen nach Reichshauptstadt war, ihr
Ansehen und Aussehen indessen lediglich dem Umstände verdankte,
gleich anderen deutschen Städten auch eine Residenzstadt zu sein.
Daraus ergaben sich nun freilich gewiß nicht zu unterschätzende
soziale Zusammenhänge. Immerhin, Frankreichs gesellschaftliches
Leben fand nicht in Paris sondern in Versailles die stärkste Stütze;
nicht in London sondern in Oxford und den alten anderen Uni-
versitäten Englands waren die Pflegestätten des geistigen Lebens
der englischen Nation. Dafür aber wurden London und Paris früh
schon die Handelshauptplätze der Buchware. Im Deutschen Reiche
hatte sich, den geistigen Bewegungen nachfolgend, der Buchhandel
immer weiter nach Norden zurückgezogen; in Österreich war er
überhaupt nie zu einer Vormachtstellung geistiger oder wirtschaft-
licher Art gelangt. Anfänglich hatten hier der Ausbreitung des
Buchdrucks die Kriegswirren in seiner Entstehungszeit entgegen-
gewirkt. Im ständigen Kampf stand Kaiser Friedrich IV. [1440
— 1493] mit seinen Brüdern Albrecht und Siegmund von Tirol,
mit dem Könige Georg Podebrad von Böhmen und Matthias Cor-
vinus von Ungarn. Daher gestaltete sich auch für das Buchwesen
kein nach außen hin wachsender Kern in Wien. Von Süden her, von
Trient, war das neue Buch nach Österreich gelangt; die Hofbibliothek
und die Humanisten Kaiser Maximilians I. hatten ihm Anerkennung
verschafft. Doch auch sie lokalisierte sich mehr als daß sie sich de-
zentralisiert hätte, wofür immerhin die Voraussetzung eine Zentrali-
350
16. JAHRHUNDERT
sierung gewesen sein würde. Die seit dem siebzehnten Jahrhundert
berühmt werdenden Büchersammlungen Wiens sind, soweit sie nicht
die Hofbibliothek in ihren Umkreis zog, vereinzelte Erscheinungen
geblieben, weil das geistige Band einer fester werdenden nationalen
Bibliophilietradition sie nicht zusammenhielt. Bezeichnend genug ist
es, daß, als sich eine solche im achtzehnten Jahrhundert auszubilden
begann, sie mit den ViennensiakoUektionenin den Grenzen der Wiener-
stadt selbst genügsam blieb, im Gegensatz zu dem, was Kaiser Maxi-
milian I. gewollt und sich gewünscht hatte. Die Humanistenbiblio-
theken waren international, die Juristen-, Philologen-, Theologen-
Bibliotheken universal gewesen, die Bibliophiliemoden, denen die
reichen Wiener Sammler sich späterhin anbequemten, wurden kosmo-
politisch nach dem guten Pariser Ton, nirgends aber entwickelte
sich ein Aufwärtsstreben aus den Bereichen des deutschen geistigen
Lebens; auch dann nicht, als eine Klassikerepoche dem deutschen
Sprachgebiete nationale Einheit sicherte. In den österreichischen
Privatbibliotheken dieser Zeit erglänzten die privilegierten Nach-
drucke, fehlten die eben zur Führung kommenden Philosophen und
sonst Verbotenen. Es war nicht die Schuld der Buchfreunde und
Büchersammler Österreichs, daß sie nur schwer vorwärts kommen
konnten. —
Mancher Bibliophilenname guten Klanges, der von der Bücher-
liebe und Bücherliebhaberei Österreichs im siebzehnten Jahrhundert
zeugt, wäre mehr als eines nur flüchtigen Gedenkens wert. So der
des Bischofs von Wien, Melchior Khlesel [1552—1630] und der
des Tirolers Zacharias Geizkofler [1560—1617], der lange in
Augsburg lebte und in Prag starb. Aber ihre Bücher sind zerstreut;
die Bände, die davon berichten, wie ihr einstiger Besitzer für sie
sorgte, bringen, so die nicht wenigen Büchereizeichen Geizkoflers,
keine Kunde mehr von der Art ihres Sammeins und ihrer Samm-
lungen, sie sind Stücke bekannten und doch unbekannten Ur-
sprunges. Daß damals deutsche Buchfreunde lebten, die ebenso für
die Auswahl wie für die Ausstattung ihrer Bücher keine Mühe-
waltung scheuten, die ansehnliche und umfangreiche Privatbiblio-
theken zu unterhalten verstanden, könnte das Beispiel des Regenten
351
OESTERREICH
der niederösterreichischen Lande Joachim Grafen von und zu
Windhag [Enzmüller 1600—1678] lehren, der es nicht ver-
schmähte, seinen Buchbindern genaue Regeln für eine gute Binde-
arbeit aufzustellen. Er hinterließ seinen im Schlosse Windhag auf-
gestellten Bücherschatz dem Dominikanerorden in Wien als eine
bibliotheca pro usu publice fundata. Ein ähnliches Bücherdenkmal
errichtete sich der Hofbibliothekar und Leibarzt Kaiser Karls VL,
Pius Nicolaus Garelli [1675-1739], während der Hofbibliothek
eben die erlesenste Liebhaberbücherei Österreichs, die im acht-
zehnten Jahrhundert bestanden hat, zugefallen war, diejenige des
Prinzen Eugen von Savoyen [1663—1736].*
Das Büchersammeln als die Erholung eines glanzliebenden
großen Herren liebte Prinz Franz Eugen von Savoyen [1663
— 1736].* Der edle Ritter, wie er im Volksliede hieß, wurde frei-
lich durch seine militärische und politische Tätigkeit mehr in An-
spruch genommen als die anderen Bibliophilen seiner Zeit, deren
Mittel ihnen einen gleichen Bibliothekenluxus gestatteten. Da-
für wurde ihm seine Bücherei die Hoffnung kommender Muße-
stunden, und als er 1719 ein ruhigeres Leben beginnen durfte, war
seine erste Freude, daß er mit einem solchen Büchervorrate versehen
sei: ,,daß die Zeit mir nicht lang werden soll". Der Feldherr hatte
es verstanden, auch sein Bücherheer guter Leitung anzuvertrauen
und so kleiden zu lassen, daß ihm und seinen Besuchern die Parade
dieser Truppen stets wohlgefiel. Eine geregelte Ordnung herrschte
überall. Dem Aufwände entsprachen die Erfolge. Begonnen wurde
die Bibliothek des Prinzen Eugen um 1712 durch umfangreiche
Bücherkäufe in London. Agenten und Korrespondenten ixk . den
europäischen Hauptstädten sorgten mit seinen Bibliothekaren,
unter denen hervorragende Männer wie J. B. Rousseau, Nicolas
Lenglet, Pierre Mariette waren, für ihren Ausbau. Angeschafft
sollten die besten und schönsten Ausgaben und dabei solche bevor-
zugt werden, die sich durch ansehnliches Format und lesbare Typen
auszeichneten; das Gesamtgebiet der Wissenschaften in gleich-
mäßiger Verteilung berücksichtigt werden. Demgemäß kamen hier
die bändereichen Prachtwerke in ihren Fürstenausgaben zusammen,
352 *Abb. 170, 171
18. JAHRHUNDERT
deren Preise in die Zehntausende stiegen. Bezahlte doch Prinz
Eugen noch 1732 für die sechsundvierzig Folianten seines Blaeu*
sehen Atlas die runde Summe von 30000 Talern. Ein einheitlicher
Bibliotheksband mit dem Wappensupralibros in Ziegenleder —
blau für die theologischen und juristischen Fächer, rot für die
historischen, gelb für die naturwissenschaftlichen — gab dem Ganzen
einen aristokratischen Stil. Es war die Bibliothek einer Grand*
Seigneurs, die repräsentierte; die aber, ohne darauf zu verzichten,
durchaus nicht literarische Antiquitäten, bibliographische Rari-
täten in einer Bücherschatzkammer aufhäufen, sondern eine Ge-
brauchsbücherei mit neueren und neuesten Werken, die einen vor-»
züglichen Buchgeschmack zeigten, werden wollte.
Angegliedert war der Bibliothek eine Bildnissammlung, die aus
der 60000 Nummern zählenden Porträtkollektion des Nürnberger
Polyhistors Gottfried Thomasius hervorgegangen war. Auch
sie stand in reichvergoldeten roten Buchkästen wohlgeordnet und
wohlverwahrt anfangs in dem 1705 erbauten Wiener Palaste des
Prinzen an der Himmelpfortgasse und kam dann mit der Biblio-
thek 1716 in die Büchersäle des Belvedere-Palastes, die zu den da-
maligen europäischen Sehenswürdigkeiten gerechnet wurden. Auch
die Bibliophilenbibliothek seines Generaladjutanten Freiherrn
G. G. Hohendorf hatte Prinz Eugen erworben. Aus dem Nach-
lasse des Prinzen verkaufte seine Erbin und Nichte die auf 150000
Gulden geschätzte Sammlung — sie zählte 15000 Druckwerke und
237 Handschriften, darunter die Tabula Peutingeriana, 290 Kupfer-
stichwerke, für die eine halbe Million Taler ausgegeben waren,
215 mit Bildnissen und Stichen gefüllte Buchkästen — gegen eine Leib-
rente von 10000 Gulden an die Hofbibliothek. Man mußte damals
in Österreich ein großer Herr sein, um sich eine Bücherei gleich dieser
leisten zu können. Nicht nur des Aufwandes wegen, den sie ver-
langte, sondern auch, um die Freiheit zu haben, als Bibliophile auf-
treten zu dürfen.
Der ,Bücher-Narr* gehörte um 1700 schon zu den auffälligen
Erscheinungen der deutschen Kaiserstadt, die ein Pseudo-Abraham
k S. Clara in seinem ,Centifolio Stultorum' verspotten durfte. Zwar
4
BOGENO n 353
OESTEBREICH
gelte es: „Bücher lesen ist eine schöne /ehrliche /nutzliche Lustbar-
keit; durch dieses wird manches sonst vernebletes Hirn außgeheitert/
und mancher auß Narren-Netz herauß gezogen / in welchem er
sonst sich unaußläßlich verwickelt hätte: wie bescheidener die
Leuth/ destomehr seyn sie in diese Lust vertief ft: . . . Aber: Bey
diesen allen doch leydet der gemeine Lehr-Satz / Stultorum plena
sunt omnia, alles ist mit Narren voll / bey den Büchern selbst kein
bey gesetzte un umbgängliche Exception: Es mischen sich unter
die volle Reyen deren aus denen Büchern Weißheit-schöpffenden
manche Narren mit ein. Nicht die Geringste seyn diese/ welche viel
zusammen kauffen / alle Gewölber und Täntl-Märckt auslauffen /
gleichwohlen wenig oder selten darinn lesen / und nur vor einen
Schein gantze Stellen voll im Zimmer stehen haben / selbige in
schöne Ordnung stellen/ abstauben und sauber halten; sodann last
einer sich schon für Hochgelehrt / Excellenz / als einen Doctor der
Rechten tituliren/ wann er gleich kein Recht kan außführen/ und
öfftermahls nöthig wäre/ die Bücher mit sich vor Gericht zu nehmen/
daß solche selbst reden möchten. // Bücher lesen ist ein so edle /
nutzlich- und ergötzliche Sach / daß der sich darein begibt / verliebt
und begierig wird/ davon nicht mehr ablassen kan. . . .// Aber jene/
welche ohne Unterschied alle Bücher/ so ihnen vor die Hand kommen
/ lesen / und theils hierdurch verkehrt / aber nicht gelehrt werden /
indeme / wo sie nur ein närrisch-unzüchtig- oder verbottenes Buch
können aufftreiben / sie es theuer genug bezahlen / gehören in das
große Narren-Buch . . ." Die Moral dieser Narrenpredigt, die schließ-
lich in eine Anleitung zum bedächtigen Lesen ausklingt, hat indessen
einen neuen, den alten Angriffen auf die Bibliophileneitelkeit und
die Bibliomanenuntugenden fehlenden Sinn erhalten, sie polemi-
siert gegen die ,malitiosen, verbottenen* Bücher, die ihre Leser
verführen, verirren, perturbiren ,,und öfftermahls z weif fei- und
teuffelhafft/ gar verdammt'* werden lassen, „dahereo ein verdächtig-
oder verbottenes Buch keiner ohne große Sund nicht lesen kan;" sie
wendet sich gegen die Bücher, die zu ,,verbottnen Sachen anleiten/
welches leyder nur gar zu offt geschieht / durch manches ketzerisch-
zauberisch-schwarzkünstlerisch- oder verliebtes Buch / welche uns
354
18. JAHRHUNDERT
alles Übels berichten / lehren / und den grössten Seel- und Leibs-
Schaden zufügen^'; und sie bezeichnet damit dasjenige Sammelgebiet,
dessen beide bibliographische Pole der , Index librorum prohibitorum*
und Miltons Areopagitica sind. Den Beschränkungen der Freiheit in
Rede oder Schrift durch Gesetz oder Sitte entsprach eine Einschrän-
kung des Lesens und des Sammeins, die in verschiedenen Ländern,
zu verschiedenen Zeiten sich sehr verschiedenartig gestaltete. Aber
die verbotenen Bücher, die verpönten Werke wurden nicht allein
durch einen Geheimhandel hergestellt, den sie hervorgerufen hatten,
um, ,unter dem Mantel' verborgen, von Hand zu Hand weitergegeben
zu werden; sie gelangten nicht nur an die Neugierigen, sondern sie
wurden auch ein Gegenstand, der die Bemühungen der Bücher-
sammler wachrief. Denker und Dummköpfe, Forscher und Selten-
heitsjäger zogen sie in gleicher Weise an. Auf den Bücherreisen und
im Gelehrtenbriefwechsel suchte man ihrer habhaft zu werden;
ernsthafte Sammler erfanden für sie bibliographische Systeme, so
Zacharias Conrad von Uffenbach, der in seinem Kataloge kunstvoll
die allerlei libri prohibiti trennte. Als das achtzehnte Jahrhundert
längst schon in der Aufklärung ,fortgeschritten* war, hatten ihre
Hauptstücke noch höchste Liebhaberwerte. Aber in Wien endeten
die vielen Buchtragödien, die manchesmal das Scheiterhaufenfeuer
unglücklicher Verfasser beleuchtet hatte, in einem Satyrspiel, das
die Geschichte der Wiener Zensur heißt. Eine Bureaukratie ver-
waltete hier das Amt der Bücherpolizei, die in ihren Maßnahmen
sondergleichen war. Selbst den Diplomaten fremder Staaten nahm
sie die ihnen gehörenden nicht gehörigen Bücher weg. Und sie
achtete mit einer Empfindlichkeit auf das erlaubte und das ver-
botene Wort, sofern es gedruckt oder geschrieben oder auf der Bühne
und sonstwo gesprochen wurde, daß sie schließlich ihrem eigenen
Urteil nicht mehr vertraute, weil sie nicht wußte, ob es nicht auch
noch zu verbieten sein würde. —
In seiner , Einleitung in die Bücherkunde' vermerkte [1795]
Michael Denis, um auch von der Menge der wienerischen Privat-
sammlungen ein Urteil zu fällen: „daß nur das Jahr 1776 hindurch
in 28 öffentlichen Auctionen bey 30000 Bücher zu Kaufe gewesen
w 355
OESTERREICH
sind. Würden die dabey herauskommenden Kataloge nur ein wenig
correcter gehalten, und verriethen sie nur soviel von Bücherkenntniß,
daß sie zum Nachschlagen brauchbar wären, dann könnten sie bey
den traurigen Zersplitterungen, die auch in der Bücherwelt jährlich
vorgehen, eine Art Trostes seyn, und verdienten in Büchersälen
beygesetzt zu werden, wo man oft große und den Bibliographen
nützliche Sammlungen von Verzeichnissen abgelebter Privatbiblio-
theken unter dem Namen Bibliotheca oder Catalogus findet/*
Beisetzung in den Büchersälen. Das hieß eine Anschauung über die
Bestimmung öffentlicher Bibliotheken, die man damals nicht ungern
in Wien hegen mochte, treffend bezeichnen. Und der beklagte
Mangel bibliographischer Gründlichkeit war doch wohl nicht die
eigentliche Ursache davon, daß der Altbuchhandel und mit ihm das
Büchersammelwesen in der Hauptstadt des deutschen Reiches
keinen Vergleich mit dem in London oder Paris wagen ließ. Allzu-
sehr beengten ihn eben jene geistigen und gewerblichen Schranken,
die noch ein halbes Jahrhundert hindurch in den österreichischen
Erblanden um das Buch gezogen waren, obschon der Kaiser selbst
das Beispiel eines Bibliophilen war.
Als der Erzherzog Franz [1768 — 1835, als römisch- deutscher
Kaiser (1792-1806) Franz IL, als Kaiser von Österreich (1804-1835)
Franz I. genannt] 1784 seine Vaterstadt Florenz verließ, um in
Wien von seinem kaiserlichen Oheim Joseph II. in die Regierungs-
geschäfte eingeführt zu werden, brachte er nicht allein seine ansehn-
liche Büohersammlung an den neuen Wohnort mit, sondern auch
die Leidenschaft des Büchersammelns, der die [K. K.] Habsburg-
Lothringische Familien- Fideikommiß- Bibliothek ihre
Entstehung verdankte. Des Kaisers Vorliebe war wissenschaftlichen
Zwecken zugewendet. Neben dem in seinen Jugendjahren noch
selbstverständlichen Grundstock einer guten Privatbibliothek, der
gewählten Ausgabenreihe griechischer und römischer Klassiker,
standen die archäologischen und kunstwissenschaftlichen Pracht-
werke sowie, damals noch etwas ungewöhnliches, Bücher der techno-
logischen Literatur. Bald dehnten sich auch die Fächer der Erd-
kunde und Geschichte, der Kriegswissenschaften und der Natur-
356
19. JAHRHUNDERT
Wissenschaften aus, in den letzteren füllten die in ihrer Art auf einen
Höhepunkt gelangten großen Bilderwerke, vor allem die botanischen,
jenen Raum, der noch ein Jahrhundert vorher der Folianten-
gewichtigkeit gelehrter lateinischer Werke vorbehalten wurde. Die
Wendung einer ästhetisch bedeutsamen in eine naturwissenschaft-
lich bedeutsame Zeit wird durch diese ihre Buchvorläufer gekenn-
zeichnet, die als Bildersammlungen in Buchform mit einem früher
und später nicht wieder versuchten Aufwände veröffentlicht wurden.
Gerade ihre, von etwa 1750 bis 1850 reichende Glanzperiode schuf
eine Form kostspieligster Liebhaberausgaben, die in deren Voll-
endung und Vollständigkeit nur wenigen zugänglich waren, zumal
da sich ihr Erscheinen bisweilen über Jahrzehnte ausdehnte. Diese
Staatsbücher im Doppelsinne [denn sie machten nicht nur Staat,
sie ruhten auch auf staatlichen Subventionen, eine Fortbildung der
höfischen Prachtwerke des siebzehnten Jahrhunderts] etwa das
französische Kaiserliche Agyptenwerk, Humboldts Amerikanische
Reisebeschreibung und ähnliche, verlangten ein Bibliophilen-Mäze-
natentum in einem modernen Sinne: die Gewährung erheblicher
Mittel, um die kostspielige Herstellung umfangreich angelegter
Werke ihres wissenschaftlichen Nutzens wegen zu ermöglichen. Sie
wendeten sich an den vornehmen, wohlhabenden Privatmann, der
auch auf die bibliographische Repräsentanz Wert legte wie das
Franz I. Staatskanzler Clemens Fürst von Metternich-Winneburg
[1773—1859] tat, dessen 1907 aufgelöste Büchersammlung nach An-
lage und Ausgestaltung das Muster einer derartig gewählten Privat-
bibliothek zeigte. Allerdings, Franz I. selbst blieb allzu sehr Bücher-
kenner und Bücherliebhaber, um sich damit zufrieden zu geben,
als Kaiser Buchgeschenke zu empfangen oder Buchunternehmungen
zu unterstützen. Von ständigen bibliographischen Studien geleitet,
bestimmte er bis zu seinem Tode die Auswahl seines Bücherschatzes
in allen ihren Einzelheiten und bis 1806 hatte er auch allein dessen
Aufstellung und Ordnung geleitet. Als dann die angewachsene
Büchersammlung einem besonderen Bibliothekar, Thomas Peter
Young [t 1829], anvertraut wurde, verlor ihr Schöpfer trotzdem nicht
seinen engen Zusammenhang mit ihr. Er kannte, eine bei biblio-
357
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OESTERREICH
philen Temperamenten nicht ungewöhnliche Erscheinung, gedächt-
nismäßig genau den Standort der einzelnen Bandgruppen in den
Fächern der vielen Bandtausende, war das lebendige Standorts-
verzeichnis seiner Privatbibliothek. Unter den festlichen Ver-
anstaltungen des Wiener Kongresses von 1814 wiederholte sich für
die bevorzugten Gäste das bibliographische Vergnügen einer Biblio-
theksausstellung, in der der Kaiser die ausgezeichnetsten seiner
40000 Bände und 100000 Bildblätter vorwies. Diese Kollektion
historischer Porträts war aus der Beschäftigung Franz I. mit Kants
anthropologischen und Lavaters physiognomischen Studien ent-
standen, großzügig in Angriff genommen und vermehrt worden.
Ihre bedeutendste Bereicherung brachte 1828 der Erwerb der
Hauptmasse des ikonographischen Materials aus dem Lavater-
nachlasse bei der Gelegenheit des Gräflich Friesischen Konkurses:
22000 Bildnisse in den verschiedensten Griffelkunstverfahren, die
meisten mit eigenhändigen Bemerkungen Lavaters in Hexametern.
Bilder- und Büchersammlung vereinte Franz I. zu einer Fidei-
komißstiftung für die Kaiserliche Familie, in deren Form sie nach
Angliederung weiterer Bestände, so der Privatbibliothek Kaiser
Franz Josefs I., weiter wuchs.
Die Kaiserstadt war im Kongresjahr nicht zur Weltstadt ge-
worden. Die Beschränkungen der biedermeierischen Gemütlichkeit
von Staats wegen erstreckten sich auch auf das Buch; die Ein-
schränkungen des Untertanenverstandes, die ihm die Politik ver-
boten, fanden im Klatsch ein Mittel, sich aus geistigen Spannungen
zu befreien. Vor allem waren es, wie damals auch sonst in den deut-
schen Landen, die Ablenkungen der Bühne, nicht der von strenger
behördlicher Aufsicht geregelten dramatischen Dichtung, die dem
daseinsfreudigen Völkchen der Wienerstadt mit deren einheimischen
Ereignissen zum Vermittler aller Geschehnisse wurde. Buchhandel
und Zeitungswesen, im vormärzlichen Wien von der Zensur ein-
geschnürt, ließen keine Ausblicke in die Weiten jenseits der Grenz-
pfähle zu. Auch auf die Büchersammler und Büchersammlungen
übte das alles einen nicht geringen Einfluß. Es entstand eine Vor-
liebe für die Anekdote und die Memoiren, die, anders als in Frank-
358
19. JAHRHUNDERT
reich, wo sie zu einem Ausdruck der Gesellschaftspsychologie ge-
worden war, hier mehr die Nahrung einer äußerlichen Neugier blieb.
Als lokale Originale angesehen zu sein, war eine Art Ehrgeiz auf den
Wiener Ruhm. Man sammelte Theatralia und Viennensia, ohne
daß dabei meist allzu viel herauskam. Nur einer fest auf sich be-
ruhenden Persönlichkeit, Franz Haydinger, dem „Wirt von
Margarethen" [1797—1876] gelang es, auf solchem Untergrunde
und unter solchen Umständen eine Privatbibliothek aufzubauen,
die etwas bedeutete.
An äußerem und inneren Wert der Haydinger- Sammlung ver-
gleichbar wurde nur die Austriaca- Viennensia- Kollektion des Ger-
manisten und Historikers Th. G. v. Karajan [1810—1873], die
den Hauptbestandteil seiner teils in Leipzig und teils in Wien ver-
steigerten Bibliothek bildete. Und auf dem Gebiete der Theater-
geschichte übertraf sie durch die weitergezogenen Grenzen ihres
stofflichen Umfanges, vor allem jedoch durch ihre methodisch-
systematische Anlage erst die noch bestehende Bücherei des Burg-
theaterleiters Hugo Thimig. Weit mehr abgeschlossen und ab-
seits von den lokalpatriotischen Tendenzen, ohne deshalb deren
eigentliche Werte zu verschmähen, blieben eine Anzahl Liebhaber-
büchereien, die in der Stille anwachsend und eigentlich erst durch
ihre Auflösung bekannter werdend, sich im neunzehnten Jahr-
hundert in Wien bildeten und größtenteils auch wieder zerstreuten.
Daß unter den berühmten Büchersammlern dieses Jahrhundert der
Feldzeugmeister Franz R. v. Hauslab [1798—1883] wenig ge-
nannt wird, ist nicht allein durch seine bescheidene Zurückhaltung
zu erklären. Weder die alte noch die neue Hauptstadt Deutsch,
lands sind jemals für die Büchersammler tonangebende Buchvororte
gewesen. Und dann fehlten der Bibliophilie in Deutschland als einer
allgemeiner anerkannten Vertreterin der Buchpflege bis zum zwan-
zigsten Jahrhundert die nationale Organisation, die sie, wie in Eng-
land und Frankreich, als eine bestimmte Erscheinung der Kultur
und ZiviUsation hervortreten ließ. So löst sich die Betrachtung des
Büchersammelwesens in deutschen Landen fast überall und selbst
da, wo eine Großstadt die Ausbreitung einer Tradition hätte be-
359
OESTEBREICH
günstigen können, in die Bewertung einzelner Sammlungen durch
den weit eher zu einer internationalen Geltung gelangten deutschen
Buchhandel auf. Allzu sehr entbehrte die deutsche Bibliophilie noch
einer von den nationalen Liebhaberwerten ausgehenden Entwick-
lungsrichtung, als daß die großen Sammler des neunzehnten Jahr-
hunderts für sie hätten wegweisend werden können. Zu ihnen ge-
hörte Franz R. v. Hauslaub, dessen Bücherschatz, in einem langen,
reich von Sammlerglück begünstigt gewesenen Leben zusammen-
getragen, sonst einen europäischen Ruf gewonnen hätte. Vielleicht
hätte die Auflösung dieser kostbaren Privatbibliothek den Namen
ihres Begründers berühmt werden lassen. Sie blieb aber, vom
Fürsten Johann IL Lichtenstein erworben und den Bücher-
sammlungen seines Hauses zu Wien, Feldberg usw., die nach ihrer
Art und Bedeutung eher den öffentlichen als den privaten Biblio-
theken zu vergleichen sind, einverleibt, in ihrem Bestände erhalten.
Doch auch der Katalog, der sie als ein Ganzes gekennzeichnet hätte,
blieb ihr versagt.
Daß auch Joseph Freiherr von Hammer- Purgstall
[1774—1856], der Orientalist, der auf die Ausstattung, seiner eigenen
Bücher die größte Sorgfalt verwendete, das Verzeichnis seiner Bücher-
sammlung nicht herausgab, ist um so mehr zu bedauern, weil dieser
Bibliophile es liebte, die abendländische und die morgenländische
Bücherliebhaberei in seiner Buchpflege zu vereinen und sein Katalog
vielleicht zu einer sehr ersprießlichen Anregung geworden sein würde,
die Bibliophilie des Okzidents und die des Orients vergleichend zu
studieren. Ein Bericht August Lewaids aus dem Jahre 1856 er-
öffnet einen Einblick in das Bücherzimmer des Freiherrn. „Ein
Freund führte mich in das Vielen bekannte von Henniksteinsche
Haus in der Kärntnerstraße, wo der berühmte Orientalist wohnte,
dessen Gattin eine geborene von Hennikstein gewesen. Wir trafen
Hammer in einem großen Gemach, das seinen Bücherschatz ent-
hielt und als Arbeitszimmer diente. Die Bücherschränke waren nach
verschiedenen Richtungen aufgestellt und bildeten Gassen, in denen
man sich frei bewegen konnte. Sie waren aus künstlerisch geschnitz-
ten und vergoldeten Palmbäumen gebildet, und ein jeder enthielt
360
19. JAHRHUND ERT
an einer Art von Frontispiz eine arabische Inschrift/* Nach dem
Abschlüsse seiner osmanischen Geschichte hatte Freiherr von Harn*
mer-Purgstall die 200 historischen Manuskripte, die er hierfür im
Orient gesammelt, für deren Ankaufspreis der Wiener Hofbibliothek
überlassen und die anderen 412 Handschriften — 100 von ihnen
hatte er mit einem Kostenaufwande von 450 Gulden, um sie gegen
Wurmfraß zu schützen, in Zedernholz binden lassen — gelangten nach
seinem Tode ebenfalls in die Hofbibliothek. Die von ihm hinter-
lassene Druckwerksammlung, ausgezeichnet in den Fächern der
Linguistik und orientalischen Literaturen erwarb die Leipziger Uni-
versitätsbibliothek 1857 für 10000 Gulden. Sie kam, in fünfzig
Kisten verpackt, Anfang 1858 nach Leipzig, und enthielt nach Aus-
scheidung der in der Universitätsbibliothek schon vorhandenen
Werke noch etwa 9000 Bände.
Verlockend waren allerdings im vormärzlichen Wien die für die
Drucklegung eines Liebhaberbüchereiverzeichnisses zu machenden
Voraussetzungen nicht gewesen, weder für dessen Aufnahme noch für
dessen Ausführung. Der Altbuchhandel in Osterreich und Ungarn war
durch mancherlei Widerstände [,Antiquariats*- und ,Sortiments*-
Streitigkeiten um die Auslegung der Buchhändlerprivilegien, Bücher-
zoll, Konzessionszwang, Zensur] an seiner AusbildunS noch die erste
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hindurch vielfach behindert, das
Antiquariat dem minderwertigen Büchertrödel gleichgestellt worden.
Während man in Wien noch aus Brotneid um die Gewerbegrenzen
stritt, hatte der Altbuchhandel in anderen Ländern bereits seine
ebensosehr kaufmännisch wie wissenschaftlich anerkannten führen-
den Vertreter; ein Zustand, der für die Abhängigkeit der damaligen
Büchersammler deutscher Lande in manchen nicht unwichtigen Be-
ziehungen [Antiqarisch - bibliographische Terminologie, Biblio-
philie-Moden, Liebhaberwerte, Sammlergewohnheiten] kennzeich-
nend ist. 1852, bei den Vorarbeiten für ein neues österreichisches
Handelsgesetzbuch, erklärte die Handelskammer in Wien, daß als
Fondsausweis für die Bewerber um eine Buchhandlungsbefugnis in
der Kaiserstadt 10000 fl. C. M., für die um eine Antiquarbuchhand-
lungsbefugnis 4000 fl. C. M. als genügend angemessen zu erachten
361
OESTERREICH
seien. Die Behinderungen durch Zensur und Zunftzwang beschränk-
ten die Antiquariats Vertriebsformen auf ein Mindestmaß. Die Ver-
öffentlichung eines Bücherverzeichnisses war der vielen politischen
Bücherverbote wegen im vormärzlichen Wien ein Wagnis, weil nicht
allein die konfiskablen Bücher konfisziert wurden, sondern auch die
sie ausbietenden Kataloge, und der für diese verantwortliche Antiquar
in Strafe genommen wurde, wie 1847 Ignaz Klang, der zu 200 fl.
C. M. Geldstrafe nebst einmonatlichem, allerdings erlassenen, Haus-
arrest verurteilt wurde, da sein Antiquariatskatalog u. a. einige der
Moderomane von E. Sue verzeichnet hatte. Auch dieser Zensur-
strenge erklärt es sich, daß bis etwa 1850 nur sehr wenige Anti-
quariatskataloge in Wien erschienen sind. Man begnügte sich damit,
Neuerwerbungen in der Kaiserlichen Wiener Zeitung zu inserieren
und die Sonderdrucke solcher Anzeigen als Bücherpreislisten zu ver-
werten. Ähnlich wirkten die „Gewerbsgränzen^-Schranken. Kupfer-
stiche und Landkarten, die nicht fester Bestandteil eines Buches
waren, durften ausschließlich von Kunsthändlern vertrieben werden.
Noch 1854 mußte der eben genannte Antiquar Ignaz Klang die
Kühnheit, einen alten Homannschen Atlas, ein Kartenwerk ohne
Text, in das Schaufenster gestellt zu haben, mit 20 fl. C. M. Geld-
strafe und dem Konfiskationsverlust des Bandes bezahlen. Erst seit
dem Weltausstellungsjahr 1873 bekam der Altbuchhandel in Wien
[wo 1788 - 5, 1830 - 10, 1849 ~ 12, 1870 - 18, 1900 - 40,
1909 — 59 Antiquariate bestanden] eine internationale Geltung,
die vor allem die Firma Gilhofer & Ranschburg [1884] mit den von
ihr geleiteten Versteigerungen gewann. In den übrigen Städten
der österreichischen Kronländer war, mit Ausnahme von Prag
[wo die 1783 begründete Firma Taussig ihren Vorrang wahrte],
das Antiquariat bedeutungslos; wie der Buchhandel überhaupt, da
bis 1848 das Bestehen von Buchhandlungen nur in den Provinz-
hauptstädten und den sogenannten Kreisstädten erlaubt war, so
daß sich im ganzen Österreich- Ungarn des Vormärz [mit Ausnahme
von Wien, doch einschließUch des venetianischen Königreiches]
kein halbes Hundert Buchhandlungen aufzählen ließ. Einen Auf-
schwung, den die erleichterte Bewegungsfreiheit des Buches er-
362
19. JAHRHUNDERT
laubte, nahm seit den siebziger Jahren auch die Bücheriiebhaberei
und das Büchersammelwesen. Es entstanden Bibliophilenbiblio-
theken, die sich wieder mehr nach der internationalen Bibliophilie-
mode orientierten, nicht nur in Wien, sondern auch in den anderen
österreichischen Staaten. Adalbert Freiherr von Lanna
[1836—1909], in Prag ein Mann ungewöhnlicher Sammlerbegabung
und ungewöhnlichen Geschmackes, verstand es, die bibliographischen
Cimelien seinen sonstigen Schätzen einzufügen, Eduard Langer
[1852—1914] in Braunau i. B., die mustergültige Organisation einer
Privatbibliothek größeren Umfanges [25000 Bände mit 500 Wiegen-
drucken, 6000 Einblattdrucke, 800 Handschriften] festen wissen-
schaftlichen Zielen, zumal der Erforschung der Frühdruckgeschichte
Österreichs, anzupassen. Buchkunst der Gegenwart und Buchkunst-
geschichte sind in manchen österreichischen Privatbibliotheken
neuerer und neuester Zeit, auch die Auflösung einiger dieser Lieb-
haberbüchereien bewies das, mit Erfolg und Verständnis gepflegt
worden. Welche Wendung im zwanzigsten Jahrhundert die Biblio-
philie der Republik Österreich aber auch nehmen wird, die Verluste,
die ihrem öffentlichen Büchersammelwesen dadurch entstanden sind,
daß die alten Bestände der größten öffentUchen Bibliotheken teil-
weise aufgelöst werden mußten, um dorthin zurückzukehren, von
wo sie vor Jahrhunderten nach Wien gekommen waren, werden nicht
leicht zu überwinden sein. Denn es handelt sich hierbei ja nicht ledig-
lich um eine Rückgabe wertvollsten Büchergutes. Sehr viel schwerer
wiegt die Auffassung, der die Bestimmungen dieser Rückgabe-
leistung entsprangen. Die Auffassung, daß selbst die Büchersamm-
lungen eines Staates als Bücherschutzstätten, die Dauer haben, nicht
gelten sollen.
363
VI. SLAVIEN UND SKANDINAVIEN
Die Ausbildung einer magyarischen Nationalliteratur konnte na-
tionale Privatbibliotheken erheblicheren Umfanges in Ungarn
erst mit ihrer Ausbreitung seit dem Ende des achtzehnten Jahr-
hunderts ermöglichen. Dazu war lange das Lateinische Umgangs-
sprache gebildeter Ungarn geblieben; hatten die Beziehungen zu
Wien, dem Wohnsitz des Königs, und die durch ihn geschaffene Ver-
bindung mit der österreichischen Monarchie dem deutschen Buche
Anerkennung in Ungarn verschafft; waren die Nachbarschaft
Slawiens und der bei solcher Vie'sprachigkeit sich ohnehin ergebende
Einfluß der französischen Verkehrssprache in den vornehmen
Kreisen weiterhin bestimmend dafür, daß die Büchersammlungen
Ungarns sprachlich von nicht geringer Verschiedenartigkeit werden
konnten, ohne trotzdem ihre nationale Tendenz zu verlieren, die sie
vor allem in ihren geschichtswissenschaftlichen Grundlagen suchten.
Das allmähliche Anwachsen der magyarischen Literatur bedingte
dann in den Privatbibliotheken Ungarns deren Eingrenzung auf
ihr eigenes Sprachgebiet; eine Erscheinung, die für alle kleineren
europäischen Literaturen gilt. Aus dem Umkreise der in den Be-
zirken einiger führender europäischer Sprachen verbleibenden Biblio-
philie verschwinden selbst die angesehenen Büchersammlungen der
kleineren Staaten und Völker mehr oder weniger, soweit sie nicht
auch bibliographisch und linguistisch internationalen Ranges sind.
Das pflegt bei einer Betrachtung der Bücherliebhaberei und der
Liebhaberbüchereien in diesen Ländern oft ein falsches Bild für den
ihnen Fernerstehenden zu ergeben, weil er gerade die ihnen eigen-
artigen Wesenszüge nicht erblickt und sie auch erst dann richtig
erkennen könnte, wenn er nicht allein den Bibliotheken, sondern
auch den Literaturen, die sie repräsentieren, eine erhöhte Aufmerk-
samkeit zuwenden würde. —
Der Bibliophile hatte eine Hochburg an seinem glänzenden
Hofe in Ofen König Matthias Corvinus [1458—1490]* errichtet.
Uberschwänglich feiert eman im humanistischen Italien den ,cultus
librorum luxuriosissimus', den er trieb, denn er sparte nicht mit
364 *Abb. 252— 255
UNGARN
seinen Aufträgen an die florentinischen Handschriftenverleger und
ließ sich von Vespasiano di Bisticci eine Büchersammlung zusam*«
menstellen. Doch auch in seinem eigenen Lande verstand er es,
dem Buchgewerbe, das er ins Leben rief, ein Mäzen zu werden.
Lebten und sammelten doch auch in Ungarn Bibliophilen-Huma-
nisten wie Johann Vit6z. Daß die Bibliotheca Corvina in ihrer
Zeit eine der hervorragendsten Liebhaberbüchereien war, dafür sind
ihre Prachtbände noch heute gewichtige Zeugen. Aber die mancher-
lei späteren Nachrichten übertrieben ihren Umfang und ihren inneren
Wert. Nach der unglücklichen Schlacht bei Mohöcz [1526] wurde
die etwa 1000 bis 1500 Bände zählende Büchersammlung eine
Kriegsbeute der Türken und zerstreut. Schon König Wladislaus IL
hatte in seiner Geldnot und Machtlosigkeit den ererbten Schatz
weder vermehren noch wahren können seine kostbarsten Stücke
an die Gesandten verpfändet oder verschenkt. Heute ist die Cor-
vinus-Sammlung bis auf kärgliche Überreste verloren oder aus der
Blick weite der Geschichtsschreibung verschwunden.
Dem Beispiel des Königs Corvinus folgten in den späteren Jahr-
hunderten die Magnaten, die große Privatbibliotheken anlegten, so
die Fürsten Esterhdzy in Eisenstadt. Graf Samuel Teleki
hatte 1795 auf seinem Schlosse in Maros-VäsÄrhely eine der aus-
gezeichnetsten Bibliophilenbibliotheken, Graf Franz von Sze-
chenyi legte 1802 mit der Stiftung seiner ausgedehnten Bücherei
den Grundstock der dem Ungarischen Nationalmuseum ange-
gliederten Landesbibliothek. Um das Jahr 1800, als die Bemühungen
der in Wien lebenden Gardisten eine neue Blütezeit des magyarischen
Schrifttums wachriefen, kam die Bücherliebhaberei ebenfalls zu
einer erneuerten Anerkennung. Die Martin Georg Kovachich
[1743-1821], Nikolaus Jancovich [1773-1846], Martin Georg
^^gy» dessen Handschriften und ungarische Wiegendrucke der
ungarische Staat für 125000 Gulden ankaufte, Ludwig Parkas,
Stefan Nagy, Kardinal und Fürstprimas von Ungarn Johann
Simor [1813—1893] in Gran, Domprobst Josef Dankö [1829
— 1894] in Preßburg mühten sich, mit Gelehrsamkeit und Ge-
schmack ihre Privatbibliotheken auszustatten. Aus allen diesen
365
BÖHMEN
Sammlungen gelangten wertvollste Bestände in die öffentlichen
Bibliotheken Ungarns. Die große Hungaricakollektion des Senats-
präsidenten Georg von Räth kam in den Besitz der Königlich
ungarischen Akademie der Wissenschaften. Eine ähnliche bedeutende
Bücherei, die er durch ein vortreffliches Katalogwerk zugänglich
werden ließ, hatte Graf Alexander Apponyi sich erworben.
Und neben den eigentlichen Liebhaberbüchereien des neunzehnten
Jahrhunderts, den Sammlungen Josef Agoston, Gustav von
Emich, Graf Stefan Keglevich, Ferdinand Knauz, Etzel
von Szemere ließen die alten Familienbibliotheken der Grafen
Karolyi, Karätsonyi, Zichy, Teleki, Szechenyi, Vigyazö
und anderer es sich angelegen sein, für die Buchpflege in Ungarn zu
wirken. —
Kaiser Karl IV. aus dem Hause Luxemburg hatte 1348 die erste
deutsche Universität in Prag gegründet und bald [1336] ist mit ihr
auch eine Universitätsbibliothek verbunden gewesen. Die alte
Karolinische Bibliothek blieb bis 1555 erhalten, in welchem Jahre
sie die Jesuiten übernahmen und im Dominikanerkloster St. Clemens,
dem Clementinum, unterbrachten, sie vermehrend. Als dann 1638
Kaiser Ferdinand IH. die Universität wiedel* der jesuitischen Leitung
entzog, entstand auch eine neue Universitätsbibliothek, die 1773,
nach der Aufhebung des Jesuitenordens, mit der früheren vereinigt
und dazu erheblich aus den Klosterbibliotheken vergrößert wurde.
Andererseits hatten die Hussitenkriege, hatte der Bücherraub der
Schweden im Dreißigjährigen Kriege bedauerliche Verluste den
älteren und ältesten Beständen gebracht. An diesem Beispiel der
Prager Universitätsbibliothek, das sich bis in unsere Gegenwart
weiter verfolgen ließe, ist die Bibliophilieentwicklung in Böhmen,
wo von Nürnberg her über Pilsen und Prag zwischen 1470 und 1480
der Buchdruck eingeführt worden ist, zu erklären. Sie ist bisher nie,
obschon es weder an reich und reichhaltig ausgebauten Familien-
bibliotheken fehlte, obschon die Büchersammlungen mancher Klöster
und Stifte sehr umfangreich und wertvoll geworden sind, obschon
auch bedeutendere Privatbibliotheken entstanden und vergingen, zu
einer eigenen Gestaltung gewachsen; nicht zum wenigsten deshalb,
366
POLEN
weil auch in den Büchersammlungen das deutsche und das
tschechische Element einander widerstrebten, jenes zu keiner selb-
ständigen Auswirkung im Buchwesen kam, dieses sich dem deutschen
Buchwesen einschloß. —
Kasimir der Große hatte im Königreich Polen 1364 in Krakau
eine Universität gegründet, die aber erst 1400 von Ladislaus
Jage Ho ausgebaut worden ist. Damals ist ihr auch die Jagelloni-
sehe Bibliothek verbunden worden. Zwar ermangelten die Edelsitze
und Gelehrtenstuben Polens in den späteren Jahrhunderten nicht der
Büchereien, aber die staatlichen Verhältnisse und Verwicklungen
waren dem Aufbau größerer Büchersammlungen oft wenig günstig,
die in der Ausbreitung einer Volksbildung keine Stützpunkte finden
konnten. So sind denn auch die bedeutenderen polnischen Privat-
bibliotheken meist die Familienbibliotheken der alten führenden
Geschlechter gewesen, die, obschon den westlichen Zivilisationen zu-
geneigt, ihnen einen nationalpolnischen Charakter, der die polnischen
Traditionen verkörperte, zu verleihen strebten; während die Biblio-
philenbibliotheken einer internationaleren Orientierung sich eben-
falls weit mehr nach dem Westen, insbesondere nach Frankreich hin,
als nach einer allgemeineren slawischen Richtung weiteten.
Arbeitskraft und Bücherleidenschaft, Gelehrsamkeit und Ge-
schicklichkeit, gerichtet auf ein hohes Ziel, vereinten sich in dem
berühmtesten Bibliophilen Polens, dem Kronreferendar und späteren
Bischof von Kiew, Josef Andreas Zaluski [1702-1774].* Mit
achtzehn Jahren hatte er bereits 13000 Bücher gesammelt. Während
er sie, Gelegenheiten und Reisen nutzend, unablässig vermehrte,
versuchte er gleichzeitig die Herstellung einer vollständigen polni-
schen Bibliographie So hat er ebenso als Bücherforscher wie als
Büchersammler die Inventarisierung der polnischen Literatur vor-
genommen, ehe es dafür zu spät wurde; immer von dem Gedanken
getrieben, in seiner Bibliothek einen Mittelpunkt des geistigen Le-
bens seines Volkes zu schaffen. Und das alles gegen die ihm überall
in dem verfallenden Königreiche sich entgegensetzenden Wider-
stände. Indessen er sich bemühte, von einem außerordentlichen Ge-
dächtnis unterstützt, in die Büchermassen Ordnung zu bringen, Ver-
♦ Abb. 256 367
BUSSLAND
zeichnisse herstellen zu lassen, Mitarbeiter auszubilden, ungedruckte
Werke zu veröffentlichen, einen Plan zu verwirklichen, nach dem in
Warschau eine Akademie seiner Bibliothek angegliedert und eine
Universität ihr verbunden werden sollten, fand er nur geringe Teil-
nahme. Die Benutzung seiner dem allgemeinen Gebrauch eröffneten
Sammlung blieb weit hinter seinen Erwartungen zurück, dafür
kamen die Diebe in um so größerer Zahl. Seine eigenen Mittel ver-
sagten und die des Staates versagten sich ihm. Zwar gelang es ihm
noch, ein Gebäude für die Sammlung, die 1774 rund 230000 Bände
sowie 11000 Handschriften zählte und auf 3000000 Gulden ge-
schätzt wurde, zu finden, aber die ihn treffende Verbannung nach
Kaluga ließ sie verwahrlosen. Nach ihres Begründers Tode in den
Besitz des Staates übergegangen, der das kostbare Vermächtnis an
das polnische Volk nicht zu wahren wußte, wurde sie 1794 eine Beute
der Russen. Ein Befehl der Kaiserin Katharina II. ließ sie nach
Sankt Petersburg überführen, wobei ein Fünftel des Zaluskischen
Bibliothek gestohlen, verloren, vernichtet wurde, indessen der Über-
rest größtenteils den Grundstock der Kaiserlichen öffentlichen Biblio-
thek in der Hauptstadt Rußlands legte, deren Bau auf dem Newski
Prospekt 1801 fertig wurde und ihn aufnahm.*
Das Buchwesen in dem gewaltigen, Abend- und Morgenland ver-
einigenden Reiche Rußland hatte keine einheitliche Entwicklung und
könnte sie auch nicht haben. Und selbst in dem Bereiche des euro-
päischen Rußland und des russischen Schrifttums hatte diese Ent-
wicklung die stärksten Hemmungen zu überwinden; Hemmungen,
die ebenso in der langsamen Ausbildung einer autorisierten russischen
Schriftsprache und mit ihr eines russischen Schrifttums und eines
russischen Bildungsbegriffes vorhanden waren wie in dem politischen
Zwange, den die Regierung bis in das zwanzigste Jahrhundert übte.
Das russische Buchwesen ist bis dahin niemals frei geworden, es stand
unter geistlicher und staatlicher Vormundschaft. Das aber übte
wiederum auch seinen Einfluß auf das Buch selbst, das seine höchsten
Liebhaberwerte oft als Schmuggelware fand — denn ein Teil der
russischen Literatur wurde ja auch im Auslande gedruckt — und
erfüllte den Leser mit einiger Gleichgültigkeit gegen das Buch, die
368 *Abb.a57.2S8
RUSSLAND
sich sogar auf den Sammler übertrug. Wozu noch hinzukam, daß die
Gebildeten und Vornehmen die ,westliche Kultur* bevorzugten und
vor allem dem französischen Buche huldigten. So fehlte der Biblio-
philie des europäischen Rußland lange der nationale Zug, den sie erst
erhielt, als die älteste russische Druckgeschichte durchforscht wurde;
die Literatur Rußlands eine anerkannte selbständige Stellung in der
europäischen gewonnen hatte. Zwar hatte schon Sweybold Veyl in
Krakau 1491 die ersten slawischen Bücher gedruckt, aber das Buch-
wesen Rußlands fand doch erst einige Festigung, als der Zar Iwan
der Schreckliche aus politisch-religiösen Gründen 1563 die erste
Druckerei Rußlands, die Moskauer Synodaldruckerei, gegründet
hatte. Immerhin sind, nach W. P. Ssemennikow, bis zum Ende des
achtzehnten Jahrhunderts nur etwa 10000 Bücher in Rußland ge-
pruckt worden, die größtenteils populäre, praktische und religiöse
Schriften, dazu Übersetzungen, verbreiteten. Im neunzehnten Jahr-
hundert entwickelten sich Druckwesen und Verlag freier, auch die
Ausstattung der Bücher fand weitergehende Beachtung und führte
bis zu den Liebhaberausgaben. Bereits am Anfange dieses Jahr-
hunderts gab der Gönner der russischen Geschichtswissenschaft,
N. Rumjanzew [1754—1826] in den 27 auf seine Kosten und unter
seiner Mitwirkung veröffentlichten Werken Beispiele einer Biblio-
philen-Buchpflege, die schon in einigen Prachtwerken des achtzehnten
Jahrhunderts Vorgänger gehabt hatte. Seine Bücherei und seine
anderen wissenschaftlichen Sammlungen hinterließ er als eine Stif-
tung, aus der das 1861 nach Moskau verlegte Rumjanzewsche Mu-
seum entstanden ist.
Die Belebung des Büchersammelwesens, die im achtzehnten
Jahrhundert vielfach einem äußeren Zwange folgte — der Kaiser-
liche Hofbuchhändler Klostermann verkaufte die mit dem Zollstock
abgemessenen Bandreihen für 50 bis 100 Rubel, je nach dem Ein-
bände, an die, die sich rasch auf einen Besuch der Kaiserin Katha-
rina einzurichten hatten — gewann im neunzehnten ihre innere
Kraft aus dem nationalen Selbstbewußtsein. Seit dem Anfange
des achtzehnten Jahrhunderts bildeten sich Büchereien, die sich
als Sammlungen nach strengerem System zusammenschlössen, so
300ENa 24 369
DANEMARK
die der Geistlichen Pitirim, des heiligen Innocenz von Irkutsk
und Afanassjis Kondoidi. Auch die Privatbibliotheken weltlicher
Buchfreunde wurden nun häufiger. Der Zarewitsch Alexei,
Generalfeldmarschall Bruce, Graf A. Matwejew und besonders
Fürst D. Golyzin, dessen Sammlung schon 6000 Werke zählte,
sind die ersten angeseheneren russischen Bibliophilennamen. Aber
die nationale Richtung der russischen Bibliophilie ist doch immer
mehr oder minder mit einer internationalen verbunden gewesen«
Eine ganze Anzahl der größten russischen Liebhaberbüchereien ist
im Auslande entstanden und auch im Auslande wieder zerstreut
worden. Diejenigen, die streng russisch blieben, konnten einen
rechten Zusammenhang mit den Literaturen des Westens nicht
finden, hatten der Eigenart des älteren russischen Schrifttums wegen
einen primitiven Charakter. Hier gab es erst durch die Wechsel-
wirkungen zwischen den anderen europäischen Literaturen und der
russischen, dieam Ende des neunzehnten Jahrhunderts sich ver-
stärkten, Ausgleichungen. Dafür mag die Büchersammlung des
Grafen Leo N.Tolstoi ein Beispiel sein mit ihrem Bücherbunterlei.
In ihr sammelte zum ersten Male ein russischer Schriftsteller in
den Reihen der Übersetzungen seiner Werke Weltruhm, mochte er
selbst am Ende seines Lebens ihn auch verachtet haben. —
Die Anfänge der Bibliophilie in den skandinavischen Staaten
führen auf Deutschland zurück, von hier aus kam der Buchdruck
nach dem Norden. Aber auch die geistigen Strömungen, hervor-
gerufen durch die Bewegung der Reformation, die seit der Hansezeit
sich ausbildenden ökonomischen und politischen Wechselbeziehungen,
machten die deutschen Nachbarstaaten zum natürlichen Vermittler
zwischen Skandinavien und Westeuropa, indessen der Einfluß Eng*
lands durch Handel und Schiffahrt zurückwirkte. Diese Kosmopolit
tat, frühzeitig neben der Internationalität der Wissenschaften, die
auch Skandinavien in das gelehrte lateinische Universalreich ein-
bezog, sich ausbildend, begann seit dem Erstarken der dänisch-
norwegischen und der schwedischen Nationalliteratur zwar allmäh*
lieh in den drei Königreichen der Vormachtstellung ihres eigenen
370
17. JAHBHUNDEBT
Schrifttums zu weichen. Indessen blieben doch bis in das neunzehnte
Jahrhundert hinein andere Länder sowohl im Buchwesen wie in
der Literatur für Skandinavien mit tonangebend; die allgemeine
literarische Bildung war weit weniger beschränkt als die größerer
Völker, war mehrsprachig; ein Zug, der sich deutlich auch in den
Büchersammlungen ausprägte.
Die Umwandlung der alten katholischen Kirchen- und Kloster'*
bibliotheken in die neuen reformierten weltlichen hatte sich in
Dänemark, entsprechend seiner ganzen Reformationsbewegung, ver-'
hältnismäßig ruhig vollzogen. In Kopenhagen hatte König Christian I.
im Jahre 1479 die Universitätsbibliothek errichtet, die auch mit nord-*
deutschen Privatbibliotheken, so teilweise denen von J, A. Fa*
bricius und Reimarus vermehrt, aber [1728] durch einen Brand
geschädigt worden war. Und die von König Friedrich III. [1640
—1679] gegründete Königliche Bibliothek konnte durch die Auf«»
nähme einer Anzahl bedeutender Bibliophilen- und Familienbiblio'»
theken, unter denen die Büchereien Danneskjold-Samsoe, Gottorp,
Moldenhawer, Rostgaard, Thott, Suhm die. hervorragendsten waren,
ihr äußeres und inneres Wachstum erheblich beschleunigen.
Die Büchersammlungen Dänemarks im sechzehnten und sieb^
zehnten Jahrhundert wahrten noch ihren gelehrten Charakter. Die
Verbindung der Reformatorenbibliotheken mit der deutschen Re-
formationsliteratur, ihr Gehalt an lateinischen theologischen Werken
erschienen selbstverständlich, ebenso selbstverständUch blieb noch
in der Fachgelehrsamkeit die lateinische Sprache. Ein Tycho
Brahe [1546—1601],* der auf seiner Astronomeninsel Hven den
Betrieb eigener buchgewerblicher Werkstätten neben dem der großen
Sternwarte eingerichtet hatte und dessen Bücherei nun überallhin
zerstreut ist, wendete sich mit seinen Veröffentlichungen ebenso an
ein internationales Publikum wie er ihre Dedikationsexemplare, die
er kostbar ausstatten ließ, an seine Gönner in aller Herren Länder ver-
schickte. Ähnliche Verhältnisse bestanden ja auch noch in den ande-
ren Ländern, deren Literatur schon einen erheblichen Umfang und
Wert gewonnen hatte, deren Sprache sehr viel weiter galt als die
dänische. Im Auslande kamen auch die dänischen Diplomaten und
«4- *Abb.259,26o 371
I
DANEMARK
Kavaliere auf den Geschmack ihrer Liehhaberbüchereien. Just
Hoeg in Fultofte [1640—1694], der spätere Vizestatthalter von Nor-
wegen, sammelte die 5000 Bände seiner 1695 in Kopenhagen ver-
steigerten Bücherei als Gesandter in Nimwegen [1676—1679] und Paris
[1679—1681], der Geheime Rat Friedrich Walter [1649—1718], der
im Hofdienste 1708 bis 1709 den König Friedrich IV. nach Italien be-
gleitet hatte, stellte in dem Bändetausend seiner 1719 in Kopenhagen
unter den Hammer gekommenen ausgewählten Bücherei das Muster
einer auch durch die Einbandliebhaberei verfeinerten Buchpflege auf.
Am Anfange des achtzehnten Jahrhunderts gab es manchen
dänischen Buchfreund — [und sogar eine Bücherliebhaberin, Karen
Brahe, die eine von Anne Gjee ererbte, jetzt in Odense befindliche,
Bücherei systematisch durch dänische Drucke und Handschriften
vermehrte] — vornehme und wohlhabende Büchersammler wie den
Grafen Johan Ludvig Holstein-Ledreborg [1694—1763], der
eine Bücherei von 20000 Druckwerken, Flugschriften, 600 Hand-
schriften als Familiengut hinterließ, das 1812 durch eine Auktion
verkleinert wurde, oder den Grafen Christian Danneskjold-
Samsae [1702—1728], dessen 7500 Bände Druckwerke und 522 Hand-
schriften bergende Büchersammlung 1732 aufgelöst wurde. Dazu Ge-
lehrte, deren Privatbibliotheken nach Auswahl und Umfang wichtig
wurden, wie Niels Foß [1670—1751], dessen 12000 Bände meist histo-
rische und philologische Werke bargen, oder den Geheimrat Johan
Theodor Holmskjold [1731—1793], der 6000 Bände naturwissen-
schaftlicher Schriften zusammenbrachte, oder den Prediger der
deutschen reformierten Gemeinde Johan Lebrecht Stubenrauch
[1707 — 1776], dessen Beschäftigung mit antiquarisch-bibliographi-
schen Studien ihm zu einer ausgewählten Liebhaberbücherei verhalf.
Auch die Repräsentationsbibliotheken fehlten nicht. So hatte der
Graf Johan Hartwig Ernst Bernstorff [1712—1772] 1744 bis
1750 sich in Paris eine Privatbibliothek im noblen Stil zu schaffen
gewußt, die er nun in der Heimat erweiterte. Und mancher andere
Bibliophilenname ließe sich hier noch anführen. Die wichtigste
Sammelarbeit dieses Zeitraumes leistete jedoch ein Isländer, Arni
Magnussen [1663—1730], der von 1702 bis 1712 auf seiner Insel die
372
18. JAHRHUNDERT
jetzt in der Königlichen Bibliothek zu Kopenhagen aufbewahrte, als
arnemagnäanische Bibliothek vielgenannte, großartige Sammlung
altisländischer Handschriften zustande brachte.
Die bedeutenden Büchersammler Dänemarks, die in der zweiten
Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts hervortraten, fanden in dem
Buchfreunde und Büch«rkenner B. W. Luxdorph ihren Führer.
Amtliche und persönliche Beziehungen verbanden ihn mit dem
Grafen Otto Thott,* einem der größten Gutsbesitzer des Landes,
den er oft auch in Tiltaelde besuchte, wo dessen Privatbibliothek
aufgestellt war, die mit ihren wertvollsten Beständen, den alten
Drucken [bis zum Jahre 1530 6059 Bänden] und den Handschriften
durch ein Vermächtnis des Sammlers der Königlichen Bibliothek
in Kopenhagen zufiel, die außerdem in den verschiedenen Thott-
auktionen noch rund 50000 Bände erwarb. Auf seinen Auslands-
reisen hatte Graf Thott die Begründung seiner Büchersammlung,
die durch den Kopenhagener Brand von 1728 erheblich vermindert
wurde, begonnen gehabt. Sie ist dann aber schließlich doch bis zu
ihrer endgültigen Aufstellung, die der Büchersaal im Kopenhagener
Palaste des Grafen am Kongens Nytorv zeigte, auf 138000 Bände
vermehrt worden, die nach seinem Tode größtenteils in den Auk-
tionen der Jahre 1789—1795 zerstreut worden sind. Auch die
100000 Bände der Bücherei des Historikers Peter Frederik
Suhm [1728-1798] gelangten 1796 für 10000 Rdl. an die gleiche
Stelle. Das Ergebnis einer halbhundertjährigen Sammlertätigkeit,
konnte sich ihr innerer Reichtum freilich nicht mit dem der Biblio-
theca Thottiana messen. Aber auch Suhm hatte für ihre Ver-
mehrung viel aufwenden können und auch er hatte es nicht ver-
säumt, wenn er aus Norwegen nach Kopenhagen kam, sich mit
Luxdorph zu beraten. Weit wohlhabender als Luxdorph war auch
der dritte seiner Gesinnungsgenossen und Mitsammler, Henrik
Hielmstierne [1715—1780],* der ihm am nächsten stand. Dem
Amtskollegen befreundet, verband ihn mit Luxdorph die ähnliche
Geschmacksrichtung, die auf die Qualität, nicht bloß auf die Quanti-
tät ihrer Bibliotheken ausging. Hielmstierne, der Sohn eines in
Kopenhagen zu Ansehen gelangten isländischen Kaufmanns, hatte
* Abb. 261, 262 373
DANEMARK
von einem längeren Aufenthalte in Straßburg, Paris und London
[1740—1742] eine Erziehung zur Bibliophilie heimgebracht, die er
im nationalen Sinne auszunutzen wußte. In glücklichen Verhält-
nissen lebend, nahm er als Geheimer Rat 1771 unter Struensee
seinen Abschied aus dem Staatsdienste, nicht unbedeutend auf dem
Gebiete der Wissenschaften — er gehörte äeit ihrer Gründung der
Videnskabernes Selskab und der Danske Selskab an — konnte er die
Aufgabe lösen, einen Bücherschatz zusammenzubringen, der wie
kein zweiter bis dahin dänische Drucke in ihrer Vollständigkeit einer
Privatbibliothek einfügte. Darauf bedacht, ausgesuchte Stücke zu
erwerben, scheute er keine Kosten und Mühen, defekte Exemplare
zu ergänzen. Fehlendes nachbilden zu lassen; kurz, er leistete eine
Sammlerarbeit, die in ihren Zielen sich mit denen der späteren
Germanistik und skandinavischen Philologie begegnete. Mit seiner
Bibliophilenbibliothek, die seine Tochter, Gräfin M. G. Rosencrone,
der Königlichen Bibliothek stiftete, erreichte er neben seinem Freunde
Bolle Willum Luxdorph [1716—1788] den Höhepunkt der
Bücherliebhaberei und Buchpflege Dänemarks im achtzehnten
Jahrhundert. Denn diese Bibliophilen um Luxdorph, unter denen
Jacob Langebek ebenfalls die ehrenvollste Erwähnung verdient,
waren nicht lediglich Bücherjäger und Bücherkenner in der Ver-
gangenheit; sie verweilten ebenso gern in der Gegenwart, mühten
sich, die Ausbildung der Buchkunst und in Verbindung mit ihr die
nationale Schrifttumspflege zu fördern, legten Wert darauf, ihren
Namen in den Subskribtenlisten neuer Prachtwerke zu finden, ohne
deshalb Unscheinbareres zu vergessen. Luxdorph hat eine in 25 Bände
gebundene Reihe von 500 der sogenannten, in den Jahren 1771
bis 1775 veröffentlichten, Druckfreiheitsschriften zusammengetragen
— Dänemark war der erste Staat gewesen, der, am 14. September
1770, die Preßfreiheit einführte und die Zensur aufhob — Tages-
blättchen, die damals kaum verwahrt wurden und heute kaum
wiederzufinden sind. Die Hoffnung, die sich in einer anderen von
ihm angelegten Sondersammlung aussprach, die er ,Icones Longue-
vorum* nannte und in der er schließlich 729 Bildnisse von Achtzig-
jährigen und noch älteren vereinte, ist ihm nicht ganz und gar er-
374
19. JAHRHUNDERT
füllt worden. Er starb, zu seinen Jahren gekommen, in seiner
amtlichen Juristenlaufbahn, dank seiner Kenntnisse und Tüchtig-
keit zu hohen Würden gelangt, als Assessor am Höchstgericht,
Kanzleideputierter und Geheimrat. In bescheidener Genügsamkeit
sein Leben führend, suchte er seinen Reichtum in der geistigen
und künstlerischen Atmosphäre seiner Bibliothek, deren Blumen-
und Früchtegarten er mit genießender Sorgfalt umhegte. Schon in
der Büchersammlung seines Onkels, des Bischofs* von Seeland,
Christen Worm, die 1728 großenteils verbrannte, war ihm die
Bücherlust erweckt worden. Ohne in den eigenen wissenschaftlichen
Forschungen bis zu größeren Veröffentlichungen vorzudringen, wußte
seine rezeptive Natur aus den mannigfaltigsten Studien Nutzen zu
ziehen. Dafür führte ihn sein Bibliophilentemperament überallhin;
mit kleineren und größeren SpezialkoUektionen in der universellen
Anlage seiner Bücherei auf eigene Aussichtspunkte. Die Beschäfti-
gung mit den bibliognostischen Notizen, die er auf die Vorsatz-
blätter seiner Bücher schrieb; ihr Exzerpieren und ihre Lektüre; die
Fürsorge für ihre gute Ausstattung — er benutzte ein besonderes
Supralibros, einen Elefantenkopf — und ihre Ordnung, gaben seinen
Mußestunden einen für ihn köstlichen Inhalt, an dem er andere Buch-
freunde gern teilnehmen ließ. Als vom 14. September bis zum 14. Ok-
tober 1789 die 1151 Folianten, 3310 Quartanten, 7844 Oktavbände
und 2751 Duodezformate mitsamt den 493 Handschriften, der
Bildnis- und Kartensammlung versteigert wurden, brachten sie
einen ansehnlichen Erlös, 9657 Rdl. 5 Mk. 6 Sk. Die Beruhigung
eines Sammlerstillebens, wie sie die Bibliotheca Luxdorphiana zeigte,
ist gerade den Bibliophilenbibliotheken der kleineren Literaturen
eigen. Sie lassen es noch zu, daß der Gedanke einer Auslese des
besten Büchergutes im Umkreise der Nationalliteratur nahezu bis
zur Vollständigkeit möglich wird, daß es sich hoffen läßt, ein nächst-
liegendes Sammlungsziel zu erreichen. An ausgedehnten Bücher-
sammlungen hat es Dänemark auch im neunzehnten Jahrhundert
nicht gefehlt. Der geheime Archiv- und Konferenzrat Caspar
Frederik Wegener [1802-1893] in Roskilde hatte die rund 22000
Nummern seiner 1902 von der Staatsbibliothek in Aarhus über-
375
SCHWEDEN
nommenen Büchersammlung eigens in einem gewaltigen Bücher-
saale untergebracht, um sich an dem Anblick ihres Umfanges zu ver-
gnügen. Sie kann der langen Zeit wegen, die sie im Besitze des einen
Buchfreundes durchdauerte, der ihren Aufbau bereits als Schüler
begonnen hatte, gewissermaßen als ein Auszug der dänischen Privat-
bibliotheken des neunzehnten Jahrhunderts gelten, obschon sie weit
eher eine fachwissenschaftliche als eine Liebhaberbücherei wurde.
Wählerischer ^ar die an 32 000 Bände zählende Büchersammlung
des norwegischen Juristen Thorvald Olaf Boeck [1835 — 1901]
in Kristiania zusammengebracht worden, die ebenfalls die dänisch-
norwegische Literatur in ihrem ganzen Umfange vereinen wollte
und die in den Besitz der norwegischen Akademie der Wissenschaften
in Trondhjem übergegangen ist. Buchgewerbe und Buchkunst Däne-
marks hatten im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts eine
eigene kräftige Entwicklung genommen, die die Bücherliebhaberei
und das Büchersammelwesen förderte, das sich im zwanzigsten Jahr-
hundert vertiefte und weitete. Bis an die Grenzen dieser neuesten
Zeit reichte die Bibliotheca Wegeneriana.
Die Bücherbeute der Schweden während des Dreißigjährigen
Krieges in den deutschen Ländern; dann in Dänemark, in Polen und
Rußland, hatte aus ihrer Heimat die Bestände einer Reihe alter Samm-
lungen geführt. Bei Gustav Adolfs Lebzeiten war diese Kriegsbeute
meist der Universität Uppsala zugewiesen worden, dagegen behielt
seine bücherliebende und gelehrte Tochter Königin Kristina* das
meiste aus den in den Jahren 1642 bis 1648 erbeuteten böhmischen
und mährischen Bibliotheken für ihre eigene Bücherei zurück oder
gab es als Geschenk an ihre Günstlinge weiter, wie an den 1686 ge-
storbenen Reichskanzler Grafen Magnus Gabriel de la Gar-
die, dessen Privatbibliothek hierdurch reich vermehrt wurde. Aber
sie bedachte auch die kleineren Kirchen- und Schulbibliotheken.
Nach ihrer Thronentsagung nahm sie dann die eigene Büchersamm-
lung mit sich fort, die schließlich in die Bibliotheca Vaticana ge-
kommen ist. Die alte, von König Johann IIL begründete König-
liche Schloßbibliothek ist zwar durch den Brand vom 5. April 1697
großenteils vernichtet worden. Doch die Könige Gustav IIL und IV.,
376 * Abb. 263
17. JAHRHUNDERT
dazu die allgemeine nationale Teilnahme ließen sie wieder aufblühen.
Die deutschen Feldzüge hatten auch dem Grafen Carl Gustaf
Wrangel die Bücher geliefert, die seine berühmte Bücherei im
Schlosse Skokloster gründeten. Andere alte -Familienbibliotheken
mehrten sich aus denen der polnischen Feldzüge, so die der Oxen-
stierna, die 1732 teilweise aufgelöst wurde. In dem dänisch-schwedi-
schen Kriege der Jahre 1657—60 kamen auf diese billige Weise, in
einem löblichen Wetteifer zwischen Magnus Gabriel de la Gardie
und dem Grafen Carl Gustav Wrangel, auch einige dänische Biblio-
philenbibliotheken nach Schweden, unter ihnen die berühmte
Büchersammlung von J er gen Seefeld im Ringstedkloster, die
Karl X. Gustav Corfitz Ulf eld verehrt hatte und die nach dessen
Fall [1660] in die Königliche Bibliothek nach Stockholm gelangte.
Es war eine Bewegung der Büchermassen im derart bunten Durch-
einander der Auf- und Zuteilungen, in der die Büchereien getrennt,
die Bücher häufig verloren oder vernichtet wurden, daß sich die
Einzelheiten ihres raschen Wechsels nur schwer verfolgen lassen.
Jedenfalls aber gaben sie der Bibliophilie Schwedens im siebzehnten
Jahrhundert ein eigenes Gepräge, in der selbst die diesem großen
Büchersegen, der noch in den Versteigerungen des achtzehnten und
neunzehnten Jahrhunderts weiterwirkte, fernerstehenden Buch-
freunde einen Anreiz ihrer Bücherliebhaberei finden konnten. Und
es ist gewiß kein Zufall, daß auch der Hof rat La Gardies, Ludwig
Frisenhäuser [1611—1694] zu den eifrigsten und geschmack-
vollsten Sammlern seiner Zeit gehörte. Ähnlich wie in Dänemark
gestaltete sich dann auch in Schweden mit der Erstarkung des na-
tionalen Schrifttums eine eigenere Entwicklung der Bibliophilen-
bibliotheken, die mit dem Ausgange des neunzehnten Jahrhunderts
dank den Fortschritten der bibliographischen und bibliotheks-
geschichtlichen Studien, dank dem Emporstreben des Buchgewerbes
in der Buchkunst eine Anerkennung ihres Sonderwertes erfuhren.
Große Liebhaberbüchereien waren im neunzehnten Jahrhundert
entstanden und größtenteils in der Stille oder in öffentlichen Ver-
steigerungen wieder aufgelöst worden, so die des Doktors der Theo-
logie J. A. Lüdecke [1840], die des Vizebibliothekars J. A. Brun-
377
SCHWEDEN
nerus [Lund 1875], die Ban6rsche [1876-1877], die Ceder-
hjelmsche [1878—1880], die des Freiherrn N. Gyldenstolpe
[1884-1885], die von G. H. Sträle [1887]. Der Freiherr Nils
Silfverschiöld auf Koberg hatte eine der kostbarsten schwedischen
Privatbibliotheken in kurzer Sammlerzeit sich zu eigen gemacht,
der Freiherr Per Hierta auf Frammestad das Beispiel eindrin-
gender Buchforschung gegeben, der Freiherr Carl Carlson Bonde
auf Ericsberg ebenso wie der Graf Carl Trolle- Bondeauf Trolle-
holm das der Buchpflege einer ererbten großen Familienbibliothek.
Zu den bemerkenswertesten Buchmännern Schwedens hat
Emanuel Swedenborg [1688—1772] gehört. Denn dieser Vi-
sionär war nicht allein ein Gelehrter, Naturforscher und Sprach-
kenner von großer Vielseitigkeit, sondern auch ein gelernter Buch-
binder, der sich der in seiner Jugend erworbenen handwerklichen Ge-
schicklichkeit gern noch in späteren Jahren rühmte. Und da ihm
auch die Kupferstechkunst nicht fremd war, hat der eifrige Besucher
der europäischen Bibliotheken und Buchhändler dem Buchwesen
und der Wissenschaft vom Buche in allen ihren Zweigen eine dauernde
Teilnahme geschenkt. An einer 1740 zur Dreihundert] ahrfeier der
Buchdruckerfindung in Leipzig veröffentlichten Festschrift beteiUgte
er sich mit einem lateinischen Lobgedichte, für die Ausstattung seiner
eigenen Werke sorgte er mit vielem Geschmack. Zwar besaß er
selbst nur eine kleine Büchersammlung, die eine Wand seines 1767
erbauten Sommerhauses füllte doch war sie gewählt und durch
mancherlei Seltenheiten geziert. Deshalb darf der Mann, der in
einer dies- und jenseitigen Welt leben wollte, ein Wunsch, den ein
Jahrhundert später auch sein großer Landsmann August Strindberg
hegte, wohl als ein Zeuge für die Bibliophilie genannt werden, der in
der Nobelbibliothek in Stockholm ein Tempel der ideellen Güter, die
sie schützt, errichtet worden ist. Denn die Aufgabe dieser Büchersamm-
lung ist die Verwahrung der Meisterwerke des Weltschrifttums und
wenn sie auch zunächst ihre Entstehung den praktischen Zwecken der
Nobelstiftung zu verdanken hat, so ist doch ihr Leitgedanke auch der
der BibUophilenbibliotheken aller Völker und aller Zeiten gewesen,
das beste und schönste zu gewinnen, das in den Büchern steckt.
378
VII. ENGLAND
Auch auf den britischen Inseln blühte, von Irland sich ausbrei-
tend, Bücherliebe und Bücherlust des Mittelalters; im geistigen
Tauschverkehr, dessen Vermittler die Bücher waren, mit den jen-
seits des Kanals gelegenen Ländern wachsend, in der englischen Ge-
staltung des Humanismus, dem Revival of learning, ausreifend.
Frühe Legenden ranken sich, gleich dem Efeu um die alten Kathe-
dralen und Kirchen, um die Namen von geistlichen und gelehrten
Herren, die zu Büchereiengründern wurden, in denen sie die Pfleg-
stätten des Lehrens und Schreibens, Lernens und Lesens schufen.
Ein angelsächsischer Mönch Benedikt der Bischof [u. 628—690]
gilt als der erste große Büchersammler Englands — aber was be-
deutet eine solche Annahme mehr als die menschliche Empfindung
für den Anfang einer jeden Erscheinung — der die von ihm ge-
schaffene Sammlung teils seinem um 867 von den Dänen zerstörten
Kloster Wearmouth, teils dessen Schwesterkloster Jarrow hinter-
ließ. Ihn hatte manche Bücherreise nach Rom geführt und nichts
anderes als Bibliothecae christianae waren auch diese englischen
Bibliotheken, durch die, ein Johannes der Zeitenwende, im drei-
zehnten Jahrhundert Roger Baco [1214—1294] schritt. Er, der
schon in der neuen Gedankenwelt lebte, der von Flugschiffen,
Kompaß und Schießpulver sprach, der ebensosehr die Experimental-
methode wie seinen eigenen Ruhm empfahl, hat, obschon nicht die
Brille selbst doch wenigstens ihre Idee gekannt. So mag man ihn
einen Boten der kommenden Jahrhunderte nennen, in denen Brille
und Buch kennzeichnend wurden für den Bücherweisen, von dem
sich immer weiter diejenigen entfernen wollten, die freien Blickes
über die Erde, die sie durchforschten, hinaussahen in die weiten
Welten des Himmels und der Seele. Alcuin [Ealwhine], geboren in
York 735, gestorben in Tours 804, am Hofe Karls des Großen in hoher
Vertrauensstellung, hat die internationale theologische Richtung in
seinen dem Büchersammeln und Bücherschreiben gewidmeten lateini-
schen Versen ausgedeutet. In engerer Verbindung mit dem französi-
schen Buchwesen ist dessen Verweltlichung dann in England vollzogen
379
ENGLAND
werden. Als Guy de Beauchamp, Earl of Warwick 1315 starb,
hinterließ er der Bordesley Abbey in Worcestershire seine Bücherei,
deren Liste diese Beziehungen zwischen den englischen und fran-
zösischen Vornehmen, die gesellschaftliche Bildung des inter-
nationalen Rittertums kennen lehrt: A tus iceux, qe ceste lettre
verront, on ourront, Gwy de Beauchamp, Comte de Warr. Saluz en
Deu. Salus nous aveir bayl6 e en la garde le Abbe e le Covent de
Bordesley e, lesse a demorer a touz jours touz les Romaunces de sonz
nomes ; ceo est assaveyr, un volum, qe est appele Tresor. Un volum,
en le quel est le premer livere de Lancelot, e un volum del Romaunce
de Aygnes. Un Sauter de Romaunce. Un volum des Evangelies,
e de Vie des Seins. Un volum, qe p'le des quatre principals Gestes
de Charles, e de dooun, e de Meyace e de Girard de Vienne e de
Emery de Nerbonne. Un volum del Romaunce Emmond de Ageland,
e deu Roy Charles dooun de Nauntoyle. E le Romaunce de Gwyoun
de Nauntoyl. E un volum del Romaunce Titus et Vespasien. E un
volum del Romaunce Josep ab Arimathie, e deu Seint Grael. E un
volum, qe p'le coment Adam fust enieste hors de paradys, e le Ge-
nesie. E un volum en le qel sount contenuz touns des Romaunces,
ceo est assaveir, Vitas patrum au comencement; e pus un Comte de
Auteypte; e la Vision Saint Pol; el pus les Vies des XH. Seins. E la
Romaunce de Willame de Loungespe. E Autorites des Seins humes.
E le Mirour de Alme. Un volum, en le quel sount contenuz La Vie
Seint Pere e Seint Pol, e des autres liv. E un volum qe est appele
l'Apocalips. E un livere de Phisik, e de Surgie, Un volum del
Romaunce de Gwy, e de la Reygne tut enterement. Un volum del
Romaunce de Troies. Un volum del Romaunce de Willame de Oren-
ges e de Teband de Arabie. Un volum del Romaunce de Amase e
de Idoine. Un volum del Romaunce Girard de Viene. Un volum
del Romaunce deu Brut, e del Roy Costentine. Un volum de le
enseignemt Aristotle euveiez au Roy Alisaundre. Un volum de la
mort ly Roy Arthur, e de Mordret. Un volum en le qel sount con-
tenuz les Enfaunces Nostre Seygneur, coment il fust mene en Egipt.
E la vie Seint Edwd. E la Visioun Saint Pol. La Vengeaunce n're
Seygneur par Vespasien a Titus, e la Vie Seint Nicolas, qe fust nez
380
14. J AHRHUN DER T
en Patras. E la Vie Seint Eustace. E la vie Seint Cudlac. E la
Passioun n're Seygneur. E la Meditacioun Seint Bernard de n're
Dame Seint Marie, e del Passioun sour deuz fiz Jesu Creist n're
Seignr. E la Vie Seint Eufrasie. E la Vie Seint Radegounde. E la
Vie Seint Juliane. Un volum, en leqel est aprise de Enfants et lu-
miere k Lays. Un volum del Romaunce d'a Alisaundre, ove pein-
tures. Un petit rouge livere, en le qel sount contenuz mons diverses
choses. Un volum del Romaunce des Mareschans, e de Ferebras e
de Alisaundre . Les queus nous grauntous par nos heyrs e par nos
assignes qil demorront en la dit Abbaye &c.'*
Die altberühmten Bildungsstätten in Oxford und Cambridge
fanden, als im dreizehnten Jahrhundert die ersten jener selbständi-
gen Schulen, jener Colleges, entstanden oder doch zu solchen re-
organisiert wurden, nach dem Muster des ersten eigentlichen College,
des Merton College [1262] in Oxford, bereits zahlreiche Bücher vor,
die zu sammeln und bei ihren reichen Mitteln ihren Zwecken nutz-
bar zu machen, sie jedenfalls nicht versäumten; zumal ihre Aufgabe
über die der Klosterschulen hinaus die Erziehung derjenigen Geist-
lichen war, die sich dem öffentlichen Dienste als Staatsmann oder
Arzt, als Künstler oder Gelehrter widmen wollten. In Oxford begann
man bereits 1320 Vorbereitungen für den Bau eines besonderen, der
Bibliothek der university bestimmten Büchersaales zu treffen; ein
Jahrhundert früher hinauf reichen die Nachrichten über Bücher-
schenkungen, aber erst 1409 war der 1367 endlich begonnene Bau
vollendet.
Wahrscheinlich war damals bereits die durch ihren Besitzer
angesehenste englische Liebhaberbücherei, die den Übergang zu
einer neuen Zeit mit verwirklichte, zum größten Teile nach Oxford
gekommen, die des Kanzlers und Schatzmeisters Königs Eduard III.,
Richards de Bury* [wie er nach seinem Geburtsorte] oder Aunger-
ville [wie er nach seinem Vater, dem normannischen Sir Richard,
genannt wurde]. Geboren 1287 bei Bury St. Edmond, seit 1333 Bischof
von Durham, gestorben 1345, scheint Richard de Bury allerdings
mehr ein weltmännisch gebildeter Staatsmann, als ein gelehrter
Geistlicher gewesen zu sein, der auch den Aufwand einer bedeutenden
* Abb. 264 381
ENGLAND
Büchersammlung zeigte, um durch sie Geltung zu gewinnen. Ihr
Schicksal ist ungewiß. Versprochen hatte er sie dem Durham Colleg
in Oxford, das im sechzehnten Jahrhundert von Henry VIII. auf-
gelöst wurde. Damals sind dann wohl auch die Bücherschätze
Richard de Burys zerstreut worden; teils in Duke Humphreys Library,
teils in die Bibliothek des Balliot College, teils in den Besitz des
königlichen Leibarztes Dr George Owen de Godstow gekommen.
Vielleicht aber waren die Bücher Richard de Burys niemals im Durham
Colleg, sondern sind als Schuldenzahlung vor oder nach seinem Tode
zerstreut worden. Wie dem auch sei, seine Schrift über die Bücher*
liebhaberei und die Buchpflege, die er ein ,Philobiblon* nannte
und schon ganz im Geschmacke der Bibliophilen- Humanisten ver*'
faßte — war er doch persönlich mit Petrarca in Avignon bekannt ge«»
worden, der ihn einen: Vir ardentis ingenii nee litterarum inscius
nannte — ist erhalten geblieben und allein ihretwegen schon darf
Richard de Bury der Klassiker unter den Büchersammlern Alt«
Englands, ja des europäischen Mittelalters, genannt werden. Denn
echt englisch ist in diesem humanistischen Traktat der Ausgleich
zwischen Idealismus und Reahsmus ; ihr Gedankenflug in die hohen
Gefilde des geistigen Lebens findet, anders als in den Meditationen
Petrarcas, immer wieder zum Boden der Wirklichkeit zurück; sie ist
auch der älteste Bibliophilielehrmeister für die eben entstehende
neue Bücherwelt, kein bloßer Bücherlobspruch. [Einige Hand-
schriften nennen allerdings Robert Holkot als Verfasser des am
24. Januar 1344 vollendeten Werkes, der es aber nur nach dem Plane
und den Anweisungen seines Bischofs ausgearbeitet haben dürfte.
1473 ist es in Köln zum ersten Male gedruckt worden.]
Des Buches edle Geselligkeit hatten Edward III., Chaucers und
Froissarts Gönner, zu schätzen verstanden als eine neue Form
ritterlicher Unterhaltung und ritterlichen Zeitvertreibes. Das ver-
raten die Verse G, Chaucers im Book of the Duchesse.
So whan I saw I might not slepe,
Til now late, this other night,
Upon my bedde I sat upright,
And bad oon reche me a book,
382
14. JAHRHUNDERT
A romauncey and he hit me took
To rede and dryve the night away;
For me thogte it better play
Than playen either at chesse or tables.
Bei aller Ehrerbietung vor der Bücher Gelehrsamkeit und Weis-
heit ließ solche Bücherfreude nicht zum Bücherwurm werden. Das
gab derselbe Dichter [The Legend of Good Women] zu erkennen.
Than mote we to bokes that we finde,
Through which that olde thinges been in minde,
And to the doctrine of these olde wyse,
Yeven credence, in every skilful wyse,
And trowen on these olde aproved stories
Of holinesse, of regnes, of victories,
Of love, of hate, of other sundry thinges,
Of whiche I may not maken rehersinges.
And if that olde bokes were a-weye,
Y-loren vere of remenbraunce the keye.
Wel oghte us than on olde bokes leve,
Ther-as ther is non other assay by preve.
And, as for me, though that my wit be lyte,
On bokes for to rede I me delyte,
And in myn herte have hem in reverence;
And to hem yeve swich lust and swich credence,
That ther is wel unethe game noon
That from my bokes make me to goon,
But hit be other up-on the haly-day,
Or elles in the joly tyme of May;
Whan that I here the smale foules singe,
And that the floures ginne for to springe,
Farwel my Studie, a lasting that sesoun!
Hier schieden sich die Wege am Rain, wo der Buchfreund der
Bücher Narren zurückließ; wo der Gebildete sich vom Gelehrten
trennte; der Dichter mit den schönen Künsten vom Pedanten.
383
ENGLAND
A Clerk ther was of Oxenford also
That un-to logik hadde long y-go.
As lene was his hors as is a rake,
And he was nat right fat, I undertake;
But loked holwe, and ther-to soberly.
Ful thredbar was his overest courtepy;
For he had geten him yet no benefyce,
Ne was so wordly for to have offyce.
For him was lever have at his beddes heed
Twenty bokes, clad in blak or reed,
Of Aristotle and his philosophye
Than rohes riebe, or fithele, or gay sautrye.
But al be that he was a philosophre,
Yet hadde he but litel gold in cofre;
But al that he mighte of his freendes hente,
On bokes and on lerninge he it spente,
And bisily gan for the soules preye
Of hem that yaf him wher-with to scoleye.
Of Studie took he most eure and most hede.
Noght o word spak he more than was nede,
And that was seyd in forme and reverence,
And short and quik, and ful of hy sentence.
Souninge in moral vertu was his speche,
And gladly wolde he lerne, and gladly teche.
Das Patronat der Künste und Wissenschaften lernte man als
eine Pflicht verstehen, die Vornehmen wohl anstand. Bald war das
Bemühen des Buchfreundes im fünfzehnten Jahrhundert darauf ge-
richtet, die Bücher, die es gab, kennen zu lernen. Ein Bibliograph,
durchforschte John Boston aus Bury alle Büchersammlungen, in
die er Eintritt fand, um sich genaue Titel Verzeichnisse anzulegen.
Bald war es der Bann der Buchschönheit, dem man unterlag. John
Plantagenet [1] Duke of Bedford erfreute sich an dem Manu-
skriptenprunk, den die Meister der Miniatur ihm schufen, an seinem
aus französischer Beute sich mehrenden Bücherschatz. Bald war
384
16. JAHRHUNDERT
es das Bibliotheksproblem, die Überzeugung von dem Wert, den die
gemeinnützige zweckdienliche Einrichtung einer Büchersammlung
hat, die den Buchfreund nicht ruhen ließ. Nicht allein beschränkte
sich Sir Walter Sherington auf das Büchersammeln für den
eigenen Gebrauch; er vertrat die Ansicht, ohne Bibliothek sei eine
Kathedrale unvollkommen, er machte den Versuch, Regeln, in eng-
lischer Sprache, aufzustellen, die die Benutzung der Bücher ver-
bessern sollten. Sie alle standen noch vor den Grenzen des alten
und neuen Buchlandes, das, unter der Regierung Edwards IV.
Caxton für England erobern sollte; wieBedfords Bruder Humphrey
Plantagenet [1] Duke of Gloucester [1391—1447],* der von
Jugend an die Bände der Gelehrsamkeit christlicher Kirchenväter
und arabischer Wissenschaft um sich vereinte nebst einigen wenigen
der antiken Klassiker [seine Bücherei ist in Edwards VI. Tagen ein
Opfer des Pöbels geworden], der in Verbindung mit den italienischen
Humanisten stand und sich mit Büchergeschenken an die Uni-
versität Oxford so verdient machte, daß sie ihm, nicht ohne einige
schmeichlerische Übertreibung, 1444 den Ehrennamen des „Grün-
ders** ihrer Büchersammlungen verlieh. Zwischen 1439 und 1446
schenkte er ihr mit allen seinen lateinischen Büchern an 600 Hand-
schriften, von denen ein Teil vermutlich aus der alten librairie der
französischen Könige stammte, die nach Bedfords Tod wahrschein-
lich aufgelöst oder in den Besitz seines Bruders gekommen war.
Dazu gab er reiche Geldgeschenke, zuletzt 100 Pfund für die Voll-
endung der neuen, seit 1426 erbauten School of Divinity, die die
immer mehr anwachsende Bibliothek beherbergen sollte. Als 1488
die neue Bibliothek ihrem Gebrauche übergeben wurde, ein dem
Revival of Learning errichtetes Schloß — es hieß nun Duke Hum-
phreys Library — bildete sie den stärksten Stützpunkt für die er-
wachenden Geister, denen die Regierung König Henrys VII., un-
gestört durch innerpolitische Wirren, die Ruhe des Schaffens und
Schauens schützte. Als dann nach der Renaissance mit der Refor-
mation die Revolution kam, als der Protestantismus, immer mehr
zum Zelotentum erstarrend, unter Heinrich VIII. bei der Auf-
hebung der Klöster zum Bildersturm führte, blieb zwar die Ox-
BOOENO S6 * Abb. 265 385
ENGLAND
forder Bibliothek noch unberührt und unversehrt. Aber schon 1550
wurde sie nach papistischen Schriften durchsucht, geplündert, ver-
nichtet und nur ganz geringe Reste der stolzen ersten Oxforder
Universitätsbibliothek gelangten in die neue, die Bodleian Library,
deren Namen den des Neubegründers der Oxforder Universitäts-
bibliothek nennt. —
In England war es im fünfzehnten Jahrhundert vornehmer Ton
geworden, in Italien zu reisen, um an seinen Universitäten zu stu-
dieren und an seinen Höfen zu leben. Die dann mit gelehrter und
weltmännischer Bildung in die Heimat Zurückkehrenden nahmen
mit den nach England entführten Kunst- und Bücherschätzen auch
die Neigung mit, diesen Besitz zu mehren. Und die nach italienischen
Mustern begründeten Liebhaberbüchereien, so die von Lord Cob-
ham, Sir Walter Sherington [Clastonbury Library] und
John Tiptoft, Earl of Worcester, fanden manche Nach-
ahmungen, die mehr und mehr einen nationalen Charakter, ins-
besondere auch durch die Ausbreitung der Buchdruckerkunst in
England gewannen.
Das Beispiel des Buchgeschmackes, daß der englische Hof gab,
ist anfänglich nur gering gewesen. Zwar besaßen auch Englands
Könige Bücher oder Büchereien — Edward IV. [1465—1483], aus
dem Hause Plantagenet, hatte bereits eine Anzahl von Druckwerken,
die in das Verzeichnis der ihm gehörenden, von London nach dem
Eltham Palace überführten Werte aufgenommen wurden — in-
dessen eine Büchersammlung des Königlichen Hauses ist doch kaum
vorhanden gewesen; zumal da auch das nationale Buchgewerbe
noch darniederlag, die Einführung der Buchware aus dem Auslände^
besonders aus Italien, dem Buchhandel und den Bücherkäufern ge-
nügte. Derart ist der Begründer der Old Royal Library [die
1757 dem British Museum zufiel] der erste König aus dem Hause
Tudor, Henry VII. [1485 — 1509], geworden. Er hinterheß seinem
Sohn Henry VIII. [1509 — 1547], der die Einfuhr fremder Druckwerke
und Einbände durch ein ,Act for Printers and Binders of Bokes'
[25 Hen. VIII. cap. 15] einschränkte, eine recht stattliche Samm-
lung, die bald anwuchs und von deren Stamm Henry VIII. eine An-
386
l"
16. JAHRHUNDERT
zahl Handbüchereien in St. James und anderen Schlössern sich ab-
zweigen ließ. Sein Hofbuchbinder, der etwa 1556 gestorbene Fran-
zose [oder Italiener] Thomas Berthelet [Bartlet], hatte die neue
Art der Einbandverzierung, die Handvergoldung auf den feinen
Lederbänden im Renaissancestil, nach England gebracht. Seine
in der Fleet Street gelegene Werkstätte, deren Ladenschild die
,Lucretia Romana' zeigte, kam in die Mode mit den Mustern der Ein-
bände „after the Italian fascion'* oder „after the fascion of Venice".
Zu seinen besten Kunden gehörte der Fürst von Wales, der spätere
König Edward VL [1547—1553] und es bildete sich eine Bücher-
sammlergruppe, deren Einbandliebhaberei unmittelbar den fran-
zösischen Vorbildern folgte.
Die Einbandliebhaberei, die Hochschätzung des kunstreichen
Prachtbandes, ist im England der Elizabethanischen Zeit, haupt-
sächlich von Thomas Wotton [1521 — 1587]* gepflegt worden, den
man, da die Bände seiner Liebhaberbücherei den Grolierstil nach-
ahmten, den englischen Grolier genannt hat. Allerdings ist die Aus-
führung der für ihn gefertigten Prunkbände hinter ihrem französischen
Muster zurückgeblieben. Thomas Wotton, der Sohn Sir Edward
Wottons, des Treasurer von Calais und eines der Testamentsvoll-
strecker Heinrichs VHL, hatte seit 1547 die Amtstätigkeit seines
Vaters unterstützt und war ihm nach dessen Tode 1551 in dieser
gefolgt. Auch er erfreute sich des königlichen Wohlwollens, im
Juli 1573 durfte er die Königin Elizabeth auf seinem Landsitze
Boughton Malherbe empfangen. Ein Förderer der protestantischen
Religion und der Wissenschaften, wird er als ein Mann „of great
learning, religion and wealth'* geschildert. Also als ein ernsthafter
Mann, dessen Einbandliebhaberei einer tieferen Verehrung des
Buches entsprang, ähnlich wie bei seinem Vorbilde Grolier, der
ebenfalls Gelehrsamkeit und Geschmack verband. Eine nähere Be-
kanntschaft Groliers und Wottons erscheint nicht ausgeschlossen,
die Beziehungen des englischen Buchfreundes zum französischen
Buchwesen ergaben sich ja leicht aus seinem Aufenthalte in Frank-
reich und erweisen sich auch durch die vielen französischen Aus-
gaben, die in seiner Bücherei standen. Gleich ihm hatte ein anderer
25« * Abb. 267 387
ENGLAND
englischer Einbandliebhaber, Sir William Pickering [1516
— 1575]* seinen Buchgeschmack in Frankreich gebildet. Früh
[1538] in Heinrichs VI IL Hof dienst gelangt, ist er keineswegs ein
grämlicher Bücherwurm gewesen. Das beweist eine am 1. April
1543 gegen ihn und Henry Howard stattgehabte Gerichtsverhand-
lung, weil die beiden nächtlicherweile Lärm in den Londoner Straßen
erregt hatten: ,,breaking the Windows of the houses with stones
shot from cross-bows*\ Nach dergleichen jugendlichen Kavaliers-
vergnügungen wurde aber auch Sir William gesetzter. Ausgezeichnet
bei der Thronbesteigung Eduards VII., Parlamentsmitglied für
Warwicky ging er als außerordentlicher Gesandter im Februar
1550—1 zum Könige von Frankreich, um über ein Bündnis zwischen
den beiden Reichen zu verhandeln. Im April des gleichen Jahres
zum Botschafter ernannt, gewann er auch dessen Gunst. Trotzdem
bat er wiederholt um seine Rückberufung, weshalb ihm unter
anderem Thomas Wotton als Gesandtschaftsmitglied beigesellt
wurde. Erst 1553 wurde er abberufen, erst 1558 war er wieder im
diplomatischen Dienste in Belgien und Deutschland tätig, den er
1559 verließ, um sich auf seinen Landsitz Pickering House bei
London zurückzuziehen. Man sprach damals davon, daß eine ehe-
liche Verbindung zwischen der Königin Elizabeth und ihm möglich
wäre. Doch starb er, gelegentlich noch an politischen Ehrenstellen
hervortretend, unverehelicht. In seinem, vier Tage vor seinem Tode,
am 31. Dezember 1574 errichteten Testamente vermachte er an Cecil
seine Antiquitäten, Archivalien, Globen, Kompasse und sein Pferd
,,Bawle Price**. Seine Bücherei, die nicht geteilt werden sollte,
hinterließ er für den Fall ihrer Vermählung seiner ehelichen Tochter
Hester, die später Sir Edward Wotton, den Sohn des Bibliophilen
und Diplomaten, ehelichte. Dessen und Sir Pickerings Bücher
kamen dann wenigstens mit ihren Hauptteilen als Heiratsgut der
Catharine, ältesten Tochter und Miterbin Thomas Lord Wottons,
an ihren Mann Sir Henry Stanhope und dadurch in die bei Sothebys
1920 in London versteigerte Familienbibliothek der Chesterfield.
Königin Elizabeth [1533—1603],* deren Einbandgeschmack
die weibliche Art der Samt-, Seide- und Stickereibände bevorzugte,
388 * Abb. 266, 269
17. JAHRHUNDERT
darf vielleicht eine Buchfreundin genannt werden, obschon sie kaum
eine Büchersammlerin gewesen ist. Dagegen legte der Hofadel schon
vielen Wert auf die Bibliothekenrepräsentation des Einband-
prunkes; ihr Liebling, Robert Dudley, Earl of Leicester
[1532—1588], vergaß nicht, des Besitzes einer ansehnlichen Bücher-
sammlung durch Namen- und Wappenzeichen ihrer für ihn nicht
ohne Prachtentfaltung ausgestatteten Einbände sich zu rühmen.
Auch William Cecil, Lord Burghley [1520—1598], der eine
reichhaltige Sammlung von Druckwerken und Handschriften hatte,
sowie der Erzbischof von Canterbury, Matthew Parker [1504
— 1575], liebten den Einbandluxus und dieser hatte sogar im
Lambeth Palast eine eigene Buchbinderei für sich einrichten lassen.
Er war ein Sammler großen Stils, dessen Agenten auf dem Kontinent
ebenso für die Bereicherung seines Bücherschatzes zu sorgen hatten
wie er selbst es verstand, die Auflösung der geistlichen Anstalts-
und der Klosterbibliotheken auszunutzen. Auch der erste König
aus dem Hause Stuart, James 1. [1566—1625] gehörte zu den Ein-
bandliebhabern, der seine Hofbuchbinder John Gibson in Edin-
burgh, John und AbrahamBateman viel beschäftigte; und gleich
ihm förderte sein frühgestorbener Sohn Henry, Prince of Wales
[1594—1612] die Einbandkunst. Dieser junge Fürst brachte den
zerstreuten Buchbesitz der Könige aus dem Hause Plantagenet
wieder in die Royal Library zurück. 1609 erwarb er die Bibliothek
des John Lord Lumley [1534—1609], die bedeutendste da-
mals in England, neben der [im achtzehnten Jahrhundert in das
British Museum gelangten] Sammlung des Sir Robert Bruce
Gott on [1571— 1631],* vorhandene Archivbibliothek, die nach seinem
Tode in die Königliche Sammlung aufgenommen wurde. Für sie, die
James l. auch mit der Büchersammlung des Jsaac Casaubonus
[1559—1614], die er für 250 Pfund erwarb, noch vermehrt und die
der Bürgerkrieg nicht verschont hatte, sorgte nach der Restauration
zwar noch König Charles IL [1660—1680], dessen Hofbuchbinder
Samuel Mearne war. Aber die in Whitehall aufgestellte Bücherei
fand von jetzt an ihren besten Förderer in dem seit 1660 bestehenden,
1709 erneuerten, 1774 ausgedehnten, 1812 neu geregelten und 1842
* Abb. 276 389
ENGLAND
in der gegenwärtigen Geltung gesetzten Kronrecht, von jedem im
Königreich entstandenen Buchdruck einen Abzug der besten Aus-
gabe jeder Auflage zu erhalten; einem Rechte, das allerdings 1757
dem British Museum mit der alten Königlichen Büchersammlung
überlassen worden ist. —
Robert Burton [1577—1640], in seiner ,Anatomy of Melan-
choly*, berichtet: „King James, 1605, when he came to see our Uni-
versity of Oxford, and amongst other edifices now went to view
that famous library, renewed by Sir Thomas Bodley in imitation
of Alexander at his departure, brake out into that noble speech:
,If I were not a King, I would by a University man: and if it were
so that I must be a prisoner, if I might have my wish, I would
desire to have no other prison than that library, and to be chained
together with so many good authors, et mortuis magistris.*" Burton
fährt dann an dieser Stelle seines Buches weiter fort: ,So sweet is
the delight of study, the more learning they have [as he that hath
a dropsy, the more he drinks the thirstier he is] the more they covet to
learn, and the last day is prioris discipulus; harsh at first learning
is, radices amarae, but fructus dulces, according to that of Isocrates,
pleasant at last; the longer the live, the more they are enamoured
with the Muses. Heinsius, the Keeper of the library at Leyden, in
Holland, was mewed up in it all the yearlong; and that which to
thy thinking should have bred a loathing, caused in him a greater
liking. ,1 no sooner [saith he] come into the library, but I holt the
door to me, excluding lust, ambition, avarice, and all such vices,
whose nurse is Idleness, the mother of Igorance, and Melancholy
herseif, and in the very lap of eternity, amongst so many divine
souls, I take my seath with so lofty a s'pirit and sweet content, that
I pity all our great ones, and rieh men that know not this happiness.
I am not ignorant in the meantime [notwithstanding this which
I have Said] how barbaroushy and basely, for the most part, our
rüder gentry esteem of libraries and books, how they neglect and
contemn, so great a treasure, so inestimable a benefit, as Aesop^s
cock did the jewel he found in the dunghill; and all trough error,
ignorance, and want of education.**
390
17. JAHRHUNDERT
Das Bücherdenkmal des Elizabethanischen England erhob sich
aus den dürftigen Trümmern der alten Bibliothek Oxfords: die neue.
Ein Mann, dessen Namen sie fortan tragen sollte, Sir Thomas
Bodley [1544—1613],* erweckte die ehrwürdige Büchersammlung
zu neuem Leben und in einem Menschenalter vollendete er die festen
Grundmauern seines ihn lobenden Werkes. Nachdem Bodley be-
schlossen hatte, wie er in seiner Autobiographie sagt, seinen Stab
an der Bibliothekstür von Oxford niederzusetzen, ein Entschluß,
den er dem Vice-Chancellor in einem, am 2. März in großer Ver-
sammlung verlesenen, Brief vom 23. Februar 1597, mitteilte, mußte
er über zwei Jahre auf die Wiederherstellung der alten Bücherhalle
verwenden. Am 25. Juni 1600 war der Raum für die Unterbringung
einer neuen großen Sammlung fertig. Nun aber sollte diese erst ge-
sammelt werden; und zwei dicke Folianten, in die die Gaben und
Namen aller Wohltäter der Bodleian Library eingetragen wurden,
bildeten, wie die Folge zeigte, mit Recht deren Eckstein. Zur Ver-
mehrung der schon von ihm nach wohlüberlegtem Plane — er wollte
keine alltäglichen Drucksachen, wie Schauspiele und Almanache,
um nicht die vornehme Bibliothek durch solche ,,Baggage Books'*
zu verunzieren — gesammelten Bücher sandte Bodley den Londoner
Buchhändler John Bill nach dem Kontinent, von dessen Ankäufen,
wie überhaupt von vielen Einzelheiten der Bibliotheksvermehrung
Bodleys Briefe an den ersten Bibliothekar der Bodleiana, Dr. Tho-
mas James, berichten, in denen er häufig ins einzelne gehende An-
weisungen zur Erinnerung seiner Gönner gibt. Am 8. November
1602 konnte die Bibliothek, die damals 2500 Handschriften und
Drucke enthielt, dem gemeinen wissenschaftlichen Gebrauch ge-
öffnet werden. Zahlreiche größere und kleinere Büchergeschenke
kamen; der König, der 1604 Bodley zum Knight adelte, bestimmte
im gleichen Jahre, daß die Büchersammlung, der er gleichzeitig
Körperschaftsrechte verlieh, fortan den Namen ihres Begründers
zu tragen habe. 1610 waren bereits Vergrößerungsbauten nötig ge-
worden. Im selben Jahre traf Bodley auch ein Abkommen mit der
Stationers Company in London, daß sie je ein vollständiges Exem-
plar aller von ihren Mitgliedern, den Verlegern, veröffentlichten
* Abb. 270 391
ENGLAND
Werke der Bodleiana überweisen sollte. Auch der Wunsch William
Drummonds [1585—1649] — „to sucha worthy work all the lovers
of learning should conspire and contribute; and of small beginnings
who is ignorant what great effects may foUow?" — erfüllt sich.
Unter den ersten Förderern der Bodleiana war jenes ^^in-
comparable pair of brethren^\ denen die erste Shakespear- Folio
gewidmet ist. William Herbert, Earl of Pembroke schenkte
ihr 1629 die aus 242 griechischen Handschriften bestehende Samm-
lung des Francesco Barocci in Venedig, sein Bruder Philipp, der
vierte Earl, gleich ihm Kanzler der Universität, stiftete 1649 die
Pariser Polyglottenbibel von 1645. Die Gabe der Manuskripte
verdankte die Bodleiana der Befürwortung eines ihrer größten Wohl-
täter, William Land [geboren 1573, seit 1630 Kanzler der Uni-
versität, seit 1633 Erzbischof von Canterbury, hingerichtet 1645],
der ihr von 1633 an rund 1300 Handschriften zueignete, darunter
die für ihn durch den Konsul von Aleppo, Robert Huntingdon, er-
worbenen kostbaren orientalischen Manuskripte und andere, die
aus Deutschland gekommen waren; aus dem Jesuitenkollegium von
Würzburg, aus den Klosterbibliotheken von Mainz und Eberbach.
Die Privatbibliothek des Erzbischofs, die er in seinem Palaste zu
Lambeth"^ aufgestellt hatte, erhielt nach seinem Tode Hugh Peters.
Auch Lands Freund, SirKenelm Digby, folgte des öfteren seinem
Beispiele. So überwies er die ihm von seinem Lehrer Thomas Allen
hinterlassenen Handschriften und Drucke, aus eigenem Besitz noch
vermehrt, 1634 der Bodleiana. Robert Burton hatte durch letzt-
willige Verfügung bestimmt, daß die Bodleiana von seinen Büchern
diejenigen, die sie noch nicht habe, nehmen dürfe. Und der Verfasser
der „Anatomy of melancholy^^ besaß viel von jenem „riff-raff^ den Sir
Thomas verschmäht hatte: „almanacs and play-books^'. Der gelehrte
John Seiden [1584—1654] hatte in White friars und im Temple in
London reiche Bücherschätze aufgehäuft, die der Bodleiana zu hinter-
lassen, er ursprünglich die Absicht hatte; eine Absicht, die er später,
wohl wegen des geringen Entgegenkommens der Oxforder Gelehrten,
in seinem letzten Willen anscheinend von der Erfüllung besonderer
Bedingungen abhängig machte. Jedenfalls kam ein. kleinerer Teil
392 " Abb. 268
17. JAHEHÜNDEBT
seiner Büchersammlung, insbesondere orientalische Handschriften,
kurze Zeit nach seinem Tode in die Bibliothek, ihr Hauptteil, rund
8000 Bände, aber erst 1659. Inzwischen war jedoch schon vieles
durch Ausleihen in London und durch ein Feuer im Temple ver-
nichtet oder zerstreut. Juristische Werke erhielt aus dieser Samm-
lung auch die Bibliothek von Lincolns Inn, medizinische das College
of Physicians. Unter Seldens Büchern waren manche der großen
Folianten, deren Herkunft das stolze: SumBen Jonson bezeichnete.
Thomas Lord Fairfax [1611—1671], der 1646 die Bodleiana durch
eine besondere Wache gegen seine Oxford plündernde Soldateska
geschützt hatte, hinterließ ihr außer 28 Handschriften von Werken
der frühen englischen schönen Literatur auch die Dodsworth
Papers, die er von Roger Dodsworth geerbt hatte. Er hatte
diesem eifrigen Sammler von Material zur Familien- und Kirchen-
geschichte Nordenglands eine jährliche Rente ausgesetzt, damit er
ungestört seinen Studien leben könne. Dodsworth hatte, als die
Archive der nordenglischen Abteien eine Zeitlang in St. Marys
Tower zu York aufbewahrt wurden, diese Muße wohl zu nutzen ver-
standen, und als der Tower 1644 in die Luft gesprengt wurde, manches
wertvolle Stück aus den Trümmern gerettet, so daß seine Sammlung
am Ende seines Lebens 161 Quart- und Foliobände füllte. Elias
Ashmole [1617—1692] hatte zwar die Druckwerke seiner kostbaren
Sammlung 1679 durch einen Brand im Temple verloren. Die Hand-
schriften, die in seinem Hause in South Lambeth verwahrt wurden —
sie schlössen auch die CoUectionen von William Lilly und John
BookersowieteilweisedievonDr. John Dee [1527— 1608] ein — ver-
machte er mit seiner Münzensammlung der Universität Oxford für
ihr Ashmolean Museum, aus dem sie 1858 in die Bodleiana über-
führt worden sind. Das Register of Benefactors der Bodleiana Library
konnte im achtzehnten Jahrhundert auch einen in der Geschichte
der englischen Bücherliebhaberei viel und oft genannten Namen ver-
zeichnen. Dr. R. Rawlinson [1690-1755]* hinterließ der Bibliothek,
der er schon bei Lebzeiten vielfache Schenkungen gemacht hatte, den
Hauptteil seiner umfangreichen Sammlungen: seine Handschriften
und Urkunden sowie die kostbarsten, rund 2000 Bände, seiner Druck-
* Abb. 285 393
ENGLAND
werke. Der berühmte Altertumsforscher und Topograph Richard
Gough [1735 — 1809] hatte bei Lebzeiten seine reichen Sammlungen
dem British Museum zum Geschenk angeboten, ohne hier das er-
hoffte Entgegenkommen zu finden, weshalb er rund 3700 Bände
sowie alle Griffelkunstblätter und Kupferdruckplatten seines Be-
sitzes, seine topographische Sammlung, der Bodleiana Library hinter-
ließ, damit diese damit „an Antiquarys Closet^^ einrichte. Einen
besonders wertvollen Teil dieser Bücherei bildeten die gedruckten
Bücher zum englischen Kirchendienste, die service-books; ihr Über-
rest kam 1810 zur Versteigerung. 1815 schenkte Richard Lord
Sundertin der Bibliothek die Malone-CoUection, die er von seinem
Bruder, dem 1812 gestorbenen Edmund Malone, dem Shake-
speareherausgeber, geerbt hatte, rund 800 Bände seltener und wich-
tiger Originalausgaben der Elizabethan Poets. 1834 erbte sie fast
die ganze Douce-CoUection. Francis Douce [1757 — 1834], eine
Zeitlang Keeper of the Manuscripts im British Museum, hatte in
seiner reichen Bibliothek von rund 17 000 Bänden und rund 400 Hand-
schriften vieles besessen, was die Sammlungen der Bodleiana er-
gänzte und abrundete. Sein kostbares Geschenk war aber auch die
letzte Liebhaberbücherei großen Stiles, die ihr zugefallen ist, wenn
es ihr immerhin im neunzehnten Jahrhundert nicht an wertvollen
kleineren Zuwendungen gefehlt hat.* —
Robert Burton [in seiner ,Anatomy of Melancholy'] hat eine
Umschreibung der Wißbegierde und des Wissenstriebes seiner Zeit,
die in den Büchern ihre Helfer sah, versucht. ,To most kind of
men it is an extraordinary delight to study. For what a world of
book offers itself, in all subjects, arts, and sciences, to the sweet
content and capacity of the reader ! . . . What vast tomes are extant
in law, physic, and divinity, for profit, pleasure, practice, specu-
lation, in verse or prose, &c. ! their names alone are the subject of
whole volumes; we have thousands of authors of all sorts, many
great libraries füll well furnished, like so many dishes of meat, ser-
ved out for several palates; and he is a very block that is affected
with none of them.' Im ,Advancement of Learning* war, auch F.
Bacon, Lord Verulam zeigte es, das Buch unentbehrlich:
394 * Abb. 271-274
17. JAHRHUNDERT
„We see then how far the monuments of wit and learning are more
durable than the monuments of power or of the hands. For have
not the verses of Homer, continued tventy-five hundred years,
or more, without the loss of a syllable or letter; during which time
infinite palaces, temples, Castles, cities, have been decayed and demo-
lished? It is not possible to have the true pictures or statues of
Cyrus, Alexander, Caesar, no, nor of the kings or great personages
of much later years; for the Originals cannot last, and the copies
cannot but leese of the life and truth. But the images of men's wits
and knowledges remain in books, exempted from the wrong of time
and capable of perpetual renovation. Neither are they fitly to be
called images, because they generate still, and cast their seeds in
the minds of others, provoking and causing infinite actions and
opinions in succeeding ages. So that if the invention of the ship
was thought so noble, which carrieth riches and commodities from
place to place, and consociateth the most remote regions in parti-
cipation of their fruits, how much more are letters to be magnified,
which as ships pass to participate of the wisdom, illuminations, and
inventions, the one of the other?" Hier läßt sich die Bibliophilie in
ihrer realistischen Tendenz hören, die die Buchwerte nach einer
neuen Richtung hin steigern sollte. Die Anerkennung des Buches
als Schrifttumsträger, gewonnen durch den Humanismus, hatte das
eigentliche Element der Entwicklung einer modernen Bibliophilie
gefunden. Die Bedeutung des Druckwerkes, der öffentlichen Meinung
ihre Verkörperung zu verleihen, bezeichneten die ,Areopagitica^
JohnMiltons, dem die Freiheit zu erkennen, zu sprechen und nach
Überzeugung frei zu schließen mehr als alle anderen Freiheiten war;
der aus dem Kleinkampf der Parteien die Politik einer allgemein-
menschlichen Angelegenheit zu erhöhen strebte. ,1 deny not but
that it is of greatest concernment in the Church and Commonwealth
to have a vigilant eye how books demean themselves, as well as
men; and thereafter to confine, imprison, and do sharpest justice
on them as malefactors: For books are not absolutely dead things,
but do contain a potency of life in them to be as active as that soul
was whose progeny they are ; nay, they do preserve, as in a vial, the
395
ENGLAND
purest efficacy and extraction of that living intellect that bred them.
I know they are as lively and as vigorously productive as those
fabulous dragon's teeth; and, being sown up and down, may chance
to spring up armed men. And yet, on the other band, unless wariness
be used, as good almost kill a man as kill a good book. Who kills
a man kills a reasonable creature, God's image ; but he who destroys
a good book, kills reason itself ; kills the image of God, as it were,
in the eye. Many a man lives a bürden to the earth ; but a good book
is the precious life-blood of a master-spirit, embalmed and treasured
up on purpose to a life beyond life. *Tis true no age can restore a
life, whereof, perhaps, is no great loss; and revolutions of ages do
not oft recover the loss of a rejected truth, for the want of which
whole nations fare the worse. We should be wary, therefore, what
persecution we raise against the living labours of public men, how
we spill that seasoned life of man preserved and stored up in
books; since we see a kind of homicide may be thus committed
sometimes a martyrdom, and if it extend to the whole impression,
a kind of massacre, whereof the execution ends not in the slaying of
an elemental life, but strikes as that ethereal and fifth essence —
the breath of reason itself; slays an immortaUty, rather than a life/
Nicht als archivalische Materialien hieß das in den britischen
Büchereien die Newspapers und Pamphlets werten, sondern ebenso
als Zeugen geistiger Bewegungen gleich den Büchern nach ihrem
strengeren Wortbegriffe. Das aber hieß auch die bedruckten Papier-
massen unbezwingbar, unübersehbar werden lassen; zu einer anderen
Einschätzung des bibliographischen Kosmos gelangen, als ihn
die Humanisten Italiens gewinnen mußten. Dafür fand Sir T.
Browne [in seiner , Religio Medici'] diese Worte: *Tis not a me-
lancholy Utinam of mine own, but the desires of better heads that
there were a general synod ; not to unite the incomportible diff erences
of religion, but for the benefit of learning, to reduce it as it lay at
first, in a few and solid authors ; and to condemn to the fire those
swarms and millions of rhapsodies, begotten only to distract and
abuse the weaker judgements of scholars, and to maintain the trade
and mystery of typographers.*' Die aus der Anschauung des Bücher-
396
17. JAHRHUNDERT
Überflusses entstandene Mißachtung der überflüssigen Bücher hatte
das Sammelverfahren Sir Thomas Bodleys ebenfalls erkennen lassen;
man kann kaum sagen, daß die Bodleiana und das Verlangen einer
Büchervernichtung die beiden Gegensätze zeigten, zwischen denen
die Bibliophilie Humanismus und Realismus auszusöhnen hatte.
Eine Aussöhnung durch die Auswahl und Benutzung der Bücher,
die späterhin die bibliographische und bibliothekarische Technik
fand, die methodisch und systematisch das ganze Bücherreich den
Menschen, seinen Schöpfern, zurückgewann. Für den sich beschei-
denden Buchfreund gab es jedoch noch eine leichtere Lösung, die
ihm das Buch als Unterhaltungsmittel und Werkzeug wiedergab.
Nicht die, daß er es überhaupt vernachlässigte, sondern die, daß
er in ihm seinen Komfort fand. Ein Komfort, der allgemach aller-
dings auch eine Mode wurde — andeutend bezeichnete diese Ent-
wicklungsrichtung einmal Dr. Johnson: ,,The call for books was
not in Milton's age what it is in the present. To read was not then
a general amusement; neither traders, nor often gentlemen, thought
themselves disgraced by ignorance. The women had not then aspired
to literature nor was every house supplied with a closet of knowledge.**
Doch ein Komfort, der, ähnUch dem altgriechischen Ideal des Guten
und Schönen, nach einer Ausgeglichenheit der Persönlichkeit strebte,
die auch die Privatbibliothek zu erweisen hatte. Das Bedürfnis des
Buchgeschmackes, das die Einbandliebhaber sich erfüllten, ver-
langte Henry Peacham vom Compleat Gentleman: „Have a care of
keeping your books handsome, and well bound, not casting away
overmuch in their gilding or stringing for ostentation sake, like the
prayer-books of girls and galants, which are carried to church but
for their outsides. Yet for your own use spare them not for noting
or interlining [if they be printed], for it is not likely you mean to
be a gainer by them, when you have done with them : neither suf f er
them trough negligence to mould and be moth-eaten or want their
strings and Covers. King Alphonsus, about to lay the foundation
of a Castle at Naples, called for Vitruvius bis book of architecture ;
the book was brought in very bad case, all dusty and without Covers ;
which the king observing said, 'He that must cover us all, must no
397
ENGLAND
go uncovered himself; then commanded the book to be fairly
bound and brought unto him. So say I, suffer them not to lie ne-
glected, who must make you regarded; and go in torn coats, who
must apparel your mind with the Ornaments of knowledge, above
the robes and riches of the most magnificent princes." Ein Bedürfnis,
das einer ehrlichen Überzeugung vom Bücherwerte entsprang, die
Anstand war, die auch das Verhältnis des Compleat Gentleman
zu seiner Bücherei zeigte: ,,Affect not, as some do, that bookish
ambition, to be stored with books and have well-furnished libraries,
yet keep their heads empty of knowledge: to desire to have many
books, and never to use them, is like a child that will have a candle
burning by him, all the while he is sleeping." Es ist nicht mehr die
Bücherlust des Humanisten, deren Wiederklang in diesen weit
weniger begeisterten als nüchtern wägenden Worten zu finden ist.
Ebenso sind sie indessen auch frei von der Bücherlast der Poly-
historie, von der die Befreiung erst dem Spezialistentum sich aus-
bildender Fachwissenschaften gelingen sollte. In Zeiten, in denen es
der Wissenschaft lediglich glückte, den Stoff aufzuhäufen, ohne ihn
zu durchdringen, geschweige denn zu durchgeistigen, ist das Be-
streben der Büchersammlungen immer die Vollständigkeit des vor-
handenen Wissens gewesen, da die Gelehrsamkeit in ihnen nichts
anderes bedeutete als die Bewegung des Wissensstoffes von einer zur
anderen Stelle, ohne ihn am Ende weitergebracht zu haben. Da-
gegen half die Anschauung des Bibliothekskomforts, die die eng-
lischen Bibliophilen des siebzehnten Jahrhunderts, denen der man-
gelnden Bibliographien wegen ein gefestigter Eklektizismus noch un-
möglich war, hegten. Und ihr Bild läßt zum ersten Male die Züge
moderner Bibliophilen erkennen, obschon noch unklar zwischen den
mancherlei Velleitäten, in denen es heute aus der Vergangenheit her
uns anschaut.
Anders als in Frankreich, wo seit den Anfängen der modernen
Bibliophilie im siebzehnten Jahrhundert Paris tonangebend war und
Mittelpunkt der bibliographischen Tradition blieb, gestalteten sich
die Verhältnisse in England, wo die Hauptstadt London erst all-
mählich im achtzehnten Jahrhundert zum Vorort des Bücher-
S98
17. JAHRHUNDERT
sammelwesens wurde und zwar durch die Ausgestaltung des Bücher-
marktes im Geschäftshetriebe der Versteigerungen. Daß die alten
Bildungsstätten, die das gelehrte Erbe der Klöster mit übernommen
hatten, durch die enge Verbindung mit ihren früheren Schülern auch
im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert weiterhin für deren
Buchpflege Anregung und Förderung gaben, war dazu nicht allein
durch ihre Führung des wissenschaftlichen Verkehrs zu verstehen.
Auch der buchgewerbliche Verkehr hatte hier seine Hauptstätten.
Von dergleichen Überlieferungen — die auch auf die Familienbiblio-
theken der Landsitze zurückwirkten, in denen sich bereits die Auf-
fassung einer Privatbibliothek als Komfort und Luxus der Vorneh-
men durchzusetzen begann — unabhängiger waren die noch wenigen
Schöngeister, die in der eben entstehenden Weltstadt London seit
der Elizabethanischen Epoche ihre Büchersammlungen zu Hilfs-
mitteln ausgesprochener literarischer biteressen zu machen begannen;
die, obschon meist selbst in amtlichen Stellungen, über die fach-
wissenschaftlichen Grenzen, sehr viel seltener über die Landesgrenzen
hinaus, ihre Aufmerksamkeit denjenigen Schriften zuwendeten, die
die meisten Sammler noch gleichgültig ließen, oder die sogar von
ihnen verachtet wurden. Denn diese Männer beschränkten sich
nicht darauf, die antiken und die theologischen Klassiker allein für
anerkennenswert zu halten, sie sahen sich ebenso gern in anderen
Wissenszweigen um und sie gingen klaren Auges sogar nicht am All-
tag vorüber. Als Antiquitätenforscher begannen sie schon ein Ver-
hältnis !zu den alten Druckwerken zu finden, obschon dabei mehr
noch die Teilnahme für die geschichtliche Vergangenheit ihres
Landes und Volkes überhaupt sie leitete und eine ausgesprochen
lokalpatriotische Tendenz nicht zu verkennen war, als das bereits
bestimmtere bibliographische Problem sie reizten, die zu feineren
Ausgabenunterscheidungen führten. Aber das Historische verband
sich doch schon enger mit dem Politischen ihrer Gegenwart. Die von
den Foliantenverehrern verschmähten Flugschriften und Zeitblätter
hoben sie sorgfältig, ja systematisch, auf, und selbst die Erzeugnisse
der schönen Wissenschaften ihrer Tage fanden Platz in ihren Band-
reihen. Es waren freilich nur einige wenige Buchfreunde, die so
399
ENGLAND
handelten und deshalb manchen Spott der Zeitgenossen hinnahmen.
Und auch die Nachwelt kann ihre Verdienste erst recht durch die
Überlegung würdigen, daß alle jenen Miscellanea, Pamphlets und
Tracts, die sich beschämt in den Bücherlisten dieser selbstsicheren
Vorläufer späterer Sammlergeschlechter versteckten, auch die-
jenigen Schätze, meist freilich noch mehr gelegentlich als geordnet,
verzeichneten, die inzwischen zu hohen Werten englischer Lieb-
haberbüchereien geworden sind: die frühen Ausgaben enghscher
Dichtung und Geschichtsschreibung. Als dann die Auktionen in
London ungefähr gleichzeitig mit der Begründung des British Mu-
seum zu einer Einrichtung wurden, die den Altbüchermarkt Eng-
lands in seine Hauptstadt zentralisierte, wurden ihre Annalen zu
einer Bibliophilie-Chronologie des britischen Reiches. Mehr noch als
die Büchereiräume der großen Sammlungen sind von da an ihre Säle
die ruhenden Pole, von denen aus sich am bequemsten das Biblio-
philiegebiet Englands im Wandel der Zeiten abmessen läßt.
Das Beispiel eines englischen Bibliophilen des siebzehnten Jahr-
hunderts ist der Sekretär der Admiralität Samuel Pepys [1632
— 1703]* nicht allein deshalb, weil seine Büchersammlung noch in
ihrem ursprünglichen Zustande aufbewahrt wird. Mehr noch ist
es der Geschmack, der, ihre Auswahl kennzeichnend, auf den Unter-
schied der literarischen Moden zwischen damals und heute verweist.
Denn der Diarist, den seine Tagebücher als einen vortrefflichen
Beobachter erweisen; der Mann, der in seinen hohen amtlichen
Stellungen, die er nicht allzu einwandfrei verwaltete, vieleh Weit-
blick hatte, war ganz und gar nicht in gelehrten Vorurteilen befangen,
sondern bezeugte dem englischen Buche, ja sogar denjenigen Druck-
werken seiner Tage, die zu der ephemeren Literatur, zu den Erzeug-
nissen der „Presse** — nach heutigem Wort gebrauch — gehörten,
nicht geringe Teilnahme. Das Chap-Book verachtete er nicht, er
sammelte es in Reihenbänden, die etwa die Titel „Penny Merri-
ments** oder „Penny GodUnesses" trugen, sogar sorgfältig. Damit
hat er der Nachwelt, die sein Bücherschatz etwas bunt anmutet,
unschätzbare Dienste geleistet. Immerhin, und hierin liegt das
Unterscheidende zwischen der alten Bibliophilie Englands, die
400 * Abb. 279
17. JAHRHUNDERT
Pepys vertritt, und der im achtzehnten Jahrhundert aufkommenden
neuen: nach den jetzt am meisten begehrten bibliographischen Kost«
barkeiten, den englischen Wiegendrucken, den Ausgaben der
Dramatiker der Elizabethanischen Epoche, hat er nur gegriffen, wenn
es ein Zufall fügte; gesammelt aber hat er sie, die ihm zu den niedrig-
sten Preisen erreichbar gewesen wären, nicht. Das war bei ihm und
seinen Zeitgenossen eine Begrenzung des literarischen Horizontes,
hinter dem noch diejenigen Sammelgebiete lagen, von denen die
englischen und amerikanischen Liebhaberbüchereien des zwanzig-
sten Jahrhunderts auszugehen pflegen. Bedeutungsvoll ist es jedoch
für die Bibliophilieentwicklung Großbritanniens. Ihre Caxton- und
Shakespearetradition ist aus geschichtlichen Rückerinnerungen her-
vorgegangen, nicht aus einer ununterbrochenen Verbindung mit der
Vorzeit. Wenn Pepys in seiner Bücherwahl sich nun auch die Freiheit
eines gebildeten Weltmannes ließ, in seiner Buchpflege war er von
einer etwas seltsamen Umständlichkeit, die selbst seine letztwillige
Verfügung über die 3000 von ihm hinterlassenen Bände nicht ver-
ließ. Alphabetische Kataloge anzulegen, in der Aufstellung eine fest
geregelte Ordnung zu wahren, das war für ihn eine Beschäftigung,
der er sich aufs eifrigste widmete. Trotzdem aber findet sich in dieser
seiner Bibliothekstechnik ebenso wie in seiner Achtsamkeit auf das
Druckpapiej der Straße durchaus Neuartiges. Das Bibliotheks-
Comf ort- Ideal des Gentleman kommt in solcher Aufnahme der
Bücher in den Hausrat ebenso zum Ausdruck, wie sich in dem Fest-
halten der Gegenwartsschriften die Trennung von der Gelehrten-
bücherei vollzieht und die moderne Privatbibliothek vorbildet,
die die Formen einer Liebhaberbücherei wahrt, aber weder bloß
der Repräsentation wegen als Wohnungsschmuck erscheint noch
eine Sammlung systematischer Art sein soll. Also eine Bücherei,
wie sie in England sehr viel häufiger als in anderen Ländern zu finden
war und ist. Bibliothekskomfort, die bequemste Gebrauchsnutzung
des Buches war auch die Reisebibliothek, derentwegen der Master
of the Rolls unter James L, Sir Julius Caesar, dessen Sammlung
später teilweise in die von Mr. Carteret-Webb und von diesem ins
British Museum kam, nicht ganz aus eigenem Verdienst Biblio-
BOOBNO 16 401
ENGLAND
philenruhm gewann. Denn die in dem Museum verwahrte viel-
bewunderte Travelling Library mit ihren 42 Duodezbänden ist
lediglich eine vor 1619 hergestellte Nachahmung einer anderen, die
Sir Julius Caesar 1617 von einem Unbekannten als Neu Jahrsgeschenk
empfing und die er 1635 seinerseits als Hochzeitsgeschenk dem
Attorney König James I., John Madden, bei dessen Vermählung mit
Miß Waterhouse darbrachte. Da 1921 auch diese ursprüngliche Reise-
bibliothek — sie zählt 43 Bändchen — die ebenfalls in ihrem ursprüng-
lichen Zustande erhalten war, im Altbuchhandel auftauchte, wird
man daraus vielleicht schließen wollen, daß dergleichen Gerät und
mit ihm verbundene Gewohnheiten noch zu den Ausnahmen ge-
hörten; als Seltenheiten oder gar Seltsamkeiten geschätzt wurden.
Aber es handelt sich, wenn man sie als Erscheinungen einer neuen
Art der Behaglichkeiten des Buches, der praktischen, realistischen
Tendenz in der Bibliophilie werten möchte, ja weit weniger um ihre
Verbreitung als überhaupt um ihr Vorhandensein. Sie weisen auf
die neue Stellung hin, die der Buchfreund zum Buch gefunden hat,
dem er sich nicht nur im Tempel der Weisheit ehrfürchtig nähert wie
Machiavelli. Daß er unbekümmerter gebraucht und sogar verbraucht,
wenn er es nicht sammelt der Sammlung wegen. —
Der Buchhändler William Cooper — sein Ladenschild zeigte
einen Pelikan — veranstaltete 1676 nach holländischem Muster die
erste englische Büchereiversteigerung in London, deren gedrucktes
Verzeichnis in der Kings Gallery des British Museum ausgestellt
ist. Beweis genug, daß man in diesem dünnen Hefte ein in seiner
Art epochemachendes Werk einzuschätzen hat. „For the encoura-
gement of Learning", heißt es in dessen Vorrede, werde die Bücher-
sammlung des Geistlichen Dr. Lazarus Seaman in dieser neu-
artigen Form ausverkauft; und das war kein ganz leeres Wort. Auch
in einem Briefe von David Miliin gton an den englischen Geist-
lichen Joseph Hill in Holland vom Juni 1697, der der geistige Ur-
heber dieser Versteigerung gewesen war, wird versichert, man müsse
Gott und ihm danken für den „great service done to learning and
learned men in your first advising and effectually setting on foot
that admirable and universally approved way of selling librarys
402
17. JAHRHUNDERT
amongst us". Der Altbuchhandel hatte hier den Anfang des Weges
gefunden, der durch die unübersichtlich, ja undurchdringlich ge-
wordenen Büchermasse in das Freie eines geregelten Geschäfts-
verkehrs wies; in dem das alte Buch gleich dem neuen marktgängig
wurde, so daß Angebot und Nachfrage eine Ordnung der Preis-
gestaltung ermöglichten, dem Altbuchhandel und dem Bücher-
sammeln die zu erkennenden Grundlagen einer Wirtschaftlichkeit
schufen. Und das war, ebenso wie die Beschaffung der Bücher selbst
und ihre bessere Bestimmung durch die Bibliographie, für die Biblio-
philie und ihre Buchpflege wichtig. Denn die Bildung des Liebhaber-
preises gab ebenfalls eine Gewähr für die Scheidung der guten und
schlechten Bücher, die zu einem Verlangen des Fortschrittes in den
Wissenschaften geworden war; vermittelte die Auswahl bester Bücher,
die ein Büchersammler treffen sollte und nahm seinem Tun den An-
schein des Aufraffens, des planlosen und zufälligen. Die Methodik
des Sammeins und ihre Systematik fand hier eine nicht geringe Unter-
stützung. Etwas über 700 Pfund waren für die 5—6000 Bände der
Bibliothek Seaman gezahlt worden. Ein Bibliothekspreis, der der
Öffentlichkeit die für eine Büchersammlung selbst gezahlte runde
Summe zeigte; eine Summe, die bis dahin nur aus den geschäftlichen
Verhandlungen über den Verkauf von Privatbibliotheken bekannte-
ster Besitzer einer Bücherei hervorzugehen pflegte. Das gab einer
nüchterneren Überlegung Rückhalt für das Sammeln. Die Möglich-
keit, annehmbares Sammlungsgut verwerten zu können, mußte dessen
Wert steigern. Allerdings, allmählich erst konnte eine solche Über-
zeugung weiter wirken. Auch die zweite, ebenfalls von Cooper ge-
leitete Auktion, die der Bücherei des Rektors Thomas Kidner
[1676] lieferte vorwiegend theologische Werke, ebenso die dritte,
die des Geistlichen Thomas Greenhill [1677], die diesmal von
Zachariah Bourne veranstaltet wurde. Auf der vierten, von Cooper
besorgten, des Geistlichen Thomas Manton [1620 — 1677], die im
Mai 1678 stattfand, boten sich schon mehr englische Schriften. Und
die vierte im gleichen Jahr und Monat veranstaltete, die Benjamin
Worsleys Büchersammlung durch die Auktionatoren John Duns-
more und Richard Chiswell zum Verkauf stellte, zeigte zum ersten
26«
403
ENGLAND
Male ein größeres Angebot älterer englischer Bücher, die »gute
Preise* machten. Auf diesci die ,neuen* Preise, waren nun schon die
Buchhändler aufmerksam geworden und in den sich jetzt mehrenden
Versteigerungen ließen sie es nicht an Versuchen fehlen, die freilich
auf Widerstand stießen, unter bekanntem Namen Bestände ihres
Lagers zu verwerten. Damit war die Anerkennung des Sammler-
namens in die Wertrechnung eingeführt worden; für den Buchfreund
als eine Gewähr, gute Buchware zu erhalten und als Ansporn des
Sammler ehr geizes, für den Buchhändler als aussichtsreiches Ge-
schäftsmittel. Und die frühe Schlichtung der sich aus ersten Ver-
suchen, verfälschte Versteigerungen zu verhüten, ergebenden Streit-
fragen — es begegnen bereits damals Feststellungen in den Katalog-
vorworten, daß es sich nur um die auf den Titelblättern genau
angezeigten Büchersammlungen handle — hat nicht wenig dazu bei-
getragen, dem englischen Versteigerungsmarkt durch das strenge
Bemühen, seine geschäftliche RedUchkeit zu sichern, eine starke
und stetige Entwicklung zu geben. Als im November 1679 durch
John Dunsmore die Bücherei des Sir Edward Bysshe, Clarenceux
king at armes, versteigert wurde, die bereits durch ihre Auswahl,
in der auch die französische, italienische, spanische Literatur be-
rücksichtigt war, sich als eine Liebhaberbücherei erwies, bemerkte
ihr Verzeichnis zum ersten Male die Bücher, die „curiously bound
and richly gilt** waren.
Die bibliophile Eleganz unter den englischen Buchfreunden des
siebzehnten Jahrhunderts vertrat SirKenelmDigby [1603—1665],*
eine geistig sehr regsame, viel und vieles wissende, die Gelegenheiten
sich günstig machende Persönlichkeit; bald Gelehrter, bald Mann
der Tat, in den Berufen des Diplomaten ebenso seinen Platz be-
hauptend wie in denen des Kontroversen- oder des Schiffsführers
oder den sonstigen, die er übte. Dazu ein vielseitiger Schriftsteller,
dessen Tätigkeit von den, 1827 veröffentlichten, „Private Memoirs^^
des „gentleman of the bed Chamber to King Charles the First^^ bis zu
dem „Closet of the Eminenthy Learned Sir Kenelme Digbie kt.
opened : Whereby is Discovered Several ways f or making of MethegUn,
Sider, Cherry-Wine &c., together with Excellent Directions for
404 * Abb. 277
17. JAHRHUNDERT
Cookery, As also for Preserving, Conserving, Candying &c* [Pu-
blished by bis Son's Consent. Londen: 1669]^^ reicbte, bat er seit
seinen Pariser Universitätsstudien teils in England , teils in Franfc-
reicb gelebt und in dem Jahrbundert, in dem die bibliograpbiscben
britiscben Expeditionen nacb dem Festlande aufkamen, den später-
bin nocb des öfteren auftretenden britiscben Bücbersammlern, die in
mebreren Ländern aucb mit ibren Liebbaberbücbereien zu Hause
sind, kein überall nacbabmenswertes Vorbild gegeben. Ein Beriebt
über seine Bibliotbeken ist nicbt ganz einfacb. Die ibm von seinem
Lebrer Tbomas Allen Unterlassene Bücbersammlung stiftete,
vermebrt, der Freund Lands der Bodleiana. Eine andere Bücberei
verebrte er der Library of Harvard College, Cambridge, Mass. Eine
ältere Bücberei sollen ibm in England wäbrend des Bürgerkrieges
die Rundköpfe verbrannt haben. In Paris arbeiteten für ibn die
besten Bucbbinder und er beließ diese seine Bücberei größtenteils
in der französischen Hauptstadt, wo sie nacb seinem Tode durcb
das droit d'aubaine zum Heimfall an die französische Krone kam.
Später soll sie teilweise von dem Earl of Bristol zurückgekauft und
dieser Teil der Digby Library, vier Jahre nach des Lords^ Tode, im
April 1680 in London versteigert worden sein; eine freilich nicht ganz
zweifellose Annahme.
Die Auktionssensation für die englischen Bücbersammler des
siebzehnten Jahrhunderts wurde im Mai 1682 die Versteigerung
der Bibliotheca Smitbiana durch Richard Cbiswell. Richard
Smith [1590—1675] hatte eine Liebhaberbücherei in Little Mor-
fields entstehen lassen, die ebenso durcb seine eigene Sammeltätigkeit
wie auch dadurch wertvoll geworden war, daß sie eine ältere Bücberei,
die von Humphrey Dyson, umschloß. Es war jedenfalls die nach
ihrer Auswahl beste bis dahin in England unter den Hammer ge^
kommene Privatbibliothek. Oldys vermerkte über Smith, daß er
„for many years together suffered nothing to escape bim that was
rare and remarkable*'. Und Hearne notierte in seinen „CoUections",
„that Mr. Rieh. Smitb's rare and curious coUection of books was
began first by Mr. Humphrey Dyson, a publick notary, living in tbe
Poultry. They came to Mr. Smith by marriage." Mr. Smith habe
405
ENGLAND
die beste Sammlung der Werke des Erasmus zusammengestellt.
Und schließlich versuchte er sogar ein Bibliophilenporträt des alten
Dyson zu entwerfen: ,,A person of a very stränge, prying, and in-
quisitive genius in the matter of books, as may appear from many
libraries; there being books chiefly in old English, almost in every
library, that have belonged to him, with bis name upon them/' Den
Katalog belobte Oldys, er meinte, daß Smiths „exraordinary library
makes perhaps the riebest catalogue of any private library we have
to show in print, making above four hundred pages in a very broad-
leaved and close-printed quarto." Das war, nach anderen Maß-
stäben gemessen, allerdings ein Lob, das nicht zutraf. Dibdin be-
klagte ,daß die kostbarsten Werke hier in Losen unkenntlich zu-
sammengefaßt seien, daß man überall die Bezeichnungen ,,Bundles
of stitcht Books** vorfinde. Rasch, sehr rasch waren die Auktionen
in London und in den Provinzstädten zu Regulatoren des Altbücher-
marktes geworden; zu einer Einrichtung, die dem Getriebe des Sam-
meins, des Sichtens und Suchens, richtunggebend wurden. Bereits
im Jahre 1688 wurde die Bibliothek eines Parlamentsrates aus Mont-
pellier, die Bibliotheca Mascoviana, in London versteigert; ein
Zeichen, wie auch im Auslande die Bücherversteigerungen Englands
geschätzt wurden. Auktions- und Katalogtechnik hatten sich schnell
vervollkommnet; weder wich man den geschäftlichen noch den recht-
lichen Streitfragen aus, sondern suchte ihre ausgleichende Lösung.
Diese Entwicklung innerhalb eines Viertel] ahrhunderts erwies
1698 die Auktion der Bibliothek des Dr. Francis Bernard [1627
—1698], des Arztes am St. Bartholomäus - Hospital und des Leib-
arztes James IL Einem Bibliophilen-Stoiker, nach Dibdins Urteil,
hatte die BibliophiUe- Ornamentik, hatte das Großpapier und der
Prachtband seinen Augen nicht geschmeichelt und seinem Herzen
nicht wohlgetan. Anderes zeichnete seinen Bücherschatz aus, dessen
Umrechnung in den Versteigerungspreis 5000 Pfund ergab. Ein
echter Kenner der Historia litteraria war es gewesen, der Bescheid
in seinen meist medizinischen und philologischen Büchern und nicht
nur über sie wußte. Da war es kein Wunder, daß sich in dem Auk-
tionskataloge bibliographische Entdeckungen machen, Bücher treffen
406
17. JAHRHUNDERT
ließen, von deren Vorzügen man bisher nichts oder nur wenig wußte«
Zu Entdeckungsreisen in unbekanntes Buchland wurden die großen
Büchersammlungen und die großen Büchereiversteigerungen des
folgenden Jahrhunderts. Nach allen Seiten drang man immer weiter
vor; die bibliographischen Eroberungen, die man machte, trug man
auf den sich bald dicht bedeckenden Karten der Liebhaberwerte ein.
Ein Buch, das seinen Preis hatte, war viel weniger einer Zerstörung
ausgesetzt als das unbeachtet, unbekannt sich verlierende. Und
seine Auflage kam, soweit sie noch da war, aus den verstaubten,
versteckten Winkeln in die achtsamste Buchpflege. So ist die kom-
merzielle Tendenz, mag sie immerhin zu einer Beeinträchtigung des
Bibliophilen- Idealismus geworden sein, doch auch ein Materialis-
mus, der notwendig wurde, um die Erhaltung der Kostbarkeiten
und Seltenheiten zu sichern. Das ist bei einer Betrachtungsweise
des alten Buches als Handelsgegenstand nicht zu vergessen. Für
die Bewahrung der alten Bücher zahlte jetzt der Bibliomaniac die
hohen Preise, die der Humanist für die Beschaffung der alten Werke
nicht gescheut hatte.
Der Altbüchermarkt Englands in den Anfängen, die die Auk-
tionen des siebzehnten Jahrhunderts bildeten, hatte im allgemeinen
nur Arbeitsbüchereien zur Auflösung gebracht; für eine Berufs-
nutzung gebildete Zwecksammlungen. Kaum ein halb Dutzend Nur-
Liebhaberbüchereien waren darunter gewesen, d. h. Bibliophilen-
bibliotheken, die nicht das theologische oder juristische oder medi-
zinische Fach vertraten, sondern ihr Dasein einer freibleibenden
Passion und einem freibleibenden Studium verdankten. Für den
Altbüchermarkt des achtzehnten Jahrhunderts galten zunächst die
gleichen Verhältnisse. Es waren Durchschnittsbüchereien, deren
Erscheinung durch ihren öffentlichen Verkauf für eine kurze Weile
festgehalten wurde. Wofern eine nach Ausdehnung und Ausstattung
bemerkenswerte Bibliophilenbibliothek unter den Hammer kam,
blieb sie nach außen hin doch in fachwissenschaftlicher Geltung.
Die Bücherliebhaberei mit ihren Liebhaberpreisen, mit ihrer im
Sammelwesen sich auszeichnenden Sonderstellung trat deutlicher
erst um die Jahrhundertmitte hervor. Dann allerdings wurde die
407
;;£KQLAND
Entwicklung des Umschwungs zur Bibliomania [eine Bezeichnung,
die damals im Englischen schlechthin der der Bibliophilie im Fran-
zösischen entsprach] 9 die sich jetzt vollzog, rascher und rascher.
Die Bände, die der Arzt Askew auf der Büchereiversteigerung seines
Berufsgenossen und Freundes Mead 1754—1755 gekauft hatte, sind
1775 auf seiner eigenen zum doppelten und dreifachen Preise fort-
gegeben worden und wuchsen von nun an. Dabei begann man mit
bibliographischer Kritik die angenommenen von den vorhandenen
Werten zu trennen, d. h. von denjenigen, die aus den Beziehungen sich
ergaben, die in einem Buche die Verkörperung eines Werkes erkennen
ließen. Das hatte die Ausbreitung des Buchdrucks herbeigeführt. Die
Humanisten konnten den Verfasser allein in seinem Werke suchen, ihre
Nachfolger hatten ihn auch in denjenigen Ausgaben zu finden, die
durch ihre Ursprünglichkeit auf den Verfasser selbst zurückführten.
Feiner noch als früher Apogramm und Autogramm bestimmte man
jetzt das authentische Exemplar aus seinem Verhältnis zum Autor
und darüber hinaus aus der Buch- und Werkgeschichte. Der Be-
griff der editio princeps vervollkommnete sich bibliographisch in
den der original edition.
Einer Bücherversteigerung größten Umfanges, die die Auf-
lösung der Rawlinson-Sammlung veranlaßte, war man am Anfange des
achtzehnten Jahrhunderts freilich nicht gewachsen. Und diese Auk-
tion, die fünfzig Jahre später vielleicht, die Bücherfluten ihren Ka-
nälen zuführend, für den Altbuchhandel und die Büchersammlungen
ein Ereignis ersten Ranges geworden sein würde, verlief in einer ge-
waltigen Bücherüberschwemmung; kennzeichnend dafür, daß Bücher-
handel und Büchersammeln sich gegenseitig noch schwach stützten.
Thomas Rawlinson [1681—1725], der „Leviathanofbook-coUectors
during nearly the first thirty years of the eigteenth Century** nach
Th. Fr. Dibdins Urteil, repräsentierte seinen Landsleuten die Biblio-
mania in allen ihren Verwunderlichkeiten. Das Aufhäufen von
Büchern war sein Lebensinhalt. In England und den Niederlanden
herumreisend kaufte er Bilder, seine andere Leidenschaft, und Bücher.
Nicht ohne Plan, denn hauptsächlich suchte er die antiken Klassiker
in ihren besten und schönsten Ausgaben zu erwerben; vor allen
408
18. JAHBHUNDEBT
Dingen jedoch Druckwerke und Handschriften, die sich auf die eng-
lische Geschichte und Sprache bezogen, zusammenzubringen. Dieser
unbezähmbaren Büchersucht opferte er Lebensfreuden und Reich-
tum, ein Fanatiker des bedruckten Papiers. Nachdem seine Wohnung
in Grays Inn für die ständig wachsende Bücherzahl zu eng geworden,
siedelte er nach London House, einem alten Palast der Londoner
Bischöfe in der Aldersgate Street, über, wo bald doppelte, dreifache
Bandreihen mit Bücherwänden alle Räume durchzogen. Trotz seiner
sonstigen Sparsamkeit und trotz seines großen Vermögens brachte
ihn sein Bücheraufwand gegen Ende seines Lebens in Zahlungs-
schwierigkeiten. 1721 begannen die von Charles Davis und Thomas
Ballard geleiteten Bücherversteigerungen, die seinen Namen trugen.
Sie dauerten bis 1734. Aber sie ähnelten in ihrer Gesamtheit mehr
der Auflösung eines Buchhändlerlagers als der einer Büchersammlung.
Rawlinson, dessen Gelehrsamkeit seine Freunde zu schätzen wußten,
hätte vielleicht nur das Andenken an den Privatmann, der bis dahin
die meisten Bücher in England gehabt hatte, hinterlassen, wenn nicht
Thomas Addison [im Tatler*, No. 158] ihm die Bibliomaniac -
Charakteristik auf den Leib geschrieben hätte, ein Zerrbild, jedoch
ein Zerrbild, dessen Züge dem Leben nachgezeichnet wurden.
„Tom Folio ist einer jener Büchernarren, die sich damit
beschäftigen, gute Ausgaben aufzukaufen und die Bibliotheken
grofier Männer zusammenzutragen. Keine öffentliche Bücher-
versteigerung nimmt ihren Anfang, ehe Tom Folio zur Tür herein-
getreten; keine Auktion ist denkbar, bei der sein Name nicht im
letzten kritischen Moment, ehe der Hammer des Auktionators fällt,
gehört würde. Keine Subskription wird eröffnet, zu der man Tom
Folio nicht den ersten Subskriptionsplan zuschickt und kein Katalog
verläßt die Presse, der nicht noch erst in seine Hände käme. Er
besitzt, soweit es die Titelblätter aller Autoren betrifft, die um-
fassendste Gelehrsamkeit, kennt die von jedem großen Schriftsteller
vorhandenen Manuskripte sowie alle Ausgaben, die man davon ver-
anstaltet und jedes Lob oder jeden Tadel, den die verschiedenen
Größen der gelehrten Welt darüber ausgesprochen. Aldus schätzt
er höher als Vergil und Homer; und spricht man von Herodot, so
409
ENGLAND
bricht er in einen Panegyrikus über den Drucker Etienne aus. Er
glaubt, die erschöpfendste Schilderung eines Schriftstellers zu geben,
wenn er euch sagt, über was er geschrieben, euch den Namen des
Herausgebers und das Jahr nennt, in dem dieses oder jenes seiner
Werke erschien. Fragt ihr ihn nach anderen Einzelheiten, so redet
er von der Güte des Papieres, preist die Sorgfalt des Korrektors und
spricht mit Entzücken von der Schönheit des Druckes. Dieses alles
betrachtet er als tiefe Gelehrsamkeit und echte Kritik. Diejenigen,
welche von Feinheit des Stils und Klarheit der Gedanken sprechen
oder die Schönheit irgendeiner poetischen Stelle hervorheben, wird
Tom, auch wenn sie ebenso geistreich und talentvoll wären wie der
gerühmte Autor selbst, immer als Männer von oberflächlicher Bil-
dung und unbedeutendem Wissen betrachten.^^
Der Tadel traf die Besonderheiten, die das Auftreten der Biblio-
philen in dem gesellschaftlichen Treiben einer Grofistadt haben
mochte; sie unter den Gelehrten und Kunstfreunden sich schon in
eigenen Gruppen zusammenfinden ließ. Er traf weit mehr noch, ihren
Sinn verkennend, die Bemühungen der bibliographischen Studien
und den Zweck der bibliothekarischen Arbeit. Addison, der 1719
starb, sollte die Bedeutung der Bibliophilie für das ,encouragement
of learning' nicht mehr an dem ein Menschenalter später erstehenden
British Museum würdigen können. Doch bleibt die Frage offen, ob
er es getan hätte. Das aufbauende fehlte der Aufklärung oder gar
den Freidenkerparteiungen, die Politik und Religion nicht Schieden,
sondern verbanden. Dem Buch, ihrem Kampfmittel, stand sie
letzten Endes fremd gegenüber, mißtrauisch gegen seine geschicht-
liche Stellung. Nicht von ihr, weder in England noch in Frankreich
ist der Gedanke der Gemeinbildung getragen worden, den Bücher-
sammlungen für den Einzelnen oder die Gesamtheit verwirklichten.
Hier trennten sich schon wieder das ,Buch' und die , Presse*, diesmal
endgültiger, deren innere Einheit für das geistige Leben der Mensch-
heit Milton verkündet hatte.
Daß die Auflösung der Rawlinsonsammlungen eine erheblichere
Störung des Altbüchermarktes nicht herbeiführte, erwies die
Bridges-Auktion. Wenn damals trotzdem Nachlassen der Sammel-
410
18. JAHRHUNDERT
lust ZU spüren gewesen ist, dann hatte das noch andere, tiefere Ur-
sachen. Nicht ein plötzlicher Bücherüberfluß war es, der die Buch-
freunde wählerisch werden ließ. Ihr Zögern entsprang der sich
ändernden Einschätzung des Sammlerstückes, der kritischer werden-
den Unterscheidung zwischen alten und neuen Büchern schlechthin
und denen, die Liebhabern am schätzenswertesten schienen. Die
Liebhaberbücherei als solche begann sich durch ihre Ausstattung
und Auswahl von den Fachbibliotheken, den Familienbibliotheken
und den sonstigen Privatbibliotheken zu unterscheiden. Diese
Unterscheidung machte deutlicher die Bridges- Versteigerung er-
kennbar. John Bridges [1666—1724] hatte an 4000 Druckwerke
und Handschriften, hauptsächlich zur britischen Geschichte, mit
der noch selbstverständlichen Grundlage einer guten Büchersamm-
lung, den erlesenen Ausgaben der besten griechischen und römischen
Schriftsteller, um sich vereinigt. Schon ihr ungewöhnliches Ver-
steigerungsverzeichnis beschäftigte die Buchfreunde, denn sein
Titelholzschnitt trug unter dem Bilde einer gefällten Eiche, deren
Zweige von den Holzsammlern weggeschafft wurden, die griechische
Unterschrift : Apü&g ireerodoY)^ icAg dbvifjp ^uXeüeTo». Ein noch größeres Auf-
sehen sollte jedoch die im Februar 1726 von Mr. Cock geleitete,
in seinen Geschäftsräumen in Lincoln's Inn stattfindende Ver-
steigerung selbst machen, denn es wurde die erste englische Auktion,
in der Bücherlose einen Durchschnittspreis von einem Pfund er-
reichten. * Die Empörung unter den Sammlern war nicht gering, sie
argwöhnten, daß die hohen Preise nicht mit rechten Dingen zustande
gekommen seien und ließen es an Vermutungen und Vorwürfen
gegen den Auktionsleiter nicht fehlen, die der sparsame Bibliothekar
der Harleyan Library, Humphry Wanley, in seinem Tagebuche
zornig aufzeichnete. Immerhin, die hohen Preise waren bezahlt
worden. Die Buchhändler hielten sie für richtig, die Büchersammler
sahen schließlich in solcher Umwertung die Wendung zur Aner-
kennung des , besonderen' Buches, des Sammlerstückes. Und auch
sie wurden zufriedener.
Damals lebte eine Sammlergeneration, die für das Aufstapeln
der Bücher in der Verborgenheit einer Bücherstube keinen rechten
411
ENGLAND
Sinn hatte. Ebenso, wie der Altbüchermarkt auch die Bücher-
sammler mehr in die Öffentlichkeit treten liefi, ebenso gestaltete das
Sammeln selbst sich zu einer den Gedanken der Gemeinnützigkeit
hegenden Tätigkeit. Das Bibliotheksideal war, eine Bücherei zu
schaffen, die durch ihre Ordnung umfassend den Wissenschaften
diente; die womöglich den Gelehrten eine erwünschte Arbeits-
stätte wurde, die man ihnen zugänglich machte; die nicht mit ihrem
Schöpfer verschwand. Mit anderen Worten: es formte sich eine neue
Auffassung der öffentlichen Bibliothek, die sich nicht mehr auf die
engeren Kreise der Fakultäten und Universitäten einschränkte, die
eine Verbreiterung des encouragement of learning erstrebte. Die An-
lage der hervorragendsten englischen Privatbibliothek dieser Epoche,
der Harleyan Library, war schon ganz und gar darauf berechnet, sie
zu einem Gemeingut des Volkes und der Wissenschaften werden zu
lassen. Und es war kein Zufall, dafi damals in der ersten Reihe der
Bibliophilen Männer der Naturwissenschaften, der neuen Wissen-
schaften, standen, die das Buch als Forschungsmittel und Geistes-
werkzeug zu werten wußten. Man beklagte einen Verlust für die
Wissenschaften, als 1754 und 1755 die 30000 Bände der Bibliothek
des Arztes Dr. Richard Mead [1673—1754]* durch eine Versteige-
rung, die von Samuel Baker geleitet wurde und deren Erlös bis auf
£ 5509 stieg, wieder zerstreut wurden. In diese Bibliothek, in der
die Medizin und Philologie gleich gut vertreten gewesen waren, hatte
man leicht Zutritt gefunden, sie war weithin bekannt, benutzt, ge-
schätzt gewesen; ihre Auktion die erste englische, die nicht allein in
der engen Gemeinschaft der Sammler berühmt, die ein öffentliches
Ereignis wurde. Ahnliches galt für die Büchereiversteigerung des
Präsidenten der Royal Society und der Society of Antiquaries
Martin Felkes, die 1756 durch den gleichen Altbuchhändler
stattfand. Als Gelehrter nicht allzusehr hervorragend, hatte er es
durch sein verbindliches Wesen verstanden, ein hohes gesellschaft-
liches Ansehen zu erlangen; durch eine Art von Ubiquität wissen-
schaftlicher Art, die seinem vornehmen Wesen wohl anstand.
James West [1704—1772],* der später ebenfalls den Präsidenten-
stuhl der Royal Society einnahm, hatte gleich ihm in der Biblio-
412 *AU>.a83, 286
18. JAHRHUNDERT
philie ein Versöhnungsmittel zwischen Weltmannstum und Wissen-
schaftlichkeit gefunden und in seiner reichhaltigen, 1773 durch eine
Versteigerung aufgelösten, Sammlung, die Beziehungen glücklich
findend, alte und neue Richtungen klug zu vereinen verstanden; wie
es einem Manne nötig gewesen war, dessen Verdienste in der Organi-
sation der Wissenschaften zu finden waren. So bildeten die Folkes
und West aus der Fakultätsbibliothek strengen Stils, in der Form
der Liebhaberbücherei, eine die freiere Wertung der Wissenschaften
nach ihren Nutzzwecken und ihren Zusammenhängen erstrebende
Betrachtungsweise der Büchersammlung heraus, die einen Aus-
gleich zwischen Bildung und Gelehrsamkeit finden liefi. Der zu ge-
winnen war, da der Gelehrte jetzt für seine Gelehrsamkeit sich auf
seine Sondergebiete zurückzog, sonst aber von den Gebildeten sich
nicht weiter schied; wohl aber in den von seiner Fachwissenschaft
her sich verzweigenden Übergangs- und Grenzwissenschaften sich
den weiten Bereich der anderen Fachwissenschaften zugänglich
machen mufite. Die antiken Klassiker, die unter den 7000 Bänden
des Arztes und Philologen Dr. Anthony Askew [1722—1774], die
1775 unter den Hammer kamen, durch ihre Liebhaberausgaben und
ihre Liebhaberausstattung noch das Humanistenideal vertraten,
verschwanden zwar nicht aus den Büchereien. Aber die ausschließ-
lichen Bildungsrepräsentanten blieben sie nicht weiter. Der stolze
Bau der British Museum Library erhob sich, aus einer modernen
PrivatbibUothek, die der Präsident des Royal College of Physicians,
Sir Hans Sloane, als kostbare Stiftung seinem Volke hinterUefi. Kost-
bar durch ihren Inhalt, noch kostbarer durch die Absichten seiner
Stiftung, deren Erfüllung sie verlangte.
Die englische National- und Zentral-Bibliothek, das British
Museum in London, darf das Denkmal der Bücherliebhaberei Eng-
lands genannt werden. Als es am 15. Januar 1759 eröffnet und dem
Gemeinwohl nutzbar gemacht wurde, bildeten drei große Privat-
sammlungen den Grundstock seiner Archiv-Bibliothek: die Cotton-
und Harleyan-Manuskripte, von unvergleichlichem historischem Wert
die Sloane CoUections, in denen die beginnende naturwissenschaft-
lich neue Zeit sich ankündigte. Anders als in den alten Kathedral-
413
ENGLAND
und Universitätsbibliotheken, ehrwürdig durch die Überlieferungen
der Vergangenheit, die sie, die Geistes- und Gotteswissenschaften
hütend, weitergaben, ist das British Museum entstanden. Der Leit-
gedanke seines Planes, das Beste aus Kunst und Wissenschaften in
einer großen öffentlichen Sammlung zusammenzufassen, ließ sich
allmählich erst, bei der Anordnung der bereits vorhandenen Bestände,
in festere Urmisse zwingen. Die Verfahren der Verwaltungsarbeit,
die hier zu leisten war, mußten ausgebildet, die einem neuartigen
Unternehmen sich entgegenstellenden sonstigen Widerstände wirt-
schaftlicher und wissenschaftlicher Art mußten beseitigt werden.
Die Anfänge, die Versuche verzögerten sich, weil die Muster für den
neuartigen Rahmen der jetzt zu leistenden Sammelarbeit fehlten.
Die Aufgabe begriff man im common sense leichter als ihre in der
Ausbildung einer modernen Bibliotheks- und Museumstechnik
liegende Lösungen. Mit den alten Mitteln ließ sich das Organi-
sationsproblem nicht fördern, seine hauptsächliche Schwierigkeit
war es, diese Mittel durch neue zu ersetzen oder wenigstens weiterzu-
bilden; nicht lediglich in der Beherrschung der Betriebseinrichtungen,
mehr noch in der der neuen Geistesrichtungen, die die herrschen-
den wurden.
Sir Hans Sloane [1660-1753], 1727 Nachfolger Isaak New-
tons als Präsident der Royal Society, der Leibarzt Georges L, hatte
in seinem langen Leben, unterstützt von seinen vielen gesellschaft-
lichen und wissenschaftlichen Beziehungen, gefördert durch sein
großes Vermögen — er konnte für seine Sammlungen 80000 Pfund
ausgeben — ein großes naturwissenschaftliches Museum [das er ins-
besondere in Westindien, wo er von 1687—1690 als Leibarzt des
Herzogs von Albemarle lebte, sowie mit den Sammlungen seines
Freundes, des Handelsherrn William Courten [1642—1702] be-
reicherte] und eine prachtvolle Bibliothek naturwissenschaftlicher
Werke in seinem Landsitze in der Gemeinde Chelsea gegründet.
Museum und Bibliothek [neben der naturwissenschaftlichen Samm-
lung 32000 Münzen und Medaillen, 2000 geschnittene Steine, zahl-
reiche Antiquitäten, 3516 Handschriften, 40000 Druckwerke] wur-
den nebst seinem Landsitze, gemäß seinem Testamente vom 10. Juli
414
18. JAHRHUNDERT
1749, dem englischen Volke für 20000 Pfund zum Kauf angeboten,
und diese Stiftung des „Sir Hans" gab damit den Anlaß zur Grün-
dung des British Museum.
Im Jahre 1753 beriet das Parlament die ,, Vorlage für den An-
kauf des Museums oder der Sammlung des Sir Hans Sloane und der
Harleyan Collection von Manuskripten und für die Beschaffung eines
einheitlichen General-Repositoriums für die bessere Aufbewahrung
und die bequemere Benutzung der erwähnten Sammlungen und der
Cotton Library und der Erweiterungen dazu.** Um die zum Ankauf
der Sloane-Sammlung und zur Einrichtung des ,, General-Reposi-
toriums*' nötigen Geldmittel aufzubringen, entschloß man sich zu
einer Staatslotterie. Diese von dem berüchtigten Makler Leheup
geschäftlich geleitete Lotterie führte zu wilden Spekulationen und
brachte vielen schwere wirtschaftliche Schädigung. Jedenfalls aber
brachte die Lotterie auch die notwendigen Mittel. Man konnte 1754
das 1686 erbaute Montague-House vom Earl of Halifax erwerben und
entsprechend ausbauen, 1759 das fertiggestellte und eingerichtete
Museum eröffnen; nachdem man in ihm die Harley-Manuskripte
schon 1755, die von König Georg IH. 1757 geschenkte Royal Li-
brary, die Sloane-Collection und Cotton-Manuskripte, sowie die
mit diesen bereits 1738 vereinigte Bibliothek des Majors Arthur
Edwards, 1758 aufgestellt hatte.
Daß nicht die ganze Harleyan Library, der unmittelbaren Vor-
läuferin der British Museum Library, deren Auf- und Ausbau festigte,
zeigt, wie neu und noch oft unverstanden der Gedanke des großen
nationalen Werkes in den frühen Jahrzehnten seines Keimens und
Sprossens gewesen ist. Besaß doch diese Privatbibliothek, die Aus-
lese von hundert anderen, die besten Bücher aller Länder, Sprachen
und Wissenschaften. Als Robert Harley [1], Earl of Oxford
[1661—1724],* der als Politiker ebenso des Glückes Gunst wie Un-
gunst erfahren hatte, gestorben war, bezeugte Pope diesem Edel-
mann, daß er ,,left behind him one of the finest libraries in Europe*'-
Ein nicht übertreibendes Urteil. Denn der Ehrgeiz literarischer Re.
Präsentation hatte die Bibliotheca Harleyana zu einer Büchersamm-
lung gemacht, die in ihrer Heimat die bis dahin hervorragendste
^ Abb. 282 4j[5
ENGLAND
Privatbibliothek war. Ihre Anfänge — sie befand sich, bevor Robert
Harley Peer wurde [1711], in seinem in Cambridgeshire gelegenen
Landsitz Wimple — verbanden sie mit den ehrwürdigen Über-
lieferungen der Universität Cambridge, wo ihr Begründer sich gern
Hilfe und Rat holte. Ihre Auflösung bedeutete den Beginn der mo-
dernen Epoche britischer Bücherliebhaberei und eine erhebliche
Förderung für den Ausbau des British Museum, ihr kurzes Vorhanden-
sein das Beispiel einer Art des Büchersammelns, die seitdem in Eng-
land die vornehmste war. Zwar hatte Earl Edward [1689—1741],
an Eifer und Freigebigkeit seinem Vater gleichend, den ererbten
Schatz noch erheblich zu vermehren verstanden. Aber der Aufwand
der Lords hatte das Familienvermögen gemindert und Margarete,
Duchess of Portland, an die der Besitz der beiden Bibliophilen kam,
konnte die kostbare Sammlung nicht weiterführen. Die Hand-
schriften [7639 Buchhandschriften und 14236 Urkunden] bot sie um
den zehnten Teil des Wertes dem Staate an. Ein Parlamentsbeschluß
von 1753 billigte den Ankauf für 10000 Pfund [oder nur 4000 Pfund
mehr als der Earl of Oxford allein für eine einzige der von ihm er-
worbenen Manuskriptkollektionen, die Sir Symonds d'Ewes'sche
bezahlt hatte] und führte damit wenigstens diesen Teil der Biblio-
theca Harleyana dem British Museum zu. Die Druckwerke [etwa
50000 Bände, 41000 Einzelblätter, 350000—400000 Kleinschriften]
gelangten schon vorher in den Handel. Der Buchhändler Thomas
Osborne, Grays Inn, hatte sie für 13000 Pfund erworben und zum
Verkauf gestellt, der das bemerkenswerteste bibliographische Er-
eignis Londons seit dem Angebot von Mr. Bridges Büchern wurde.
Freilich hatte auch hier der Kaufpreis nicht einmal diejenigen
Bucheinbandkosten erreicht, die lediglich die letzten Sammlungsteile
verursacht hatten. [18000 Pfund.] Denn auch darin waren Robert
und Edward Harley beispielgebend für die Bibliophileneleganz in
England gewesen, daß sie ihrem Bibliothekbande — allerdings bis-
weilen damit alte Einbände, die einer Erhaltung Wert gewesen sein
würden, zerstörend — eine vielbeachtete Aufmerksamkeit widmeten,
an die die Bezeichnung des seit etwa 1720 zur Bibliophilenmode
werdenden „Harleian style^* erinnert. Sie ließen ihre Bücher von
416
18. JAHRHUNDERT
den tüchtigen Meistern Eliot und Chapman hauptsächlich in rotes,
übrigens fast immer schlechtes, Ziegenleder binden und mit einer
eigenartigen Handvergoldung schmücken. [Die Deckenumrahmung
dieser Bände besteht aus einer dreifachen Linienumrandung nach
französischer Weise, an die sich eine breitere Randleiste schließt,
die aus zwei oder drei verschiedenartig benutzten Stempeln, denen
des öfteren das Besitzerzeichen des Tannenzapfens eingegliedert ist,
gebildet wurde. Als Mittelstück diente ein rautenförmig angeord*
netes Muster.] Das Bibliotheksideal, daß die Harleys noch hatten,
Qualität und Quantität zu vereinen, hatte sich für ihr ausgedehntes
Sammlungsgebiet, das den Plan einer Universalbibliothek, wie ihn
das siebzehnte Jahrhundert verstand, befolgte, bis zur endgültigen
Vollständigkeit nicht mehr verwirklichen lassen. Aber daß ihr Sam-
meln neben dem äußeren Glanz der Bibliothek, den ihr auch die
Griffelkunstblätter und Kupferstichwerke verliehen, bibliographisch-
bibliothekarisch zu reden, eine Aufnahme des Bestandes der eng-
lichen Literatur bis zum Ende des siebzehnten Jahrhunderts er-
strebte, aus der, buchhändlerisch zu sprechen, die führenden eng-
lischen Liebhaberwerte hervorgingen, auch unscheinbarere biblio-
graphisch-literarhistorische und typographische Werte aufzufinden
verstand; das machte es vorbildlich für die Bibliophilie Englands.
Agenten, die einen eben entstehenden Altbuchhandel mit festen
Geschäftsgewohnheiten ergänzten, gaben auch bereits dem Einzel-
stück Bedeutung, obschon die billigen Druckwerkpreise einer Exem-
plarschätzung noch lange entgegenwirkten. [Schied doch sogar das
British Museum noch um 1800 Dubletten aus, die es jetzt unter
seinen Cimelien verwahren würde.] Wenn Robert und Edward
Harley für ihre Privatbibliothek bisher in England unerhörte Un-
kosten hatten, obschon ihr Bibliothekar H. Wanley in dem Rufe
stand, nichts ohne Feilschen zu erwerben, so werden diese den Hand-
schriftenkäufen und bei den Druckwerken hauptsächlich den Buch-
einbänden zuzuschreiben sein. Andererseits war auch die Auslese
nicht so sorgfältig, wie bereits ein Jahrhundert später, was ein Ver-
gleich der Bibliotheca Harleiana mit der Bibliotheca Heberiana
zeigt.
BOOENO 27 417
ENGLAND
Die abweichende Einschätzung literarischer und typographischer
Werte, die bei ähnlichen Vergleichungen einzelner Entwicklungs-
stufen der Bibliophiliegeschichte niemals übersehen werden sollte»
hat das Andenken an John Bagford [1650-— 1716],* der fünfund-
sechzigjährig 1716 in London starb, als das eines verabscheuungs-
würdigen Biblioklasten erhalten. Indessen war er, der ehemalige
Schuhmacher, den Begabung und Neigung auf den Beruf eines
Bücherjägers verwiesen hatten, obschon ohne eigentliche gelehrte Bil-
dung, keineswegs der Bücherschädling gewesen; der gierigste und
räuberischste aller Sammler, zu den ihn die von Dibdin verbreitete
Legende gemacht hat. Er hat, auch auf Einkaufsreisen in Deutsch-
land und Holland, dem Bischof John More und dem Earl of Oxford,
der seinen ganzen mit den Harleyan-Manuscripts an das British
Museum übergegangenen Nachlafi, darunter auch die sogenannten
Bagford Ballads erwarb, die brauchbarsten Dienste geleistet. Aller-
dings mag er, um seine Blattsammlung zur Buchdruckgeschichte zu
vervollständigen, eine Menge alter Bücher zerstört haben. Jedoch
sein Vorhaben, eine allgemeine Buchgeschichte auf ihre buchgewerb-
lichen Unterlagen zurückzuführen, ist, zumal für die damalige Be-
trachtungsweise des Buches, von einer Originalität gewesen, die eher
Anerkennung als Verachtung verdienen würde. Die Bucheinband-
teile übersah er ebensowenig wie die Kennzeichen alter Papiere. Ob
er dann selbst der Mann gewesen wäre, nach seinen Entwürfen ein
geschichtliches Werk zu schreiben, ist eine andere Frage, der eine
Antwort zu geben um so müßiger scheint, als die Wissenschaft vom
Buche erst in den letztverflossenen Jahrzehnten die mannigfachen
buchgeschichtlichen Sonderuntersuchungen unter denjenigen Ge-
sichtspunkten zu vereinen sich bemühte, die im wesentlichen auch
die John Bagf ords gewesen sind. Daß sein Beispiel in den englischen
und amerikanischen Grangerizermethoden unnützlich weiterwirkte,
ist nicht eine Beschuldigung, die ihn anklagt und nicht eine Ent-
schuldigung für die, die etwa seine Nachahmer wurden, ohne den
Sinn seiner Blättersammlung zu verstehen. In Bagfords Tagen
machte man zwischen den älteren und den ältesten Druckwerken
noch keine besonders strengen bibliographischen Unterschiede. Die
4 j^g * Abb. 27S
18. JAHRHUNDERT
Beschäftigung mit dem englischen Buchwesen und Schrifttum der
Vorzeit schränkte sich auf einen kleinen Kreis von Liebhabern ein;
die meisten Sammler suchten anderes für ihre Bibliotheken, ins-
besondere die editiones optimae der antiken Klassiker. So wurden
die, die Bagfords Schüler waren oder doch seinen Spuren folgten,
Sir John Fenn, Thomas Martin of Palgrave und andere,
weit eher zu Bücherrettern, die durchaus nicht die alten Bände, die
sie bargen, zerschnitten.
Der Altbuchhändler, der die beste in seinem Lande vorhandene
Liebhaberbücherei ankaufte, um sie geschäftlich zu verwerten, hat in
mancher Hinsicht dem Antiquariat Englands die Entwicklungsrich-
tung zu seinen Formen, die noch in der Gegenwart gelten, bestimmt.
Von etwa 1727 bis 1767 beherrschte Thomas Osborne — er starb
am 27. August 1767 und hinterließ das ansehnliche Vermögen von
40000 Pfund -— den Altbüchermarkt Englands, indem er sein Lager
ständig auch mit den hervorragenden Privatbibliotheken, die auf-
gelöst wurden, bereicherte. Indem er sich so mühte, den Bücher-
kreislauf in die Antiquariatskanäle zu leiten und dabei erfolgreich
genug war, wie seine Kataloge zeigen, konnte er allmählich dazu bei-
tragen, daß die Bildung fester Liebhaberwerte sich auch auf dem
englischen Büchermarkt vollzog; daß die Preise in ihrem Verhält-
nisse zu den bibliographischen Werten sich fester regelten; daß An-
gebot und Nachfrage und nicht allein der Zufall dem Büchersammel-
wesen nutzbar wurde. Daß der dicke kleine Herr nicht als Gelehrter,
sondern als Geschäftsmann darauf bedacht war, den Altbuchhandel
zu vervollkommnen, kann kein Vorwurf sein. Er machte zwar eine
laute Reklame, aber das war sein gutes Recht. In den von ihm ver-
öffentlichten Zeitungsanzeigen finden sich bereits die auch heute noch
nicht ungewöhnlichen Übertreibungen, mit denen er für seine Buch-
ware warb. Und es fehlte in ihnen ebensowenig die bekannte Wen-
dung, Käufer, die seine Kataloge nicht erhielten, sollten sie schleu-
nigst bestellen, wie die Mahnung an die Nichtkäufer, die Kataloge
weiter- oder zurückzugeben. Vielleicht bezeugt die Vorteile, die
die Art des Geschäftsbetriebes Osbornes für die Ausbildung gleich-
mäßiger Verkehrsformen im Antiquariat brachte, auch ein eigenes
27« 419
ENGLAND
Erlebnis, das er mit Mr. David Papillon, einem kenntnisreichen
und wohlhabenden, 1762 gestorbenen, Sammler hatte. Dieser hatte
ein Abkommen mit dem Buchhändler getroffen, er solle ihm für
100 Pfund Bücher zum Preise von drei Pence das Stück liefern, unter
der Bedingung, daß alle Bücher gut erhalten, vollständig und nicht
doppelt vorhanden seien. Allmählich konnte Osborne die Massen
billiger Bücher nicht mehr aufbringen, er mufite diese durch solche
ersetzen, die ihm mehrere Schillinge kosteten und schließlich um
die Aufhebung des Vertrages bitten, der ihm die Lieferung von 8000
Dreipence-Werken auferlegt hatte. Die Anekdote beweist nicht nur,
daß dem Antiquar die Berechnung des genauen Geschäftsganges
notwendig wird, sobald die Entwicklung von Liebhaberwerten stän-
dig zunimmt, wenn er sich behaupten will. Sie zeigt auch aufschluß-
reich den Buchdurchschnittspreis — er schwankte zwischen drei
bis fünf Schillingen — , den die Bibliophilen Englands in der Epoche
der Harleyan Library zu zahlen pflegten.
Der Absicht Osbornes nach sollte die Ausgabe des Harleyan-
Kataloges Antiquariat und Bibliophilie in England durch ein biblio-
graphisches Wahrzeichen zusammenführen. Und wenn die Aus-
führung seines großzügigen Planes scheiterte, trug er daran die ge-
ringste Schuld. Zur Bearbeitung des Verzeichnisses waren Johnson,
Maittaire, Oldys als Autoritäten gewonnen worden, sie sollte derart
wissenschaftlich erfolgen, „that the books shall be distributed into
distinct classes, and every class arranged with some regard to the age
of the writers ; that every book shall be accurately described ; that the
pecularities of the editions shall be remarked, and observations from
the authors of literary history occasionally interspersed, that by
this Catalogue posterity may be informed of the excellence and
value of this great collection, and thus promote the knowledge of
scarce books and elegant editions. ^^ Der Katalog hätte also, wenn
Osbornes eben angeführte Worte richtig verstanden wurden, eine
Art englisches Bibliophiliesystem und der Buchhändler, der ihn
herausgab, ein arbiter elegantiarum auf bibliographischem Gebiet
werden können. Aber Maittaire, der auch die lateinische Widmung
an den Staatssekretär Lord Carteret geschrieben hatte — bemerkens-
420
18. JAHRHUNDERT
wert ist der Bibliothcae Harleianae Catalogus nämlich auch noch
dadurch, daß er ein Übergang der lateinischen Verzeichnisse in die
englischen wurde — hatte die allgemeine Einteilung nachlässig und
unsicher vorgenommen. Und auch R. Johnson, der die später dem
ersten Bande vorangestellten , Proposais' für die Drucklegung ver-
faßte, lieferte, nach Dibdins gegen Boswell gerichtetem Urteil, ge-
rade kein Meisterstück. Dazu kam, daß der Band fünf Schillinge
kosten sollte, was besonders von den andern Buchhändlern zu
spöttischem Widerspruch ausgenutzt wurde. Kurz und gut, Osborne
verzichtete noch während des Druckes auf die Ausführung seines
Katalogplanes, nicht aber auf den Katalogpreis. Doch erbot er sich,
entweder für diesen noch andere Bücher zu liefern oder den Katalog
zurückzunehmen, verfuhr also auch dabei geschäftstüchtig groß-
zügig. Der Verkauf begann Dienstag den 14. Februar 1744 in den
Büchersälen des in der Albemarle Street gelegenen Oxford Palastes.
Um Unordnungen zu vermeiden, war vorher kein Zutritt gestattet
worden. Den, wie Dibdin zeigte, durchaus unberechtigten Vor-
würfen einer allzu gewinnsüchtigen Preistreiberei ließ Osborne durch
Johnson eine Antwort geben, die ein buchhändlerischer Epilog der
Auflösung der Harleyschen Privatbibliothek ist: ,,If, therefore,
I have set a high value upon books, if I have vainly imagined litera-
ture to be more fashionable than it really is, or idly hoped to revive
a taste well-nigh extinguished, I know not why I should be per-
secuted with clamour and invective, since I shall only suffer by my
mistake, and be obliged to keep those books which I was in hopes of
selling.'^ Es war um 1750 noch weit bis zum Ausbruch der Bibliomania.
Hatte doch Königin Anne ihrem Lord Schatzmeister Harley,
als er ihr vorschlug, Sir Symonds d*Ewes [1602—1656] Hand-
schriftensammlung, die kostbarste und reichhaltigste in England
nach der von Sir Robert Cotton zusammengebrachten, anzukaufen,
geantwortet: „It was no virtue for her, a woman, to prefer, as she
did, arts to arms; but while the blood and honour of a nation were
at stake in her wars, she could not, tili she had secured her living
subjects an honourable peace, bestow their money upon dead letters."
Das war die öffentliche Meinung in dieser Sache und Robert Harley,
421
ENGLAND
der ein Nationalarchiv nun selbst aus eigenen Mitteln vor der Zer-
streuung bewahrte, kam auch damit in den Ruf eines Verschwenders.
Freilich hatte er darauf verzichten müssen, die ihm 1714 für 8000
Pfund angebotene, 30000 Bände mit etwa 2000 Handschriften um-
fassende Bibliothek John Mores, Bischofs von Ely [1646 — 1714]*
anzukaufen, die dann 1715 Georg I. für 6000 Pfund erwarb und der
Universität Cambridge zuwies. Der Bischof, der „Vater der black
letter Sammler**, der bei seinen Erwerbungen in den Büchersamm-
lungen seiner Diözese [nach Mr. Goughs Urteil] mit frommen Segens-
wünschen und Selbsttröstungen: ,quid illitterati cum libris* nicht
sparte, hatte die Aufmerksamkeit der Bücherkenner auf die eng-
lischen Drucke des fünfzehnten, sechzehnten, siebzehnten Jahr-
hunderts gelenkt und derart diejenige Sammelrichtung eingeleitet,
die noch heute in den klassischen Bibliophilie-Systemen der englisch
sprechenden Länder maßgebend scheint. Allerdings, der Antiquar
trennte sich vom Bibliophilen erst bei den sich bibliographisch ge-
nauer orientierenden Büchersammlern; und auch unter ihnen war
Robert Harley einer der ersten gewesen, obschon sein Sammlungs-
verfahren, das Aufkaufen, ihn weit weniger zum Auslesen als zum
Aussondern zwang. Der Ausbau der Bibliotheca Harleiana in kaum
einem Halbjahrhundert war damals nur derart möglich gewesen,
daß sie sich das Beste aus über einem Hundert anderer Privat-
bibliotheken zueignen konnte. Das Aufkaufen bemerkenswerter
Büchermassen führte dazu rasch, freilich ohne die Mittel zu sparen,
zum Ziel und es ist seitdem, gegenwärtig als amerikanisch groß-
zügige Sammeltechnik vielbewundert, bei den großen Sammlern der
englisch sprechenden Länder beliebt geblieben. Nicht zum
wenigsten auch deshalb, weil die allmählichen Bereicherungen der
berühmten Büchersammlungen mit erlesenen Sammlerstücken die
Arbeit der Vorgänger weit nutzbringender, auch wirtschaftlich weit
nutzbringender zu verwerten gestattet, als das im Anfange des acht-
zehnten Jahrhunderts noch der Fall war. Man braucht nur die Ent-
stehung der Harleyan Library mit der der Morgan Library oder der
Huntington Library zu vergleichen, um die Ausbildung des Bücher-
sammelwesens von 1720 bis 1920 kennen zu lernen.
422 * ^^' *^
18. JAHEHUNDEET
Im Jahre 1774 gab der Londoner Buchhändler Paterson einen
Auktionskatalog heraus, dessen schon zur Gewohnheit gewordener
langatmiger Titel verkündete, er sei: A Catalogue of rar^e books and
tracts in various languages and faculties, including the Ancient Con-
ventual Library of Missenden Abbey in Buckinghamshire, together
with some choice remains of that of the late eminent Sergeant at
Law, William Fletewode, Esq., Recorder of London in the reign of
Queen EUzabeth ; among which are several specimens of the earliest
typography, foreign and English, including Caxton, Wynkyn de
Worde, Pynson and others ; a fine coUection of EngUsh history, some
scarce old law books, a great number of old English plays, several
choice MSS. upon vellum, and other subjects of literary curiosity . . .
Diese Bibliotheca Monastico-Fletewodiana, der übrigens, aus
anderem Besitz, der Versteigerer auch neuere Werke hinzugefügt
hatte, war keine abgerundete Büchersammlung mit dem Ansehen,
das ihr ein bekannter Bibliophilennamen hätte geben können; und
die Preise, mit der ihre Schätze bewertet wurden, blieben niedrig.
Immerhin wurde sie in ihrer Art epochemachend, weil sie am Anfange
der Bewegung steht, die im letzten Viertel des achtzehnten Jahrhun-
derts das altenglische Buch zum fortan führenden der englischen Lieb-
haberbüchereien werden liefi und damit gleichzeitig eine Umwand-
lung der bisherigen Liebhaberwerte vollzog, indem die antiken
Klassiker den nationalen weichen mußten. Anfangs blieb noch das
archäologisch-typographische^ das historische und Raritätsinteresse
richtunggebend, die Romantik des blackletter book und der gothic
library. Nach und nach jedoch kam die literarhistorische Sonderung
der alten Büchermassen zu einer fester werdenden Systematik, die
für die Bibliophilenbibliotheken sie in der Dreiteilung der Druck-
werke des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts sonderte, die
man den Hauptwerken britischer Geschichte, engUscher Dichtung
und englischer Wiegendrucke zurechnete. Wobei dann die biblio-
graphische Forschung auf das Entstehen immer neuer Spezial-
koUektionen einwirkte; eine in ihren Einzelheiten nicht einfach zu
verfolgende Entwicklung, weil das ältere Druckwerk an und für sich
im achtzehnten Jahrhundert der Beschäftigung der Büchersammler
423
ENGLAND
manche eigene Richtung gegeben hatte. Aber was jetzt immer
schärfer hervortrat, war die nationale Tendenz, die Beschränkung
auf die Bevorzugung derjenigen Sammelgebiete, die recht eigentlich
englische waren.
Die Beutelust der ^black letter dogs', die Bände und Bündel in
ihre ,gothic library* schleppten, steigerte sich allgemach bis zur
Sammelwut. Da war der originale Krämer John Ratcliffe, der,
als er 1776 starb, eine der schönsten Büchereien dieser Art hinter-
ließ. Man erzählte sich, daß er manche ihrer besten Stücke als Alt-
papier nach dem Gewicht gekauft habe. Aber das Verzeichnis
seiner 1776 durch Christie ausgerufenen Bibliothek erwies, daß sein
Glück von seinen Kenntnissen reichlich unterstützt gewesen sein
wird. Und bei seinen Donnerstag-Frühstücken, die in hohem An-
sehen ihres vortrefflichen Stilton- Käses wegen standen, saßen um
den Tisch des jovialen und korpulenten Mannes die angesehensten
Sammler, die Askew, Croft, West, um seine neuen Erwerbungen
zu bewundern. Sogar Johnsons fashionabler Freund, Topham
Beauclerk [1739—1780] pflegte sich regelmäßig einzufinden, der
in einem kurzen Leben an 30000 Bände vereint hatte, die freilich an
Wert sich mit denen des Kabinettes dieses ungewöhnlichen Kolonial-
warenhändlers nicht vergleichen ließen; obschon sie im dramatischen
und historischen Fache Reihen bildeten, die sich sehen lassen durften.
Ihre Auktion, die 1781 Palerson besorgte, blieb denn auch weit hinter
der von ihm 1783 geleiteten Bibliotheca Croft siana zurück.
Mit Recht durfte über den Sammler und das Verzeichnis, in dessen
Vorrede, gesagt werden: The great reputation which the late Rev.
an learned Mr. [Thomas] Crofts had acquired, with respect to biblio-
graphical knowledge, cannot be better established than by the
foUowing digest of bis excellent library, in which no pains have been
spared to render it worthy the character of the coUector, and such
as he himself, it is presumed, would not have disapproved. The
coUection on the 'Origin of Letters', and of Grammars and Dictio-
naries, is admirable, and much fuller of curious books than is to be
found in many libraries of the first description. The theological
divisions comprehend many curious and valuable articles . . . The
424
18. JAHRHUNDERT
classical part of the library is indeed a treasure of Greek and Roman
learning, comprising many of the early editions, almost all the
Aldine editions, and those of the best modern commentators/' Auch
die ältere italienische, portugiesische, spanische Literatur fand sich
in bester Auswahl in dieser Bibliothek eines Buchfreundes und Ge-
lehrten, die anders als die bald nachher verkaufte Büchersammlung
Dr. Johnsons die Vereinigung von Bildung, Gelehrsamkeit, Ge-
schmack erläuterte.
Den Engländern ist nicht der Geschmacksrichter Dr. Samuel
Johnson teuer, der 1708 als der Sohn eines Buchhändlers zu Lich-
field geboren wurde und 1784 m London als ein Bücherherrscher
starb; nicht der Mann, dessen Nachruf in den Zeitungen lautete:
„Georg II L hat seinen berühmtesten Untertan verloren"; nicht der
Verfasser des Wörterbuches der englischen Sprache: nein, einen ganz
anderen Johnson verehren sie als den ,,old Doktor'* und den ge-
achtetsten Besucher der Mitre tavern in der Fleet Street. Dr. Sa-
muel Johnson ist das bemerkenswerteste Beispiel für die Macht der
Biographie, das die neuere Schrifttumsgeschichte kennt und in dem der
Beschreibung seiner Lebenszüge gewidmeten Buche hat sein Biograph
Boswell der britischen Persönlichkeit ihr Denkmal gesetzt. So ist
Samuel Johnson zur Verkörperung altenglischen Wesens geworden.
Den Eifer oder die Eitelkeit eines Büchersammlers hatte Dr.
Samuel Johnson nicht. Er behandelte die Bücher, die er las, so gut,
als das seine Bequemlichkeit erlaubte, d. h. recht schlecht. ,Books',
sagte er zu Boswell, „that you may carry to the fire, and hold readily
in your band, are the most useful after all.'' Und er las auch beim
Essen oder riß die Bogen auseinander, anstatt sie langsam aufzu-
schneiden. Ja, er machte darin keinen Unterschied zwischen den
eigenen und den entliehenen Büchern, die er nicht immer gern
zurückgab, was seine Freunde wohl wußten. In Staub und Un-
ordnung lagen die Bände der Bibliothek Johnsons durcheinander,
deren Wahl keineswegs auf die Äußerlichkeiten bedacht gewesen
war und nicht die besten und schönsten Ausgaben herausgesucht
hatte; einer Bibliothek, die für die Arbeit am Dictionary angelegt
worden ist. Es läßt sich annehmen, daß der alte Doktor in seinem
425
ENGLAND
Verhältnis zu den Büchern weder ein Elegant noch ein Pedant ge-
wesen isty und vielleicht war dieser ihm auch mit Voltaire gemeinsame
Grundzug seines Wesens — auch der große französische Kritiker
besaß weder ein Bücherherz noch eine geordnete Büchersammlung
— eine Äußerung der Mißachtung bedruckten Papiers, die viele
Polygraphen bewiesen haben.
Nach Dr. Samuel Johnsons Tod wurde seine Bibliothek in Mr.
Christies großem Auktions-Saal in Pall Mall am 16. Februar 1785
versteigert. Der „Catalogue of the Valuable Library of
Books, of the late learned Samuel Johnson, Esq., LI. D.;
Deceased'* zählt, außer den Stichen, 650 Lose auf, die ihrerseits
wieder eine größere Anzahl von Bänden unter einer Nummer ver-
einten. Er verzeichnete auch nicht den ganzen Büchernachlaß John-
sons, der eine Anzahl von Werken seinen Freunden vermacht hatte,
von denen Reynolds unter anderem das Handexemplar der letzten
Ausgabe des Wörterbuches erhielt. Buntscheckig, unpersönlich,
unvollständig ist dieser Auktionskatalog, in dem sogar eigene, ihm
gewidmete oder von ihm lobend erwähnte Schriften des berühmten
Kritikers und Lexikographen ebenso fehlen wie fast kein Buch dieser
Versteigerung als eine den Liebhabern schätzenswerte Kostbarkeit
oder Seltenheit erschien. Sie ging auch ziemlich unbeachtet vorüber,
nicht einmal „London Chronicle'*, Dr. Samuel Johnsons Lieblings-
zeitung, erwähnte sie; ihr Erlös, 247 Pfund 9 Schillinge, war nur gering.
Vielleicht hatten sich bei ihr selbst die Freunde nicht beeilt, ein An-
denken zu erstehen. Denn der gelehrte Doktor hatte ja die von den
Freunden entliehenen Bücher wie die eigenen behandelt und sie mit
seinen durchaus nicht verschönernden Randbemerkungen zurück-
gegeben, in denen er den Stoff für das Wörterbuch anhäufte, obschon
er im übrigen ein Gegner solcher Randschriften war, weil er, ein auf-
merksamer Leser, sie als hemmend und hinderlich ansah.
,It is the practice of many Teaders to note, in the margin of
their books, the most important passages, the strongest arguments,
or the brightest sentiments. Thus they load their minds with super-
fluous attention, repress the vehemence of curiosity by useless deli-
beration, and by frequent interruption break the current of narration
426
18. JAHRHUNDERT
or the chain of reason, and at last close the volume, and forget the
passages and marks together. Others I have found unalterably per-
suaded that nothing is certainly remembered but what is transcribed ;
and they have theref ore passed weeks and months in transferring large
quotations to a commonplace book. Yet, why any part of a book, which
can be consulted at pleasure, should be copied, I was never able to
discover. The band has no closer correspondence with the memory
than the eye. The act of writing itself distracts the thoughts, and
what is read twice is commonly better remembered than what is
transcribed. This method therefore consumes time whitout assisting
memory. The true art of memory ist the art of attention. No man will
read with much advantage, who is not able, at pleasure, to evacuate
bis mind, or who brings not to his author an intellect defecated and
pure, neither turbid with care, nor agitated by pleasure. If the
repositories of thought are already füll, what cant they receive?
If the mind is employed on the past of the future, the book will
be held before the eyes in vain. What is read with delight is commonly
retained, because pleasure always secures attention: but the books
which are consulted by occasional necessity, and perused with im-
patience, seldom leave any traces on the mind. [The Idler 74.]
Dr. Samuel Johnson, der einmal [Adventurer 137] der Betrachtung,
weshalb und wie Bücher gelesen werden, ein paar vernünftige Zeilen
gewidmet hat, blieb allen Übertreibungen in der Gelassenheit seines
Wesens fremd. Die Unterscheidung zwischen dem fruchtbaren
Lesen aus Begabung, Neigung und Stimmung, die er in einer Unter-
haltung mit I. Boswell diesem empfahl, und dem Arbeitspflichtlesen,
zu dem Beruf und Geschäfte zwingen, hat er mit klarer Unbeküm-
mertheit gegenüber jener Dummheit oder Heuchelei vertreten, die
die Meinung verteidigte, ein Mensch müsse die Bücher, mit denen
er es zu tun habe, immer durchlesen. Es ist die bekannte Antwort,
die er Mr. Elphinston auf die Frage gab, ob er ein neues Buch gelesen
habe. ,,Ich habe hineingesehen.'' Und die, als der Erstaunte er-
widerte: „Wie, Sie haben es nicht durchgelesen?*' sich zur Abwehr in
der Gegenfrage erhob: „Nein, lesen Sie denn die Bücher durch?" Daß
die Beweglichkeit des Buchgeistes dank einer kursorischen Lektüre
427
ENGLAND
wächst, daß sie der Bücherwälzerei schwerfälligerer Zeitalter ihre
Gefahren nimmt, ist nicht zu verkennen. Der Anspruch Dr. Samuel
Johnsons bedeutete auch eine Entschuldigung, wofern eine solche
notwendig sein sollte; und eine Erklärung für die Benutzung der
Liebhaberbüchereien. Um so mehr, als darin eine Emanzipation
von der Autorität des Bücherglaubens lag. Als Boswell auf der
Hebridenreise es beklagte, daß das Buch mit fremden Gedanken
und Gefühlen die eigenen unterjoche, die Persönlichkeit vernichte,
daß alle Welt von Büchern spreche, wußte Dr. Samuel Johnson die
Antwort zu finden: „You and I do not talk from books." Ein
Scherz, in dessen Verhüllung diese Wahrheit zu finden war: daß man
in dem künstlichen Leben der Literaturmode nicht untergehen, in
dem bedruckten Papierwust nicht versinken solle. Die Achtsamkeit
auf Äußeres und Äußerlichkeiten des Buches, schützt sie nicht den
Buchfreund gegen die Unterwerfung unter angelesene Meinungen
unbedeutender Werke? Und ist nicht der Genuß des Geistes-
gehaltes guter Werke, dessen volle Wirkung die Art des Buches
und das Verhältnis, das der Leser zu ihm findet, gibt, den Mühselig-
keiten des Verdauens schlechter Schriften vorzuziehen? Was der
alte Doktor empfahl; die Lebens- und Leseklugheit, die er verteidigte,
war der geistige Komfort des Buches, den die Buchfreunde jetzt erst
recht schätzen lernten, nachdem sie den Komfort ihrer Bücher-
sammlungen zu würdigen wußten. Mag Dr. Samuel Johnson selbst
nicht ein Büchersammler gewesen sein, dank seinen Ratschlägen ent-
stand eine der besten Büchereien des Landes, die des Königs.
Im Gegensatz zu seinem Vater war der dritte König aus dem
Hause Hannover, George IIL [1738—1820],* der erste Bibliophile
seines Landes und einer der ersten Büchersammler seiner Zeit. Den
Kern seines kostbaren und kostspieligen Bücherschatzes, der neuen
Royal Library, auf dessen Vermehrung er jährlich 2000 Pfund ver-
wendete, bildete eine Liebhaberbücherei allerersten Ranges, die er
1762 für 10000 Pfund von dem englischen Konsul in Venedig,
Joseph Smith [1682—1772], erwarb. Dieser gelehrte und ge-
schmackvolle Sammler hatte es verstanden, im bücherreichen
Italien systematisch Wiegendrucke zusammenzubringen. Von seiner
428 * Abb. 292
18. JAHRHUNDERT
Forscherfreude gibt auch der Katalog seiner ersten Bibliothek, der
1755 erschien und der die Erwerbung des Königs verzeichnet, ein
vortreffliches Zeugnis; von seinem Forscherglück seine sogleich von
neuem begonnene zweite Bibliothek, die 1773 in London unter den
Hammer kam. Walpole hat ihn den , Kaufmann von Venedig* ge-
nannt, der von seinen Bänden bloß die Titel kenne; ein Witz, der
dem Geschäftssinne Smiths nicht Unrecht getan haben mag, aber
ein allzuungünstiges Urteil über seine Kenntnisse aussprach.
1763 kaufte George III. von den Erben des 1666 gestorbenen
Londoner Buchhändlers George Thomason für 300 Pfund die
von diesem unter den schwierigsten Umständen vereinten Civil
War tracts, eine von dem Royalisten Thomason im November
1640, als das lange Parlament sich einsetzte, angefangene und bis zum
Mai 1661 weitergeführte einzigartige Kriegs- und Revolutions-
sammlung, die der König dem British Museum schenkte. In nahezu
2000 Bänden sind hier fast 23000 Einzelschriften zusammengestellt,
darunter dreiundsiebzig nur geschriebene, ,,which no man durst
then venture to publish without endangering his ruine*'. Das Be-
stehen der Sammlung, eine ständige Gefahr für ihren Besitzer, war
dem König Charles L, der selbst ihr einmal ein Buch entlieh — ein
Ereignis, das eine lange Eintragung Thomasons in diesem Exemplare
feierte — und der Kavalierpartei wohlbekannt, den Gegnern durfte sie
nicht in die Hände fallen. So ist sie in den Revolutionszeiten, von
treuen Freunden bewacht, auf heimlichen Wegen durch England
hin- und hergeschickt worden, bis sie schließlich ihren besten Schlupf-
winkel in der Bodleiana fand. Thomason, der über viertausend
Pfund auf sie verwendet haben wollte, hat auch ihr, von Marmaduke
Foster angelegtes, Verzeichnis durchgesehen: ein Bibliophilenheros
sondergleichen, der sich ständig von seinen Büchern trennen mußte,
um sie zusammenzubringen und zusammenzuhalten. Und nicht
einmal der Ruhm ist ihm gegönnt worden, daß sein Name sein Werk
ziert; als eine Gabe Georges IV. heißen die wertvollen Bände im
British Museum die King tracts.
Sir F. A. Barnard, des Königs Privatbibliothekar, nutzte 1768
die Auflösung der Jesuitenbibliotheken, um auf einer ausgedehnten
429
ENGLAND
Kontinentaltour die ihm unterstellte Bücherei zu ergänzen und ver-
säumte es auch nicht, sie mit den besten Neuerscheinungen zu ver-
mehren. 66000 Bände und 19000 neu gebundene Kleinschriften,
dazu die vielleicht größte jemals in einer Privatbibliothek vorhanden
gewesene Kartensammlung barg die seit 1767 im Buckingham Palast
aufgestellte Bücherei Georges III., dessen Sohn, der geldbedürftige
George IV., sie für 180000 Pfund nach seinem Regierungsantritte
sogleich dem Kaiser von Rußland anbot. Nur mit Mühe konnte man,
durch Überlassung der Droits of Admiralty an den König, den Ver-
kauf verhindern und die Erhaltung der Sammlung, als angebliches
Geschenk Georges IV. an die Nation vom 15. Januar 1823, sichern,
das jetzt im British Museum den Donator eher rühmt als ihren Samm-
ler. So daß George III. und Thomason am Ende das gleiche Schick-
sal teilten, mehr oder minder mit den Denkzeichen, die ihnen ihre
Bibliophilie schuf, vergessen worden zu sein.*
Die von einem unbekannten Johnson ihm angebotene Wid-
mung von dessen Wörterbuch hatte ein großer Herr abgelehnt; als
dieses epochemachend wurde, beeilte er sich nachträglich, sie anzu-
nehmen, um diesmal eine derbe Zurückweisung zu bekommen. Das
ist eine Anekdote aus Chesterfields Leben, die bezeichnend genug
bleibt, um sie als Motto seiner Bibliophiliedoktrin zu verwenden.
Der erzogene und gebildete, der gentleman, durfte an dem Buche
nicht vorübergehen. Aber seinen Verkehr mit ihm sollte er als Welt-
mann verstehen, wie es Stanhope, Philipp Dormer, Earl of Chester-
field [1694 — 173?] dem Sohne anempfahl: ,A man who, without
a good fund of knowledge and parts, adopts a Court life, makes the
most ridiculous figure imaginable. He is a machine, little superior
to the Court clock; and, as this points out the hours, he points out
the frivolous employment of them. He is, at most, a comment upon
the clock; and, according to the hours that it strikes, teils you, now
it is levee, now dinner, now supper time; etc. The end which I
propose by your education is, to unite in you all the knowledge of a
Scholar, with the manners of a courtier, and to join, what is seldom
joined in any of my countrymen, Books and the World. They are
commonly twenty years old before they have spoken to anybody
430 * Abb. 293
18. JAHRHUNDERT
above their Schoolmaster and the Fellows of their coUege. If they
happen to have learning, it is only Greek and Latin; but not one
Word of Modern History or Modern Languages. Thus prepared,
they go abroad, as they call it ; but, in truth, they stay at home all
that while; for being very awkward, confoundedly ashamed, and
not speaking the languages, they go into no foreign Company, at
least none good; but dine and sup with one another only, at the
tavern/ Die Brief stelle verweist auch auf die insulare Schwäche
[und Stärke] des Briten überhaupt, sein hohes Selbstgefühl, das
fremdes Sprachgut und fremdes Schrifttum verschmäht; sie übersieht
nicht die Mängel der vornehmen, wohlhabenden Jugend, der zu
allerletzt die literarischen Vergnügungen etwas galten; vor allem
aber deutet sie auf die praktische, die realistische Tendenz, nicht
ohne sie in einen Gegensatz zu den bloß humanistischen Studien zu
stellen, denen die [ihr im Italien des fünfzehnten Jahrhunderts sie
auszeichnende] notwendige Weitläufigkeit fehle. Von ähnlicher
Nüchternheit ist die kurze bibliographische Regel, die an einer
anderen Stelle der Briefe Chesterfields an seinen Sohn steht: „Buy
good books, and read them ; the best books are the commonest, and
the last editions are always the best, if the editors are not block-
heads; for they may profit of the former. But take care not to
understand editions and title-pages to well. It always smells of
pedantry, and not always of learning.^^ Ein Ratschlag, in dessen
Sinne auch dieser verstanden sein soll: „Due attention to the inside
of books, and due contempt for the outside, is the proper relation
between a man of sense and his books. '^ Daß Bücher ,the best of all
possible Company* sein sollten — das versicherte einmal ein Schreiben
R. Southeys an G. C. Bedford — ist doch ein Gedanke, an den seinen
Sohn zu gewöhnen der Lord vermeiden wollte. Er beabsichtigte, ihm
das Brauchen der Bücher zu lehren, wie ihm die Brieffolge den Ge-
brauch des Menschen erklären sollte. Von dem Bücherherzen, das
in dem Humanisten schlug, ist nichts in den Ratschlägen des Mannes
von Welt, der im bücherreichen England des achtzehnten Jahr-
hunderts lebte, zu spüren. Nicht einmal den Bibliothekskomfort
empfehlen sie; sie erklären bloß, weshalb und wieweit sich ein Mann,
431
ENGLAND
um Geltung zu gewinnen, auch mit den Büchern einzulassen habe.
Den äußeren Bücherreichtum schätzte richtiger Johnson, als er über
ihn [im Idler] schrieb: It is observed that a corrupt society has
many laws; I know not whether it is not equally true, that an
ignorant age has many books. When the treasures o£ ancient know-
ledge lie unexamined, and original authors are neglected and for-
gotten, Compilers and plagiaries are encouraged who give us again
what we had before, and grow great by setting before us what our
own sloth had hidden from our view." Ebensowenig läßt sich aus
der Beschäftigung mit den letzten Neuheiten des Tages, die man
sich womöglich aus jetzt beliebt gewordenen Circulating Libraries
holen ließ — eine von R. B. Sheridan in den „Rivals" verspottete Ge-
wohnheit — auf eine Ausbreitung der Bücherliebe schließen, wie etwa
die vielen vorhandenen Bücherzimmer der Landsitze und städtischen
Wohnhäuser für sie zeugten. Hier galt das Urteil Walpoles: Our
booksellers her at London disgrace literature by the trash they
bespeak to be written, and at the same time prevent everything eise
from being sold. They are little more or less than upholsterers, who
seil sets or bodies of arts and sciences for furniture; and the pur-
chasers, for I am very sure they are not readers, buy only in that
view. I never thought there was much merit in reading: but yet it is
to good a thing to be put upon no better footing than damask and
mahogany." Für die Bibliophilie läßt sich der Bibliothekenluxus,
die feiner gewordene Form des gesellschaftlich guten Tones, die neben
anderen Komforts die literarischen nicht vergaß, nach der Aus-
breitung, dem Umfang und der Zahl englischer Privatbibliotheken
kaum in dem Maße in Anspruch nehmen, in dem es bisweilen ge-
schieht. Eher wird sich in ihnen eine Rückwirkung der Bibliophilie
auf die Ausbildung des Buchgeschmackes finden lassen.
Die Antiquitäten der Literatur und Typographie in eine biblio-
graphische Ordnung zu bringen, hatten im achtzehnten Jahrhundert
die Bibliophilen Englands mehr und mehr gelernt. Damit kam
auch mehr und mehr in die Sammelrichtungen und in die Samm-
lungen selbst eine strengere Systematik, gleichzeitig aber auch in
das Sammeln eine gewisse Abgeschlossenheit gegen die Lebenskräfte
432
18. JAHRHUNDERT
der Literatur; ein die Gegenwart vernachlässigender, dem Histori
sieren eigentümlicher retrospektiver Zug. Die besten Liebhaber-
bfichereien wurden ausgewählte Schatzkammern; ihre Auswahl be-
schränkte sich jedoch auf die Vergangenheit, sie ließ das Klassische
mit dem Modernen ohne inneren Zusammenhang. Der Katalog-
zwang gewährte der eigenwilligen Laune und Lust keinen reichen
Spielraum, wenn allein diese alte Ausgabe und jene alte Ausgabe
begehrenswert sein und es sonst für den Bibliophilen kein Buch
geben sollte. Die Buchbildeleganz, die die französischen Kupfer-
stichwerke verbreiteten, war in England nie in Aufnahme gekommen,
man war hier für seine Grazie noch zu robust; und letzten Endes
liebte man mehr die freie Luft als den Salon. Derart gestalteten sich
auch die Buchvergnügungen im Geschmacke der Zeit derber und
frischer. Man gab, eine Ahnung des Greater Britain, etwas auf die
gute Ausstattung von Reisewerken, und war stolz darauf, trotzdem
der Heimatgeschichte und Heimatkunde mit kostbaren Pracht-
werken zu dienen; man hielt es nicht für Verschwendung, wenn sich
die Liebhaberausgaben alltäglichen Dingen zuwendeten, deren
Sinn sich in dem einen Worte comfort konzentierte; die wohlaus-
gestatteten Fächer der Sports and Pastimes durften einer Bücher-
sammlung nicht fehlen. Man verstand sich vor allem auch beim
Büchersammeln auf Wit and Humour. Hatten schon die alten
Buchfreunde es geliebt, die allerlei kleine Nützlichkeiten herbergen-
den Werke zusammenzutragen, die nun, kulturhistorisch geworden,
den Altertümlern eine nicht geringe Gruppe ihrer Sammlungen
wurden — eine Gruppe, deren Ansehen bis heute in den englischen
Ländern mehr als in allen anderen [und das mit dem besten Rechte
von der Welt] sich erhalten hat — so bemühten sich jetzt bewußter
die Freunde eines literarischen bric-ä-brac Geschmackes, die er-
müdende Klassikerschwere mit dergleichen Leichtigkeiten aufzu-
heben oder doch zu mildern.
Das Abwechslungsbedürfnis auch des gebildetsten und gelehrte-
sten Bibliophilen, das allein der Literatur-Pedant nicht anerkennen
will, hat einmal geistreich R.Walpoles Wunsch ausgedrückt: I some-
times wish for a catalogue of lounging books — books that one
BOOEHO 88 433
ENGLAND
take up in the gout, low spirits, ennui, or when in waiting for Com-
pany. Some novels, gay poetry, odd whimsical authors, as Rabelais,
etc. A cataldgue raisonn6 of such might be itself a good lounging
book.^ Die Anerkennung der Berechtigung des Buches, ein Zeit-
^ vertreiber zur rechten Zeit zu sein, erweitert seine Fähigkeiten, ver-
kürzt nicht seinen Wert. In ihr liegt die Forderung, die Unter-
haltungsschriften zu veredeln, deren Vermehrung mit der der Zei-
tungen sich an die Augenblicksleser wendete, die um so zahlreicher
wurden, je mehr die Anspannung der Arbeit das Bedürfnis einer
Bucherholung hervorrief. Es ist die künstlerisch-schöngeistige
Richtung der englischen Bücherfreunde des achtzehnten Jahr-
hunderts, deren tonangebender Vertreter Horatio Walpole [4],
Earl of Orford [1717—1797]* wurde. Eine Richtung, die damals
noch allgemeineren kunstwissenschaftlichen Bahnen folgte. Bis sie
dann im neunzehnten Jahrhundert, durch ihre Begrenzung auf Buch-
kunst und Liebhaberausgabe, das andere Hauptlager der Biblio-
philen bildete, das dem der Freunde des guten alten Buches sich an-
schloß: das der Freunde des neuen, schönen Buches ihrer Gegen-
wart. Eine Trennung, die erst möglich wurde, nachdem das Druck-
werk in jahrhundertelanger Entwicklung die alten und neuen ge-
druckten Bücher in einen immer weiter werdenden Abstand von-
einander gebracht hatte; nachdem die Buchhandschrift ein ent-
schwindendes Stück Vergangenheit geworden war. ,,Uniquity*' war
Walpoles Zauberwort, das alles von ihm berührte in ein eigen-
einzigartiges Sammlerstück verwandeln sollte. Die antiquarische
Rarität, das Unikum; doch ebensogut das neue Buch, dessen Aus-
stattung, dessen Herstellung ihm die Originalität, die Seltenheit
verlieh. Es war der Begriff einer Bibliophilenbuch- Exklusivität,
der sich so gestaltete. Eine aristokratische Bücherlust war es, im
Freundeskreise Privatdrucke zu verteilen. Als Walpole 1747 die
Einrichtung seines Landhauses Strawberry Hill, Twickenham, be-
gann, um es allmählich in ein gotisches Schlößchen zu verwandeln,
vergaß er nicht die eigene Druckerei; die Privatpresse, die es ihm
gestattete, ungestört und zwanglos die Bücher herstellen zu lassen,
die er sich in einer Liebhaberausgabe wünschte. Bilder, Bücher, Ge-
434 * Abb. 287, 28a
18. JAHRHUNDERT
mälde, Stiche, ein allerlei von Gegenständen, die ihm ,vertu* zu
haben schienen, verband er in einem mittelalterlichen Rahmen-
werk; hier schrieb er seine Briefe und Lebenserinnerungen, seine
kunstgeschichtlichen und schöngeistigen Werke; ein connoisseur
und ein dilettante, der es verstand, mit Büchern und Menschen zu
leben. Die Ausstattung der Bücherzimmer im Geschmack der
,Gotik\ den auch eine Literaturmode nicht verhehlte, ist indessen
keineswegs der ausschlaggebende Geschmack gewesen. Man erinnert
sich bei ihren Spielereien gern daran, daß im England des achtzehn-
ten Jahrhunderts die vielleicht vornehmsten Bibliothekmöbel ent-
standen sind, die, wie etwa die Musterbücher Sheratons erläutern,
Komfort und Noblesse vereinten; die ihre Gebrauchszweckerfüllung
durch mancherlei sinnreich erdachte Vorrichtungen mehrten, Be-
haglichkeit und Bibliothekenluxus vereinend.*
Bereits das Beispiel der Harleyan Library hatte die Biblio-
philenbibliotheken, die vielfach vornehmen und wohlhabenden
Leuten gehörten, die sich ihren Büchersaal reich geschmückt wünsch-
ten, auf die Einbandprunkentfaltung gewiesen. Da nun die alten
Bände in die Reihen des Sammlergutes aufgenommen wurden, die
häufig ausgebessert und hergerichtet werden mußten; da die alten
fremden Kunsteinbände zu Liebhaberwerten wurden, entfaltete man
auch hier einen nicht geringen Luxus. Nicht allein die überall und
von jeher verspottete Sammlereitelkeit war es, die ihn hervorrief.
Mochte Pope auch das Arbeitszimmer des Lords belachen:
His study! with what authors is it stored?
In books, not authors, curious is my Lord;
To all their dated backs he turns you round;
These Aldus printed, those Du Seuil has bound.
Man hatte noch nicht hinreichendes historisches Stilgefühl, um den
alten Einband, mochte er auch schlecht erhalten und schlicht sein,
als einen Bestandteil des alten Buches zu schätzen und man meinte
der Buchpflege zu dienen, wenn man die alten, einfachen Einbände
durch neue, schönere ersetzen ließ. Diese Gewohnheit der englischen
Sammler hat lange, bis weit in das neunzehnte Jahrhundert hinein,
«8* * Abb. 297—302 435
EKGLAND
bestanden und ist vielen, als buchgeschichtlichen Zeugnissen hoch
zu wertenden Einbänden der Wiegendrucke und früherer Zeiten
verderblich gewesen. Allmählich setzte dann die Wendung ein
und sich bis zum Widerspruche durch, der jetzt im alten erhaltenen
Einbände den höheren Liebhaberwert schätzt. Der sich bisweilen
sogar in den Übertreibungen gefällt, in denen aber doch ein guter
Kern unverkennbar ist, wenn man den schlechten Verlegerband eines
Favoritautors des neunzehnten Jahrhunderts weit höher wertet als
einen gleichzeitigen guten Liebhabereinband. Eigenwillig, exzen-
trisch, genial war der berühmteste englische Buchbinder des acht-
zehnten Jahrhunderts, dessen Arbeit die Büchersammler zu ge-
winnen sich mühten, fast für sie ein Halbgott, Roger Payne [1739
— 1797]. Dibdin meinte: ,,The great merit of Roger Payne lay in
bis taste, in his choice of Ornaments and especially in the working
of them.** In der Tat, es hat kaum jemals einen zweiten Buchbinder
gegeben, der so wie dieser in seiner Arbeit aufging; der von Fall zu
Fall sich so liebevoll mit allen Einzelheiten des alten Bandes, den
er in seinen Händen hatte, beschäftigte. Und obschon er selbst, viel-
leicht seines Eigensinnes wegen, weder in seiner Bindearbeit noch
in seinen Schmuckverfahren einen Höhepunkt erreichte, so blieb es
doch sein großes Verdienst, den Boden für jene Buchbinder vor-
bereitet zu haben, die den Bibliotheksband der englischen Lieb-
haberbüchereien ein notwendiges Stück gewählter und guter Arbeit
werden ließen. Robert Burns, der im Bücherschranke eines Edel-
mannes in Edinburgh eine schlecht erhaltene und schön gebundene
Shakespeareausgabe fand, schrieb auf ihr Vorsatzblatt:
Trough and through the inspired leaves,
Ye maggots, make your windings;
But, oh! respect his lordships taste.
And pare his golden bindings.
Eine Eintragung, die erst lange nach des Dichters Tode auf-
gefunden, das Buch zu einer Kostbarkeit machte sowie ein Geschicht-
chen, das die Entwicklung des englischen Altbüchermarktes und der
englischen Bücherliebhaberei im neunzehnten Jahrhundert sym-
436 * Abb. 307
19. JAHRHUNDERT
bolisiert. Bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatte man
die alten Bücher aufgesammelt, geborgen, gesichtet. Jetzt kamen
ihre Massen in einen schnelleren Kreislauf, in den nicht nur die
Bibliophilenbibliotheken sondern ebenso die alten Familien- und
Schloßbibliotheken hineingezogen wurden; in großen und kleinen
Ausverkauften, deren beste Waren im zwanzigsten Jahrhundert dem
vordem an alten Büchern armen englischen Ländern jenseits des
Atlantischen Ozeans zuflössen.
Der Schutzherr der ersten berühmten englischen Bücherei-
versteigerung des neunzehnten Jahrhunderts war Shakespeare, der
fortan über den englischen Altbüchermarkt wie über die englischen
Bühnen herrschen sollte. Am 13. Mai 1800 und den zehn folgenden
Tagen brachte Mr. King die Büchersammlung von George Stee-
vens unter den Hammer. 2740 Pfund wurden für die 1943 Num-
mern der Privatbibliothek des Shakespearekommentators bezahlt.
Eine Anzahl Liebhaberbüchereien, die im ersten Jahrzehnt die Lieb-
haberpreise durch ihre Versteigerungen zum Steigen brachten,
zeigten die BibUomania im raschen Wachsen. 1810 hatte sie ihren
Höhepunkt nahezu erreicht. Die Auflösung einer Liebhaberbücherei
des achtzehnten Jahrhunderts, der des Rev. Benjamin Heath,
D. D., die von ihrem Sammler noch bei Lebzeiten dem Buchhändler
Joseph Johnson verkauft und von diesem Mr. Jeffery zur Versteige-
rung anvertraut war, brachte für etwa 4800 Lose rund 9000 Pfund.
Dibdin, im Enthusiasmus, fand für das Ereignis diese Worte:
„Never did the bibliomaniac's eye alight upon ,sweeter copies^ as
the phrase is, and never did the bibliomaniacal barometer rise
higher than at this sale ! The most marked phrensy charakterized it.
A copy of the editio princeps of Homer [by no means a first-rate
one] brought £ 92, and all the Aldine classics produced such an
electricity of Sensation, that buyers stuck at nothing to embrace
them ! Do no let it hence be said that black letter lore is the only
fashionable pursuit of the present age of book coUectors. This sale
may be hailed as the omen of better and brighter prospects in li-
terature in general; and many a useful philological work, although
printed in the Latin or Italian language — and which had been
437
ENGLAND
sleeping unmolested upon a bookseller's shelf these dozen years —
will now Start up from its slumber, and walk abroad in an new
atmosphere, and be noticed and ,made much oV — '^
Nicht ohne, im britischen Stolz von Dibdin verschwiegenen,
Einfluß war auf die Gestaltung des Altbüchermarktes in England
um 1810 die Kontinentalsperre. Die reichen Zuflüsse, zumal aus den
in Frankreich durch die Revolutionswirren zerstreuten Bücher-
sammlungen stockten; das Angebot vermochte der Nachfrage nach
bestimmten bibliographischen Kuriositäten nicht mehr Genüge zu
leisten, weil das book-hunting ein fashionabler Sport geworden war.
Unter solchen Auspicien erschien 1812 ein Auktionskatalog der
Messrs. G. u. W. Nicol, in dessen Vorrede gesagt wurde: ,,When
literature was deprived of one of its wärmest admirers by the death
of the Duke of Roxburghe, bis grace was in füll pursuit of coUecting
our dramatic authors. But when bis coUection of English plays
is examined, and the reader is informed that he had only turned
bis mind to this class of literature for a few years, bis indefatigable
industry will be readly admitted.** John Ker [3], Duke of Rox-
burghe [1740—1804] hatte nun allerdings ein köstliches Sammlergut,
die Elizabethan Dramatists in ihren frühen Quartos [doch besaß
er nicht die vierte Shakespearefolioausgabe] und die englischen
Wiegendruckerreihen, altfranzösische und altenglische Bände in
reicher Auswahl sowie manches andere schöne Stück bibliographisch
erster Ordnung geborgen, ohne dafür allzu erhebliche Aufwendungen
gemacht zu haben. Und auch seine Vorfahren, insbesondere John,
Earl of Roxburghe in den Jahren der Königin Anna, waren achtsam
auf die Vermehrung ihres Bücherschatzes gewesen. Aber es waren
doch mehr die äußeren Begleitumstände gewesen, die die von Robert
H. Evans, der damit seine über dreißig Jahre andauernde Auk-
tionatorentätigkeit begann, geleitete Versteigerung im Roxburghe
House, St. James Square, London epochemachend werden ließen:
die Preise, die in diesen 46 Versteigerungstagen des Mai und Juni
bezahlt wurden; das Gesamtergebnis, das für 10120 Lose auf 23397
Guineen 10 s 6 d stieg; ihr Höhepunkt, der Wettkampf zwischen
George Spencer Churchill, Marquis of Blandford [1766—
438 * Abb. 296
19. JAHRHUNDEBT
1844] und Earl Spencer, der um die Valdarfer Ausgabe von
Boccaccios Decamerone [1471] geführt wurde und in dem der Mar-
quis, der bereits ein defektes Exemplar der gleichen Ausgabe besaß,
den höchsten bis dahin für ein Buch gegebenen Preis zahlte, 2260
Guineen. Eine Summe, die wie Dibdin in seinen ,Reminiscences'
[I, 369] versicherte, derjenigen entsprach, die der Herzog für seine
ganze Privatbibliothek verbraucht hatte. Aber diese Büchersamm-
lung des achtzehnten Jahrhunderts ließ sich doch nicht mit anderen,
damals in England schon vorhandenen in eine Reihe stellen. Auch
war sie weit weniger systematisch ausgebaut als etwa die Althorp
Library des diesmal unterliegenden Earl Spencer, der 1819 sich doch
noch den Valdarfer Decamerone [für 918 £ 15 s, für welchen Preis
die Buchhändler Longmans versehentlich das Buch erworben hatten,
das sie dem Earl überließen], zu eigen machen konnte, als der Mar-
quis of Blandford, [5] Duke of Malborough geworden, seine in White
Knights bei Reading, Berkshire, aufgestellte Büchersammlung zu-
gunsten seiner Gläubiger verkaufen mußte. Damals zerstreuten sich
die rasch und teuer erworbenen Emblem- und Liturgie-Werke, die
französischen, italienischen, spanischen Ritterromane, die englischen
Wiegendrucke der White Knights Library in alle Winde.
Am Abend des denkwürdigen 17. Juni 1812 feierte man in St.
Albans Tavern die Kraftleistung des Marquis und die Tischgesell-
schaft gründete den Roxburghe Club, Englands ersten Biblio-
philen-Verein.
Ein Viertel] ahrhundert hindurch folgten sich jetzt nicht allein
in kurzen Abständen die glänzendsten Auktionen, auch die Durch-
schnitts Versteigerungen vermehrten sich an Wert und Zahl; es bilde-
ten sich die festen Formen des englischen Auktionswesens für den
Büchermarkt heraus, dessen Führung im neunzehnten Jahrhundert
,Sothebys'* übernahmen. Preisschwankungen blieben zwar nicht
aus, doch erst die Heberauktionen mit ihrer Überfülle wertvollsten
Büchergutes ließen seit 1834 einen Stillstand eintreten, der erst seit
der zweiten Hälfte der vierziger Jahre einer neuen Aufwärtsbewegung
der Liebhaberpreise wich. Als ein auch gesellschaftliches Ereignis
ersten Ranges, darin dem Roxburghe Säle vergleichbar, gestaltete
*Abb.294. 316 439
ENGLAND
sich 1823 die Fonthill Abbey Auktion, zu der die eilenden Post-
wagen die Käufer und Neugierigen aus London in das Land der Ro-
mantik entführten, das zu besichtigen eine für 10 s. 6 d. gelöste Ein-
trittskarte zu dem Abteibau William Beckfords ihnen gestattete.
Eigenartig als Mensch, Sammler und Schriftsteller ist William
Beckford [1759—1844] die Inkarnation einer Bibliophilie- Romantik
gewesen. Sein großes Vermögen und sein Sonderlingtum gestatteten
ihm die Verwirklichung seiner gotischen Träume. Aber dem leiden-
schaftlichen Bücherleser und Menschenverächter, der es liebte, in
sarkastisch-skeptischen Vermerken auf den Vorsatzblättern seine
weltkundigen Aufzeichnungen zu machen, fehlten auch nicht der
Geist und die Kenntnisse, die ihn erheblich von manchem anderen
viel berühmter gewordenen großen Bibliophilen unterschieden.
Was ihm, dem Exzentrischen, mangelte, war Maßhalten und ein
genaues Ziel. Und so hat er zwar in seinen Bibliotheken die besten
und schönsten Bücher gehabt und gekannt, die kostbarsten und
prunkvollsten Werke aufgehäuft. Aber als ihn nach einem langen
Leben 20000 Neugierige zu Grabe geleiteten, hinterließ er unter
seinen vielbewunderten Schätzen keine Sammlung, die als solche
einen festen Zusammenhang gehabt hätte. Seine Bücherphantasien
hatten ihn in alle Weiten der Dichtung, Kunst und Wissenschaft
geführt, hatten ihm den auskostenden Genuß unzähliger erlesener
Sammlerstücke verschafft; sie bibliographisch zu katalogisieren
fehlte seinem bei der Gegenwart verweilenden Temperament die
Lust. Ein Bibliophile war der Mann, den sein Freund Lord Byron,
, Englands wealthiest son* genannt hat, gewiß. Ein Büchersammler ist
er nicht gewesen, obschon sich seine Bibliotheken, denn er pflegte
seine Bücher über alle Wohnräume zu verteilen, ihres Bücherreich-
tums rühmen konnten. Sein Vater, Lordmayor von London und ein
Freund des Lord Chatham und John Wilkes', hatte ihm ein Ver-
mögen hinterlassen, dessen Millioneneinkünfte der Sohn zum Bauen,
Reisen und Sammeln verwendete. In Genf erzogen, von wo aus er
die Bücher aus Edward Gibbons Besitz in Lausanne sammelte,
die er später seinem Arzt Dr. Scholl schenkte, mit dessen BibUothek
sie 1833 verkauft wurden, hatte bereits der Siebzehnjährige eine
440
19. JAHRHUNDERT
Satire, „A history of extraordinary peinters" [1780] geschrieben und
dann die seiner Begabung entsprechende Fähigkeit, raschen Ein-
drücken einen anschaulichen und sicheren Ausdruck zu geben, derent-
wegen man ihn einen Vorläufer der reisenden Zeitungsbericht-
erstatter genannt hat, auf Festlandsreisen ausgebildet. Seine Reise-
briefe, in ihrer ersten, 1783 erschienenen, aber unterdrückten Ausgabe
[Dreams, waking thoughts and incidents] und in ihrer späteren,
durch spanische und portugiesische Reiseschilderungen erweiterten
Fassung [Italy, with sketches of Spain and Portugal 1834; Re-
coUections of an excursion to the monasteries of Alcobasa and
Batalha 1835] verraten wenig von der anderen Seite seines Wesens,
das sich in dem unheimlichen Vathek-Roman offenbarte, den der
Einundzwanzigjährige französisch geschrieben [1787], der Rev.
Samuel Henley ins Englische übersetzt hatte [1786] und der nach
ähnlichen bibliographischen Schicksalen wie Friedrich des Großen
Antimachiavell der Ausgangspunkt einer Uterarischen Bewegung
wurde, um die sich aber ihr Verfasser nicht weiter kümmerte. Er
baute sich ein Schloß in Ciutra, das Lord Byron im „Childe Harold^'
verherrlichte, und füllte es mit Büchern und Kunstwerken. 1784
bis 1790 hatte Beckford in Paris den Grundstock seiner Bücher-
sammlungen erworben, wenn man davon bei einem Bibliophilen
reden kann, der ebenso gern Bücher kaufte wie fortgab und der
schon von seinem Vater eine bedeutende Bücher Sammlung zum Ge-
schenk erhalten hatte. Es waren die glücklichen Jahre seiner jungen
Ehe mit Lady Margaret Gordon, einer Tochter des Earl of Aboyne,
gewesen, die er 1783 geheiratet hatte. Als die Gattin 1786 starb,
suchte er den Schmerz um die Verlorene in langen ruhelosen Wander-
fahrten zu vergessen, um erst 1796 nach England zurückzukehren
und, menschenscheu geworden, auf seinem großen Grundbesitz in
Wiltshire Fonthill Abbey zu errichten, einen gotischen Prachtbau.
Erhebliche Verluste, die ihn trafen, veranlaßten Beckford, die Abtei
Fonthill mit ihren Sammlungen 1822 für 330000 Pfund an den Speku-
lanten Farquhar zu verkaufen, der auch die 20000 Bände umfassende
Büchersammlung 1823 dort durch den Auktionator Mr. PhilUps-Lon-
don, New Bond Street, in zwanzig Tagen zur Versteigerung brachte.
441
ENGLAND
Die nach und nach wieder großartig vermehrten Reste seiner
ersten Bibliothek brachte Beckford jetzt in seinem neuen Wohnsitz
Bath unter. Hier hatte er, wie Vathek in seiner Erzählung, auf dem
nahe gelegenen Lansdowne Hügel einen 130 Fuß hohen Turmbau
errichtet. Hier überlebte er die Menschen und seine Zeit. Seine
Bücher ließ sein Schwiegersohn Alexander Douglas, [seit 1816]
zehnter Duke of Hamilton [1767—1852] in sein Londoner Stadt-
haus, den Hamilton Palast, überführen. Der Herzog, der selbst
als Marquis of Douglas die dort aufgestellte Familienbibliothek,
insbesondere im Fache der Prachtwerk-Theologie, erheblich vermehrt
hatte, wollte zwar, für £ 30000 die Beckford-Sammlung an den
Buchhändler Bohn verkaufen. Da sich aber seine Gemahlin nicht
von den Büchern ihres Vaters trennen wollte, blieb die Beckford
Library vorläufig zusammen, und auch der elfte Herzog, William Alex-
ander Anthony Archibald [1811—1863] bemühte sich noch um die
Ergänzung der ererbten Büchersammlungen, die sein Sohn 1882
zum Verkauf bringen mußte. Am 30. Juni 1882 begann bei Sothebys
die Versteigerung der Beckford Library, die mit ihrem vierten Teile
im November 1883 beendet wurde und für 9837 Nummern jf 73551
brachte; eine überraschend hohe Summe, die durch die vorzügUche
Erhaltung der Beckfordbücher gerechtfertigt war und dadurch,
daß sich in ihr auch viele Bände berühmter Abstammung befanden
und ihre alten und neuen Bucheinbände sie ebenfalls auszeichneten.
Die Hamilton Library selbst, die 1884 in acht Maitagen gleichfalls
bei Sothebys unter den Hammer kam, erzielte für 2136 Nummern
nur dB 12892. Ihr kostbarster Bestandteil, die Handschriften, war
in der Hauptsache für £ 75000 von der Preußischen Regierung an-
gekauft worden. Doch kam ein Rest, außer den an das British
Museum übergegangenen Urkunden zur schottischen Geschichte, im
Mai 1889 bei Sothebys für £ 15189 zum Verkauf.
Der bescheidenere Platz, den die Bücherkammer in der Burg-
romantik gotischer Umwelt hatte, in der die Schloßherren diesen
Raum gern ungestört ihren Kaplänen- Schrift gelehrten überließen,
hat auch in den Romanen Scotts keinen Helden hervortreten lassen,
der vom Bücherturm aus das Land seines Schicksals übersah. [Wie
442
19. JAHRHUNDERT
denn überhaupt, es könnte die Bibliophilen nachdenklich stimmen,
in der ganzen klassischen Literatur nur ein ihnen gleichgesinnter
Heros weiter lebt, Don Quixote.] Aber alte Bücher und ihre Lieb-
haber sind trotzdem in den Romanen Scotts nicht ganz unvergessen.
Da sind die berühmten Zeilen, die Edwards Heißhunger und Über-
sättigung in der Waverley-Honour Library schildern; jene Zeilen,
die fast einen Vergleich mit dem Dorian Gray-Leser Wildes heraus-
fordern. Da ist Dominie Sampson, der die Büchersammlung des
Bischofs ordnet [Guy Mannering]. Und das Gedenken der guten alten
Zeit, in der die alten Bücher noch billig waren, wenn man sie nur
zu finden verstand, im ,Antiquary* in dem prächtigen Bibliophilen-
porträt Mr. Jonathan Oldbucks. Aber alles das ist weit entfernt von der
Begeisterung des Richard de Bury und mit ironischem Lächeln wird
übersehen, daß Bibliophilie noch etwas anderes sein kann als book
hunting sport oder comfort. Besonders innig scheint das Verhältnis
Sir Walters zu seinen Büchern nicht gewesen zu sein; sie waren sein
notwendiges Werkzeug und in Abbotsford auch ein Mittel zur Re-
präsentation des Romantik Schottlands.
Sir Walter Scott [1771 — 1832] hat leichthin wohl auch einmal
das Bibliomanenidol der Quartanten aus der Zeit der Elizabethan
Dramatists ironisiert und mit ihm jenen erlesenen Kreis von An-
betern der gothic lette books, der sich eben erst im Roxburghe Club
zusammengeschlossen hatte. [Die Geistererscheinung Betty Barnes',
in dem Introductory Epistle der „Fortunes of Nigel".] Aber er war
doch allzusehr Sammler und Schotte, um nicht dem Beispiel des
Londoner Vereins zu folgen und 1822 eine ähnliche schottische
Gesellschaft zu gründen, den ,Bannatyne Club*, dessen Aufgabe es
sein sollte, Antiquitäten der Historie und Literatur Schottlands für
die Mitglieder neu zu drucken. Den Namen führte der Bannatyne
Club von jenem wackeren Manne, der im furchtbaren Jahr 1568
abschreibend und aufbewahrend aus dem Büchersturm, der damals
Schottland durchtoste, ein Retter vieler alter schottischer Werke ge-
wesen war. Der erste Präsident des Clubs wurde selbstverständlich
Sir Walter und er hat ihm 1823 bei Gelegenheit des ersten Jahres-
essens auch ein langes launiges Lied gewidmet: „The Bannatyne
443
ENGLAND
Club, or one voIume more". Eine ausführliche Beschreibung von
Abbotsford um 1850 gibt Theodor Fontane [in seinem Werke: Aus
England und Schottland. Berlin, 1900, zuerst in: Jenseit des Tweed
Berlin, 1860]. Der Eindruck, den der deutsche Dichter von der
„Romanze in Stein und Mörtel** umfing, war nicht gerade über-
wältigend. Die berühmte Architektur-Poesie erschien ihm gekünstelt,
das Bauwerk mit allen seinen in ein Museum passenden Einzelheiten
blieb für ihn ohne rechte Gesamtwirkung. Aus der Halle trat Fon-
tane in Walter Scotts Arbeitszimmer. „Die Mehrzahl seiner Ro-
mane wurde hier entweder komponiert oder niedergeschrieben.
Das Zimmer macht durchaus den Eindruck des Wohnlichen und
Behaglichen. Die Möblierung und Ausstattung ist gediegen, aber
nicht reich und überladen. Der Arbeitstisch und ein lederüber-
zogener Armstuhl stehen noch an alter Stelle; einige Nachschlage-
bücher sind dicht zur Hand und eine leichte Gallerie von Guß-
eisen (tracery work) umläuft, in Mittelhöhe des Zimmers, drei
Seiten desselben und erleichtert das Herabnehmen der Bücher. —
Nischenartig abgezweigt von dem Studierzimmer und kaum so
groß wie eine Schiffskoje befindet sich neben demselben eine Art
Kabinett, worin . . . unter einem Glaskasten, das letzte Sommer-
kostüm Sir Walters aufbewahrt wird. Es ist sehr elegant und zeigt,
neben vielem anderen, wie großes Gewicht der Verstorbene auf
Äußerlichkeiten legte. . . . Wir verließen die Cabine . . ., um nun-
mehr in das Bibliothekzimmer einzutreten. — Die Bibliothek ist
ein sehr geräumiges und reich verziertes Zimmer, für dessen Dimen-
sionen die 20000 (meist sehr schön gebundenen) Bände sprechen,
die mit ihren goldbedruckten Lederrücken so sauber geordnet um
einen herstehen, als befände man sich in der berühmten Lese-
Rotunde des britischen Museums. Viele dieser Bände sind außer-
ordentlich selten und kostbar; ein wesentlicher Bruchteil der ganzen
Bibliothek besteht aus Werken über schottische Altertümer und
Hexengeschichten, über dem Kamin befindet sich das Porträt von
Sir Walters ältestem Sohn, dem . . . Husaren- Offizier; die Züge sind
fein, aber weichlich, fast kränklich, und der kecke Husarenschnurr-
bart, den man bekanntlich eben so gut im Ausdruck des Auges wie
444
19. JAHEHUNDEßT
über der Oberlippe haben kann, fehlt diesem feinen Gesichtchen
an beiden Stellen gleich sehr. In einer der Ecken steht eine Silber-
urne auf einem Porphyr-Postament, die Urne selbst ein Geschenk
von Lord Byron. Außerdem befinden sich die Büsten Shakespeares
und Sir Walters im Zimmer, die letztere (von der Hand Chantreys)
natürlich erst nach seinem Tode aufgestellt.** Das Dichterschloß,
den Rahmen der Sammlungen Sir Walter Scotts, hielt Fontane, ob-
schon es an einem Reisewege lag, auf dem die romantischen Spuren
führten, also nicht für eine gelungene Dichtung seines Schöpfers. Die
Gründe, die er anführte, sind auch gültig für die sonstigen Anlagen
der Bauromantik Englands in dem Jahrhundert 1750/1850, die
,mittelalterlich* als Museum eines Sammlers ausgestaltet, trotzdem
sie bis in die Einzelheiten mit echten Stücken ausgestattet waren,
eine echte Gesamtwirkung ihrer romantischen Stilisierung nicht er-
reichen konnten. Und wenn wir von Alt-Englands Bücherschlössern
reden wollen, dann möchten wir lieber an die Büchereigalerien und
-säle der berühmten Familiensitze denken, die einen geschichtlichen
Namen tragen. Allerdings, auch diejenigen von ihnen, die als
Bibliophilen-Bibliotheken weitbekannt wurden, sind fast niemals
Familienbibliotheken gewesen, sondern das Werk einzelner Sammler
und nach deren Tod dann wieder zerstreut worden. Die in ihrem
Bestände von Geschlecht zu Geschlecht überlieferten und vervoll-
kommneten geschlossenen großen Privatbibliotheken waren auch in
England Seltenheiten und beinahe mehr noch als in anderen Ländern,
weil hier die Büchersammlungen früh schon in den Erbauseinander-
setzungen als beachtenswerte Vermögenswerte behandelt wurden.
Dabei war sehr wenig Romantik. Etwas anderes war es jedoch,
daß unter den englischen Edelleuten von Rang und Vermögen des
achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts sich einige Buchfreunde
fanden, denen es gelang, Liebhaberbüchereien höchsten Wertes zu
vollenden, die dann freilich meist von ihren Nachkommen aufgelöst
worden sind. Da mag es wohl eine besonders günstige Schicksals-
fügung zu nennen sein, daß die geschlossenste, die am meisten
planmäßig ausgebaute dieser BibUophilen - Bibliotheken erhalten
blieb, deren Mitschöpfer, ihr Bibliothekar Reverend Thomas
445
ENGLAND
FrognallDibdin [1776-1847], der „Callot der Bibliographie",
gewesen ist.*
Im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts ist die eng-
lische Liebhaberbücherei entstanden, die A. A. Renouard mit Recht
als die damals prachtvollste und reichhaltigste der Druckwerk-
sammlungen einer Privatbibliothek in Europa rühmen sollte. Den
Ehrgeiz ihres Sammlers, George John [2], Earl of Spencer
[1758—1834]* förderten außer seinen bedeutenden Mitteln auch die
seinem Vorhaben günstigen Zeitumstände; besonders aber auch die
Mitarbeit seines Bibliothekars Dibdin, die die literarische Tradition
dieser Bibliotheca Spenceriana schuf. Seit dem alten Hugh Le
Despenser und seiner Library of Bokes sind die Buchfreunde und
Büchereien der der Familie Churchill sich verschwägernden Spencer-
Familie zahlreich gewesen. Und nicht weniger als drei weltbekannte
Sammlungen sind mit dem Spencer-Namen verknüpft, die Althorp
Library, die Blenheim Library Charles Spencers, des dritten
Earl of Sunderland [1674—1722],* die ein Jahrhundert früher
begründet war und ein Jahrhundert später versteigert wurde, und
die White Knights Library George Spencers, des fünften
Duke of Marlborough [1766—1844], deren allzu kurzer Bestand
ihren Roxburghe Säle Triumph nur einige Jahre überdauert hat.
Die sogenannte Sunderland Library, auf deren Ausbau der Staats-
sekretär Wilhelms von Oranien, Charles Spencer, viel Geld, Mühe
und Zeit verwendet hatte — er kaufte für sie auch Hadrian Bever-
lands Bibliothek und einen großen Teil von Petaus Büchern — war
in dem Familiensitze [seit 1508] der Spencer, Althorp in Nor-
thumberland, begründet und später von Charles Spencer nach dem
Londoner Stadthause in Piccadilly überführt worden. Bei dessen
Tode enthielt sie, außer einigen erlesenen Handschriften, etwa
20000 Druckwerke und sie ist seitdem kaum vermehrt, dagegen an
ihrem letzten Aufstellungsorte sehr verwahrlost worden, so daß
die ihr entstammenden Bände meist die Spuren dieser Vernach-
lässigung zeigen. Zwar war ihre Anordnung in Blenheim, wohin sie
1749 gebracht wurde, als Charles, [3] Earl of Sunderland, [2] Duke
of Marlborough wurde, glanzvoll. Sie stand in einem der größten
446 * Abb. 28 1, 303—306, 309—3 1 1
19. JAHRHUNDERT
Büchersäle mit herrlicher Aussicht. Nur daß durch die hohen Fenster
[ähnlich wie in der Bibliotheksgalerie Friedrich des Großen im Neuen
Palais in Potsdam] allzustark das Sonnenlicht hereinstrahlte und
die Bandrücken ausbleichte. Eine Mahnung, die Bücherpflege nicht
über dem Büchereiprunk zu vergessen. Die Blenheim Library, für die,
nach Oldys, der König von Dänemark der Erbin Lord Sunderlands,
der Duchess Sarah of Marlborough, vergeblich £ 30000 geboten
hatte, mußte vom achten Herzog von Marlborough notgedrungen
verkauft werden und ihre von Messrs. Puttick & Simpson im Dezember
1881 begonnene, im März 1883 beendete Versteigerung, deren Erlös
jf 56581, 6 s. betrug, wurde für den Altbüchermarkt der Beginn einer
neuen Ära der großen Auktionen und großen Preise.
In Althorp war zum Ersatz der nunmehrigen Blenheim Library
um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die aus dem sechzehnten
stammende und bis dahin in Wormleighton, Warwickshire , ver-
wahrte Familienbibliothek aufgestellt und von John, dem jüngeren
Bruder Charles', und erstem Earl of Spencer vermehrt worden; unter
anderem durch die 5000 Bände umfassende Büchersammlung des
Headmaster von Eton Dr. George. So fand George John [2]
Earl of Spencer, als er am 31. Oktober 1783 die Titel und das
Vermögen seines Vaters erbte, bereits die ersten Grundlagen der von
ihm gesammelten Althorp Library vor, auf denen er weiterbaute.
Aber die eigentliche Begründung der berühmten Althorp Li-
brary ist doch eigentlich der Erwerb der Reviczki-Sammlung im
Jahre 1790 gewesen. Sie machte mit einemmal einen Hauptteil der
Bibliothek des Earl of Spencer fast vollständig und bestimmte end-
gültig deren planmäßigen Ausbau. Karl Emerich Alexander
[seit 1783 ungarischer] Graf Reviczki von Rewißnie [jetzige
Schreibweise Reviczky de Revisnye] [1737 — 1793] könnte den be-
deutendsten Bibliophilen Wiens, wo er geboren wurde und gestorben
ist, zugezählt werden, hätte ihn nicht seine diplomatische Laufbahn,
der eigene Reisen vorangegangen waren, als [seit 1779] K. K. Ge-
sandter in Warschau, Berlin, London der Heimat ferngehalten. Den
antiken Klassikern galt die ganze Liebe des bewunderten Biblio-
gnosten, den ein eminentes Sprachtalent auszeichnete, das ihn außer
447
ENGLAND
den meisten europäischen auch eine Anzahl orientalischer Sprachen
beherrschen ließ. Durch seine Verbindungen mit Sir William Jones
auch mit Lord Spencer bekannt geworden, konnte er diesem das
Angebot seiner Büchersammlung für eine einmalige Zahlung von
£ 1000 und eine Jahresrente von £ 500 machen, das der Lord an-
nahm und das ihm für £ 2500 eine der ausgezeichnetsten europäischen
Bibliotheken überlieferte. Der Graf Reviczky hatte hauptsächlich
Ausgaben der griechischen und römischen Schriftsteller gesammelt und
dabei eine Reihe ihrer Editiones principes und primariae zusammen-
gebracht, die, wie die unter dem Pseudonym Periergus Deltophilus
1784 in einem Berliner Privatdruck bekannt gemachte Beschreibung
seiner ,Bibliotheca graeca et latina* zeigt, in solcher annähernden
Vollständigkeit kaum jemals in einer Privatbibliothek vorhanden
gewesen waren. Wozu noch kam, daß der Graf auch erfolgreich dem
Bibliophilensport des tadellosesten Exemplares gehuldigt hatte; ein
Verehrer der Charta maxima und der Charta membranea gewesen
war, die auf seinen Bücherbrettern die höchsten und letzten Triumphe
einer bibliographischen Philologieeleganz gefeiert hatten.
Nachdem Lord Spencer sich 1807 aus dem Staatsdienste zurück-
gezogen hatte, konnte er, von Dibdin unterstützt, alle seine Kräfte
einem Werke widmen, an dem vielleicht mehr als sein Fleiß und seine
Gelehrsamkeit seine Freigebigkeit beteiligt waren. Das aber doch sein
Werk bleibt und ihn heute noch lobt, weil er es verstanden hat, die
Absichten, die ihn zu seiner Schöpfung bestimmten, ausdauernd
zu verwirklichen. Die vornehme Art, in der er Bücher erwarb, und
auch das ist kein geringes Lob, kennzeichnet eine kleine Geschichte.
Als er einmal feststellte, daß ein bei Payne gekauftes Buch ein Caxton
sei, ließ er dem überraschten Buchhändler nachträglich £ 50 an-
weisen. Kein Wunder, daß sich auch die Buchhändler für einen
solchen Kunden mühten, der bei aller Freigebigkeit keineswegs ge-
schäftsunkundig verfuhr und durchaus nicht in blinder Sammelleiden-
schaft jeden ihm abverlangten Preis bezahlte. Lord Spencer ging
bei dem Auf- und Ausbau seiner Büchersammlung vielmehr sehr
planmäßig vor; ließ für seine Zwecke England und den Kontinent
bereisen und ersetzte ständig die schlechten Exemplare seiner Biblio-
448
19. JAHRHUNDERT
thek durch bessere, dabei auch unvollständige Exemplare nicht zu-
rückweisend, um allmählich ein schönes, vollständiges Exemplar
zusammenzustellen. Seine zahlreichen Dubletten suchte er im
Tauschverkehre oder in regelmäßigen, zumeist von Evans geleiteten,
Versteigerungen zu verwerten. Seine Beziehungen gestatteten dem
Lord, für seine Büchertauschgeschäfte Wege einzuschlagen, die nicht
allen offen standen. Er gab gern den kleineren öffentUchen und halb-
öffentlichen Sammlungen, die ihre alten Scharteken los werden
wollten, einen sehr reichlichen Ersatz in den von ihnen gewünschten
neuen Werken. Oder aber er brachte auch Verhandlungen zum Ab-
schluß, die Bücheropfer verlangten, wie ein Tauschgeschäft mit der
Königlichen Bibliothek in Stuttgart, das Dibdin eigens nach Würt*
temberg führte und dessen Preis zwei Vergilwiegendrucke wurden,
an deren Stelle die Stuttgarter Bibliothek Bereicherungen ihres
Hauptfaches, der Theologie, empfing. Als Lord Spencer 1813 die
Büchersammlung StanesbyAlchornes, die er 1806 ausgeschlagen
hatte, von ihrem neuen Besitzer John of Hafod erwarb, geschah
das in der Hauptsache nur, um seine englischen Frühdrucke durch
einige erlesenste Stücke zu bereichern. Aber bereits im gleichen
Jahre kam der größere für ihn nicht verwendbare Teil dieser Samm-
lung mit anderen ausgeschiedenen Stücken auf seiner vierten Du-
blettenauktion durch Evans zum Verkauf, und die 187 Nummern
der Versteigerung wurden mit £ 1769 bezahlt. Eine ähnliche ge-
schäftliche Kaltblütigkeit, die letzten Endes das Ergebnis des
richtigen Sammlergrundsatzes war, die Auswahl, nicht die Zahl bilde
eine Liebhaberbücherei, konnte den Lord auch auf seiner biblio-
graphischen Kontinentalreise fördern, die er 1819 mit seinen Fehl-
listen unternahm, freilich nicht als ein dem guten Glück allein ver-
trauender Schwärmer. Er kannte die Bücherlager und die Bücher-
sammlungen des Kontinentes schon aus seinen frühesten, mit seinem
Erzieher, dem Orientalisten William Jones, dorthin unternommenen
Reisen. Der Bücherreise Höhepunkt, der Ankauf der Bibliothek des
Duca di Cassano-Serra in Neapel, die durch ein 1807 gedrucktes
Wiegendruckverzeichnis wohl bekannt geworden war, war für ihn
durchaus keine Überraschung. Denn er hatte vergeblich lange vor-
BOOENG 89 449
ENGLAND
her für die drei Werke der Sammlung stattliche Summen geboten,
auf die es ihm ankam und als er ihretwegen sich die ganze Sammlung
zu eigen gemacht hatte, konnte er aus dem Gedächtnis noch in Neapel
den Plan der Dublettenauktion entwerfen, die 1821 stattfand und
deren Hauptbestandteil die Bücher des Herzogs wurden. So er-
gänzte sein freigebiges, frisches Zugreifen ständig ein klares Urteil
über die Verwendung seiner Mittel, seiner Bestände und seines Geldes,
das für eine derartige großzügige Sammeltechnik unerläßlich wird.
Lord Spencer warf nicht das Geld mit vollem Händen aus dem Fenster
und verschleuderte nicht die Bücher, die er abstoßen mußte. Darin
kann er geringeren Sammlern vorbildlich sein wie überhaupt in der
überlegten Art, die ebenso in der Ausnutzung des Zufalls, den er zu
finden wußte, sich bewies, wie sie auch in der bedachtsamen Ergän-
zung der Lücken den sicheren UberbUck nicht verlor. Beschränkung
auf bestimmte Sammelgebiete, auf beste Abzüge bester Ausgaben bester
Bücher: das war ein Wahlspruch, der sich für die Althorp Library
bewährte. Sie war bereits um 1820 mit dem verhältnismäßig ge-
ringen Kostenauf wände von etwa £ 50000 nach ihres Begründers
Plan vollendet. Bis zu seinem Tode fanden sich denn auch nur noch
seltene Gelegenheiten, die Bücherei, die damals ungefähr 41500
Bände barg, durch erhebliche Neuerwerbungen zu vervollständigen.
Das Sammlergeschick und das Sammlerglück Lord Spencers ist
seine zähe Zielsicherheit gewesen. Mit ihrem ganzen Bestände, der
nach des Sammlers Tode sich noch vermehrt hatte, wurde die
Althorp Library 1892 von Mrs. John Ryland aus dem Familien-
besitz des Enkels Lord Spencers für eine Viertelmillion Pfund er-
worben und dem von ihr inmitten der Fabrikschornsteine Manchesters
1889 zur Erinnerung an ihren Gatten errichteten Prachtbau der
John Rylands Library zugeführt; einer Bibliotheksstiftung, der
sie 1901 die Manuskriptkollektion des Lord Crawford, die die Druck-
werke des Althorp Library wertvoll ergänzte, hinzufügte.
Alexander William, [25] Earl of Crawford [1812-1880]
hatte von seinem Vater Earl Alexander 3000 Bände ererbt, die
dieser als Heiratsgut von Baron Muncaster erworben hatte und die
nach seinem Plan den Kern einer Bibliotheca Crawford-Linde-
450
19. JAHRHUNDERT
siana bilden sollten, deren Gebäude 1830 in Haigh-Hall, Lancashire,
noch von ihm errichtet wurde; deren inneren Ausbau indessen erst
sein Sohn zu einem ersten Abschlüsse bringen konnte. Die Lindsay,
Grafen Crawf ord of Balcarres, hatten ihre im siebzehnten Jahrhundert
von John Lindsay Lord Menmuir in seinem Schlosse Balcarres am
Forth begründetete Familienbibliothek nicht immer mit Sorgfalt ge-
hütet und in Verfallszeiten waren wichtige Teile der alten Samm-
lungen zerstreut worden, darunter die 1712 von Colin Earl of Bal-
carres an die Advocates Library in Edinburgh verkauften histori-
schen Dokumente, die der Begründer der Bibliothek zusammen-
gebracht hatte: die sogenannten Balcarres Papers. Auch der Be-
stand der glanzvoll und großzügig von dem fünfundzwanzigsten
Earl erneuerten Büchersammlung hatte ihren Schöpfer nicht allzu-
lang überdauert. 1887 und 1889 wurden durch zwei Versteigerun-
gen [die für 3251 Nummern £ 28397 erlösten] bedeutende Teile auch
der Druckwerkereihen abgetrennt. Trotzdem aber blieb die neu-
ergänzte Sammlung mit ihren 100000 Bänden und 6000 Hand-
schriften, mit ihren Einblattdrucken und sonstigen Erzeugnissen der
ephemeren historischen Literatur eine Privatbibliothek höchsten
Ranges. Und wenn sie trotz ihrer Vorzüge, trotz des Willens von drei
begeisterten Buchfreunden, sie mit allem Reichtum auszugestalten,
anderen, geringeren und kurzlebigeren Sammlungen verglichen,
freilich zu Unrecht, weniger bekannt geworden ist, so liegt das nicht
zum wenigsten an ihrer allzuoft unterbrochenen Tradition.
In dem Verwandtenkreise des Earl Spencer war neben dem
Duke of Marlborough der erfolgreichste Büchersammler William
George Spencer Cavendish, [6] Duke of Devonshire [1790
— 1858] gewesen. Die Cavendish- Familie hatte in Chatswort h,
Derbyshire, und im Devonshire House eine Sammlung, in der sich
auch die Bücher von Henry Cavendish, teilweise die von Thomas
Hobbes und der alten Bibliothek der Bolton Abbey [Yorskhire]
zusammenfanden. Durch Ankäufe des ersten, 1707 gestorbenen,
Herzogs William auf französischen Auktionen und durch den dritten
Herzog gleichen Namens [1698—1755] war sie mit wertvollem Bücher-
gut vermehrt worden. Ihr eigentlicher Begründer aber ist der sechste
»• 451
ENGLAND
Herzog) der unter anderem auch für £ 2000 die schöne Sammlung von
Bühnenstücken des berühmten Schauspielers John Philip Kemble
[1757 — 1823] erwarb; wie denn überhaupt der besondere Vorzug der
Chatsworth Library, deren Auflösung im zwanzigsten Jahrhundert
die amerikanischen Liebhaberbüchereien mehrte, das altenglische
Drama war, dazu ihr Reichtum an englischen Wiegendrucken.
Das Beispiel der Chatsworth Library, die Geschichte der meisten
großen Privatbibliotheken Englands im achtzehnten und neun-
zehnten Jahrhundert läßt die Gründung des British Museum als
einer nationalen Schutzkammer geistiger und künstlerischer Werte
erst recht würdigen. Wie viele Bücher und Büchereien hat es nicht
in sich aufnehmen können, die sonst dem Lande verloren gegangen
wären. Allerdings, die Bedeutung, die seine BibUothek für das British
Museum hatte, ist erst seit 1835 hervorgetreten, nachdem in diesem
Jahre ein parlamentarischer Ausschuß sich mit der Reorganisation
von dessen Sammlungen beschäftigt und hierbei auch der bis dahin
nur als einen Anhang der Altertums- und Naturwissenschaften-
sammlungen geltenden Büchersammlung eine selbständige Stellung
verlieh, die ihr gegeben zu haben, das Verdienst Antonio Panizzis
[1797—1879] war. Als er 1837 zum Keeper of the printed books er-
nannt wurde, zählte die Bibliothek 167000 Bände, als er das Amt
des Oberbibliothekars niederlegte, 1865, fast eine halbe Million, die
in dem 1857 vollendeten großen Lesesaal dank einer geregelten Ver-
waltung leicht zugänglich gemacht waren.*
Unter allen Gaben, die die Bibliothek des British Museum im
neunzehnten Jahrhundert erhielt, ist keine, soweit es sich um eine
ganze Privatbibliothek handelte, wertvoller gewesen als die Grenville
Library. Sir Thomas Grenville [1755—1846],* der letzte „Chief-
Justice in Eyre**, hatte mit einem Aufwände von £ 54000 eine Lieb-
haberbücherei von 20240 Handschriften und Druckwerken gesam-
melt, die zu den glänzendsten ihrer Art gehörte. Ihr Ruhm, die
besten Werke aller bedeutender Autoren in den schönsten Ausgaben
der vorzüglichsten Auflagen zu enthalten, eine ideale Liebhaber-
bücherei gewesen zu sein, war wohl begründet. Eine ähnliche ge-
schlossene Sammlung fiel dem Museum erst wieder mit dem Ver-
452 *Abb.3o8, 317
19. JAHRHUNDERT
mächtnis von H. S. Ashbees [1834—1900]* zu. Dieser, ein Londoner
Großkaufmann, hatte, auf weiten Reisen und durch umfassende
gelehrte Studien gebildet, auch vielfache Beziehungen zu den Pa-
riser Bibliophilen seiner Zeit unterhaltend, zuletzt in seinem Land-
hause Hawkhurst, Kent, seine große Bücherei aufgestellt. Sie ent-
hielt mit ihren 8764 Werken in 15299 Bänden neben der berühmten
Erotica- Sammlung, die Ashbee als Pisanus Praxi teilweise selbst in
einem mustergültigen Werke beschrieben hat, und der ebenso be-
rühmten Cervantes- Reihe, [384 Ausgaben des Don Quixote, 114 Aus-
gaben anderer Werke des Cervantes und 252 Schriften über ihn,]
Folgen der Urausgaben der Werke Fieldings, Sternes, Moli^res. Le
Sages, zahlreiche Liebhaberausgaben und einen reichen biblio-
graphischen Handapparat, darunter ein extra illustriertes Exemplar
von Nichols Literary Anecdotes in 42 Bänden. Und sie war schon
eine moderne, bibliographisch-literarisch orientierte Privatbiblio-
thek) in der das historisch-typographische Element weiter zurück-
stand, aus dem die Buchfreunde, die Grenvilles Zeitgenossen ge-
wesen waren, das literarhistorische entwickelt hatten, unter ihnen
an erster Stelle Richard Heber.
Den Beinamen des Glänzenden hat Richard Heber [1773
—1833] von Sir Walter Scott erhalten, der über ihn verkündete,
seine Büchersammlungen und Weinkeller überträfen alle anderen auf
der Welt. Eine Meinung, die die Bibliotheca Heberiana rechtfertigte.
Daß sie die ihr gebührende Geltung nicht gewann, hatte einen dop-
pelten Grund. Denn die Aufhäufung der gewaltigen Büchermassen,
die ständige Aufkäufe und Bücherreisen ihres Sammlers vermehrten,
gelangte nicht mehr bis zu ihrer Ordnung und Zusammenfassung.
Sodann verhinderte ihre räumliche Verteilung auf eine Reihe von
Städten — Büchersammlungen Hebers standen in London, Oxford,
Paris, in Antwerpen, Brüssel, Gent, kleinere noch an einigen anderen
Orten des Kontinents — daß sie als ein einheitliches Ganzes in die Er-
scheinung trat. Auch die Doppelstücke waren wenig gesondert, ab-
sichtlich kaufte Heber manches alte oder neue dreifach nach seinem
Grundsatz: ein gutes Buch solle man dreimal haben; eins gehöre in
die Büchersammlung, eins sei für den eigenen Handgebrauch nötige
* Abb. 323 453
ENGLAND
und eins, um es zu verleihen. Die 150000 Bände, die Flugschriften
ungerechnet, die in den 202 Tagen der von 1834 bis 1837 dauernden
Londoner Versteigerungen — die Pariser Versteigerung fand 1836
statt — wieder zerstreut wurden, boten daher einbuntes Durch-
einander, das die Absichten des Sammlers und den Sammlungswert
nicht zeigte. Aber die Auswahl der reichen Reihen, der Klassiker-
editionen, der altenglischen Bücher und derjenigen der romanischen
Literaturen, die Heber zu treffen wußte, ist keineswegs lediglich ein
Zusammenkaufen gewesen. Die Eintragungen, die er in seine Bücher
machte, lassen erkennen, dafi er nicht lediglich ein bücherkundiger,
dajB er dazu ein geistreicher und gelehrter Mann gewesen ist. Als
Kenner steht Heber, der ebenso in den alten wie in den neuen Lite-
raturen zu Hause war, weit an der Spitze der großen englischen
Sammler seiner Tage, die bloß Sammler waren und die keinen Ver-
gleich mit seinem Wissen vertragen würden. Und auch die groß-
zügige Organisation seiner Privatbibliothek muß er verstanden,
er muß die für ihn Mitsammelnden an ihren besten Platz zu stellen
gewußt haben. Das lehren die Bücherlisten der Versteigerungsver-
zeichnisse, die leider nicht mehr zum Katalog einer der bedeutendsten
jemals vorhandenen Liebhaberbüchereien werden konnten. Das prak-
tische Resultat der angestrengten Sammeltätigkeit und ihres Auf-
wandes war es freilich nur gewesen, daß sie den Rohstoff anderer
Sammlungen, ihnen vorarbeitend, sonderte. Immerhin ist auch das
ein Verdienst gewesen; wofern es überhaupt ein Verdienst ist, Büche-
reien in einem Menschenleben mühsam zu gründen, die nach ihres
Sammlers Tode als Sammlungen vernichtet werden. So erläutert das
Beispiel Hebers an einem besonders deutlichen Fall ein Kernproblem
der modernen Bibliophilie, soweit diese sich in Bibliothekenschöp-
fungen tätig zeigt. Zwar bleibt die Buchpflege, aber der Sammlungs-
zweckgedanke geht immer von neuem verloren. Oder, wenn man
es lieber will, er erneuert sich stetig in den Büchereienwandlungen,
die eines Sammlerlebens Arbeit und Freude wurden. Das mag dem
einzelnen genügen, für die Bibliophilie als ein Element der Kultur-
politik im humanistischen Sinne ist es doch zu wenig, weil es die
bleibendste Leistung, die Büchersammlung selbst, zerstört.
454
19. JAHBHUNDEBT
Aus Hebers Reichtümern schöpften alle die Sammler, die damals
in England ihre berühmten Liebhaberbüchereien auf- und ausbauten,
ihre Schätze oder vervollständigten sie doch mit wertvollstem Bücher-
gut: William Henry Miller [1789-1848], der in Britwell Court,
Bucks, eine Bibliotheca poetica anglicana in seltener Vollständig-
keit angelegt hatte; Henry Perkins [1778—1855], der in Spring-
field, Surrey, eine kleinere aber um so kostbarere Bibliophilen-
bibliothek sich errichtet hatte; George Daniel [1789—1864], der
in seinem Hause in Islington die ältere englische Dichtung, vor allem
die ältere englische Dramatik und eine ShakespeareanacoUektion
sondergleichen herbergte; Rev. Thomas Corser [1793—1876],
dessen ,Collectanea Anglo-Poetica* die bibliographischen Fortschritte
vermerkten, die die Bibliophilie Englands auf dem ihr eigensten
Gebiete, dem des alten englischen Schrifttums, gemacht hatte und
die anderen Büchersammlungen, die meistenteils früher oder später
das Schicksal der Heber Library teilten, in einer , großen* Auktion
sich aufzulösen.
Bereits die Auflösung der Bright Library [1845] schreckte durch
ihre Preise eine Anzahl von Büchersammlern aus den Gebieten des
großen Sammlers im enghschen Geschmack zurück; bereits auf ihr
trat deutlich die Erscheinung hervor, daß es nur einzelne Sammler
waren, die sich die Hauptstücke teilten. Als die Auktion der Sunder-
land Library durch Messrs. Puttick & Simpson, vom Dezember 1881
bis zum März 1883, mit den für ihre 13858 Nummern bezahlten
£ 56581 6 s. dem Altbüchermarkt eine neue Ordnung ankündigte,
durfte der hervorragendste englische Antiquar des neunzehnten
Jahrhunderts, Bernard Quaritch,* der als Bieter alle seine Gegner
geschlagen hatte, sie mit einem Lobspruche schließen, der letzten
Endes mehr dem Sammelgut galt, trotzdem er die Sammlung aus-
zeichnete: „This was the most wonderful library that had been sold
by auction in the present Century. Fine as the Hamilton library
was he could form another like it to-morrow, but nothing like the
Sunderland library would be seen again as a private coUection. He
held its founder in the highest respect and gratitude." Das An-
denken des Büchersammlers war seine Bücherversteigerung ge-
^ Abb. 315 455
ENGLAND
worden, Bücherei und Buchware ließen sich fortan nur schwer unter-
scheiden, weil Einzelstücke zu hohe Werte geworden waren. Das
mußte der Altbuchhändler ebenso berücksichtigen wie auch der
Sammler selbst. Das Kommerzielle, ja das spekulative Element
war nunmehr ebenfalls eine Treibkraft geworden. Ein Materialis-
mus, wenn es einer war — denn als Kapitalsanlage berechnet haben
auch die besten und bestbezahlten Liebhaberbüchereien nur eine
mäßige Verzinsung gebracht — der schließlich doch nicht mit dem
Idealismus der Bibliophilie sich in Widerstreit zu setzen braucht.
Darüber urteilte der Nationalökonom Mc. Culloch in der Vorrede
seines Büchereiverzeichnisses: „It is no doubt very easy to ridicule
the taste for fine books and their accumulation in extensive libraries.
But it is not more easy than to ridicule the taste for whatever is
most desirable, as superior clothes, houses, furniture and acco-
modation of every sort. A taste for improved or fine books is one
of the least equivocal marks of the progress of civilisation, and it is
as much to be preferred to a taste for those that are coarse and ill
got up, as a taste for the pictures of Reynolds or Turner is to be
preferred to a taste for the daubs that satisfy the vulgär. A man
acts foolisly, if he spend more money on books or any thing eise than
he can afford; but the foUy will be increased, not diminished, by
bis spending it on mean and common rather than on fine and un-
common works. The latter when sold invariably bring a good price,
more perhaps than was paid for them, whereas the former either
bring nothing or next to nothing." Gerade aus der Kennerschaft
erwachsen die ideellen und die materiellen Gewinne einer Sammlung;
die Kenntnisse sind es, die sie wirtschaftlich machen, künstlerisch
wie wissenschaftlich, und ebenso für den Standpunkt, der in Geld-
zahlen Arbeitskraft und Auslagen umrechnend, die Ökonomie einer
Bibliophilenbibliothek übersehen will.
Allein die Druckwerke wurden in der Hamilton- Versteigerung
ausgeboten, gleichzeitig hatte die Preußische Regierung die Hand-
schriftensammlung, deren Hauptstück das mit den Botticelli-Zeich-
nungen geschmückte Dantemanuskript war, erworben. Ein Fall,
der in England vielfachen Widerspruch fand. Noch war man es nicht
456
19. JAHRHUNDERT
gewöhnt, dem Auslande Bücher- und Kunstschätze zu überlassen.
Ruskin [im , General Statement explaining the natur eand purposes
of St. Georges Guild'] forderte vergeblich zu einer Nationalsub-
skription auf, um diesen Schatz England zu erhalten und erregte das
Verlangen, wenigstens die Asburnham CoUection dem Lande zu
sichern. Bertram [4] Earl of Asburnham [1797—1878] hatte es
verstanden, mit einem verhältnismäßig geringen Aufwände eine
Büchersammlung zu schaffen, deren Druckwerke, noch billig gekauft,
sein Sohn bei der Auflösung der Sammlungen seines Vaters, teuer
verwertete. Nicht mit Unrecht tadelte W. Carew Hazlitt, daß die
glanzvoll die Auktionen des neunzehnten Jahrhunderts beendende
Asburnham- Versteigerung Preise zeitigte, die weit über den damaligen
Liebhaberwert hinausgingen; nicht mit Unrecht machte er dieser
Druckwerksammlung den Vorwurf , daß ihr jeder Plan, jede Teilnahme
für ihr Zusammenbringen gefehlt hätte. Sie war ein gut angelegtes
Kapital gewesen, das reichliche Zinsen trug: eine Ausnahme für das
Entstehen und Vergehen großer Liebhaberbüchereien. Auch die
an 4000 Bände umfassende Handschriftensammlung war weit mehr
durch eine Vereinigung vorhandener Handschriftenreihen zusam-
mengekommen als das Ergebnis fruchttragender Sammeltätigkeit ge-
wesen. Aus vier Teilen war sie gebildet worden, der Stowe CoUection,
der Libri CoUection, der Barrois CoUection und einer Gruppe einzeln
von Lord Asburnham erworbener Handschriften. Die Stowe Col-
lection historischer Manuskripte hatte Thomas Astle, Keeper
of the Records in the Tower, gesammelt und, weit unter ihrem Werte,
gegen eine Zahlung von £ 500 dem Marquis of Buckingham aus
Dankbarkeit gegen die Grenville- Familie hinterlassen, der das An-
gebot annahm und die Aufstellung der 996 Manuskripte in Stowe
bewirken ließ. 1849 bot dann der Marquis of Chandos dem British
Museum diese Sammlung für £ 8300 an, die Verhandlungen zer-
schlugen sich jedoch und Lord Asburnham kaufte sie dann. 1883
kam aber aus der Asburnham Library die Stowe CoUection doch
noch in das British Museum, freilich für einen weit höheren Preis.
Auch wegen der sogenannten Libri CoUection, die aus den Beständen
des Bücherdiebes Libri, die nach England geschafft waren, zu-
457
ENGLAND I
sammengesetzt wurde, hatte das British Museum 1846 und 1847
vergeblich verhandelt, bis Lord Asburnham in diesem Jahre ihre
1923 Manuskripte für £ 8000 kaufte. Die ihm 1848 für £ 6000 an-
gebotene B a r r o i s CoUection, 702 Manuskripte altfranzösischer
Dichtungen, hatte das British Museum gleichfalls ausgeschlagen und
Lord Asburnham, der seinen drei Handschriftenreihen nach und nach
ein Vierteltausend weiterer Manuskripte hinzufügte, konnte sie
für diesen Preis erwerben. So war also die Begründung dieser be-
rühmten Manuscript Library im Grunde nicht viel mehr gewesen
als die innerhalb eines kurzen Zeitraumes von einem , entschlossenen
Käufer^ benutzten Gelegenheiten, das Beste, was der Markt gerade
bot, aufzukaufen; der über bureaukratische Sammelverfahren sieg-
reiche „Geldmann**, der solchen Vorteil wahrnahm, deshalb noch
nicht ein Sammler grojBen Stils geworden, den ein höherer Zweck
begeisterte.
Buchhandschrift und Druckwerk gehörten im neunzehnten
Jahrhundert schon getrennten Sammelgebieten an. Die bedeu-
tendsten zwischen 1810 und 1870 in England hervortretenden
Bibliophilen, deren Bibliotheken die Druckwerkliebhaberpreise
durch ihr Entstehen und Vergehen reguliert hatten, der Duke of
Roxburghe, Mr. Heber, Mr. Grenville, Mr. Daniel, Lord Spencer,
Mr. Miller und Mr. Huth, auch Mr. JoUey, Mr. Bright und Mr.
Corser wären im gleichen Zusammenhange wohl noch anzuführen,
besaßen bei der Anwendung großer Mittel immerhin noch die Mög-
lichkeit der Auslese und^ Auswahl ihrer Kostbarkeiten und Selten-
heiten nach einem weit gesteckten Plane. Diese Möglichkeit schränkt
sich, nach den ersten Durchsuchungen der erforschten Sammel-
gebiete, jedoch immer weiter ein und so wurden denn die neu ent-
stehenden großen Sammlungen in immer höherem Maße notwendig
abhängig von der Auflösung oder der Aufteilung bestehender Lieb-
haberbüchereien. Im allgemeinen mußten sich die Antiquariate mit
den begehrtesten Hauptwerken, mit den Büchern, die für die einzel-
nen Sammelrichtungen an der Spitze standen, ebenfalls in den Auk-
tionen ersten Ranges versorgen. Damit wuchs nicht nur deren Be-
deutung für die besten Bibliophilenbibliotheken überhaupt, sondern
458
19. JAHRHUNDERT
sie wurden geradezu für sie die eigentlichen Quellen ihres Wachstums.
Und nachdem man im zwanzigsten Jahrhundert bereits zu Be-
standsaufnahmen der gegenwärtigen Verteilung des Sammelgutes,
des Vorhandenseins von Caxtons oder Shakespeare-Original-Editio-
nen an dieser oder jener Stelle, von Wiegendrucken im amerikani-
schen Besitz gelangt ist, macht ein solcher Census auch die Markt-
kontrolle in einem Umfange möglich, der immer mehr die Sammlun-
gen einengt, die für den Wettbewerb um alte oder auftauchende
neue Stücke bestimmter Sammelgebiete in Frage kommen können.
Die Formeln für die Aufstellung hoher Liebhaberwerte sind auch
rechnerisch richtig zu begründen, da sich das Verhältnis von An-
gebot und Nachfrage genauer bestimmen läßt und ausgeschaltet
bleiben hier nahezu die Hoffnungen, Sammlerglück ohne die er-
forderlichen runden Summen zu gewinnen. Die Bildung großer
Liebhaberbüchereien in der Art der oben erwähnten ist also nahezu
unmöglich geworden, soweit neue Privatbibliotheken ihres Ranges
nicht die Kombinationen schon vorhandener sind. Daraus erklären
sich die amerikanischen Sammelverfahren des Aufkaufens bestehen-
der Büchereien. Ein Menschenleben reicht nicht aus, Stück für Stück
der Bibliophilenbibliotheken desjenigen Umfanges und Wertes zusam-
menzutragen, die für die großen englischen Liebhaberbüchereien
des neunzehnten Jahrhunderts und ihren Stil kennzeichnend ge-
wesen sind.
In der Hauptsache ist auch die Huth Library zwischen den
Jahren 1854 und 1870 entstanden. Der Bankier Henry Huth
[1815—1878],* der Sohn eines deutschen Vaters und einer spanischen
Mutter, kaufte 1854 in der Dünn Gardner- Versteigerung sein Exem-
plar der ersten Shakespeare-Folio. Die Auktionen Daniel und Corser
brachten ihm noch eine reiche Bücherauswahl. Sonst aber war es
weit mehr der für ihn mitsammelnde Antiquar, der seinen Bücher-
schatz vermehren half, als das eigene Suchen, das noch der ihm
vorangehenden Bibliophilengeneration möglich gewesen war. Er-
klärlicherweise wandten sich die Altbuchhändler mit ihren frei-
händigen Angeboten, wandten sich auch die Privatleute zuerst an
den reichen Sammler, von dem sie wußten, daß er die erlesenen
^ Abb. 314 459
ENGLAND
Sammlerstücke mit dem Liebhaberpreise bezahlen konnte und wollte,
den sie kosteten. Das bedeutete keineswegs, daß deshalb dieser
Sammler zu einem Spielball seiner Agenten wurde. Als Henry Huth
zwei Jahre nach der Perkinsauktion von Quaritch, der sie dort er-
worben hatte, die Mazarin- Bibel für £ 2625 kaufte, war er selbst über
die Höhe des Kaufpreises so stark gegen sich selbst verstimmt ge-
wesen, dafi er die beiden Bände lange unausgepackt liegen ließ. Doch
ebensowenig war das Geschäft für Mr. Quaritch glänzend gewesen,
der an ihm £ 25 verdient hatte. Ein Geschichtchen, das hinreichend
die für den großen Sammler sich ergebenden Schwierigkeiten der
Verbindung seiner Bibliophilie mit finanziellen Transaktionen ver-
ständlich macht. Hier ließ sich das Sammeln und Spekulieren bis
zu einem gewissen Grade nicht mehr trennen, da die Hauptstücke
des Sammlungsgebietes schon zu Spekulationsobjekten geworden
waren. Diese Einwirkung des Altbüchermarktes verleugnete die
Huth Library nicht. Zwar erstreckte sie sich weiter, als manche der
anderen englischen Bibliophilenbibliotheken ersten Ranges; alte
deutsche und spanische alte Drucke lagen in ihrem Plan. Zwar ge-
wann sie einen erheblichen Umfang. Aber aus dem Bemühen des
Sammlers, die bemerkenswertesten Bücher in erlesensten Exem-
plaren zu erwerben; die lohnendsten Ankäufe zu machen, die deren
Aufwand rechtfertigten, entstand schließlich nur eine Vereinigung
von Cimelien-Spezial-KoUektionen. Da waren die altenglischen
Drucke und die Shakespeareana, da waren die Reihen der alten
Reisewerke und manche anderen Reihen noch, die letzten Endes
nicht mehr in einer Büchersammlung zusammenwuchsen, weil über-
all nur die Kostbarkeiten und Seltenheiten vorhanden waren; weil
die Bücher geringen Liebhaberwertes, die doch einer Bücherei un-
entbehrlich sind, um in ihrer Art vollständig und zu einer Recht-
fertigung des Sammlers zu werden, fehlten. Nicht daß Henry Huth
kein Bibliophile gewesen wäre. Die Bücherliebe hat in seinem Leben,
das sein Sohn Alfred im ,Dictionary of National Biography* schrieb,
eine nicht geringe Rolle gespielt. Aber die Art seiner Sammlung be-
schränkte sie auf eine Auswahl, die ohne das Sammlungsziel zu
stören, keine Ausgleiche und Übergänge zuzulassen schien. So wurde
460
19. JAHRHUNDERT
sie in hohem Maße vollständig und blieb, als Bücherei, doch im
hohen Maße unvollständig, von einer kühlen Nüchternheit. Die be-
lebende Wärme des Buches ihrer Gegenwart hatte sie sich versagt;
sie war ein Antiquitätenkabinett geworden, das in den früheren Jahr-
hunderten zurückblieb; ihr Auktionskatalog hätte auch die Be-
schreibung der kostbarsten Werke eines Altbuchhändlerlagers sein
können. Als Alfred Henry Huth, der die Huth Library im Sinne
seines Vaters verwahrt und vermehrt hatte, 1910 starb, überließ er
als ein Vermächtnis dem British Museum die Wahl von 50 Büchern
der Sammlung, das kostbarste Geschenk, das das Museum seit der
Gabe der Grenville Library erhalten hat. 1914 bis 1922 ist dann
die Bibliothek Huth in London unter den Hammer gekommen,
eine Versteigerung, die die der anderen berühmtesten englischen
Bibliophilenbibliotheken ihrer Zeit, so der Büchereien von Sir
William Tite [1798—1873], James Thomson Gibson-Craig
[1799-1886], Robert Samuel Turner [1818-1887], Frederick
Locker-Lampson [1821—1895] und der Didlington Hall
Library weiter hinter sich zurück ließ.
Der Bibliothekenzauber, der von den Büchereien ausgeht, die
als Erbgut, als Familienüberlieferung gehütet, Generationen hin-
durch gewachsen sind; die Dinge oder doch das Wesen von Dingen
enthalten, von denen das Gefühl empfindet, sie seien unkäuflich, ist
längst aus den der Gegenwart angehörenden großen Liebhaber-
büchereien verschwunden. Mag die Persönlichkeit ihres Sammlers
auch in ihnen mächtig sein, mag auch ihre Geldwertung außer Be-
tracht bleiben: die ihnen notwendige bibliographische und biblio-
thekarische Organisation verbietet es ihnen, sich jener im Schimmer
der Vergangenheit verklärten Willkür zu überlassen, in der die
alten Sammlungen wuchsen. Daß diese alten Büchereien, in denen
die Bücher ihrer Zeit inzwischen zu Sammler- und Wertstücken
wurden, eine Romantik - Stimmung erhalten, die unvergleichlich
wirkt, mag zutreffen. Aber die Einschätzung einer modernen Privat-
bibliothek im Vergleich mit ihnen wird doch in dem Maße zunehmen,
in dem sie zur Lösung eines bestimmten Bibliotheksproblems wird,
als das Ergebnis einer ausgebildeten Sammeltechnik. Aus dem
461
ENGLAND
begeisterten bibliomaniac, der sich der Bücherlust überließ, ist ein
wägender, wissenschaftlich arbeitender Büchersammler geworden;
der rechnende Sammler aus dem wagenden book-hunting sportsman.
Ob deshalb, manche meinen so, aus der Bibliophilie, soweit sie sich
im Büchersammeln äußert, die Poesie verschwunden sei, das zu er-
örtern ist für weite Sammelgebiete, die das alte Buch umhegen,
zwecklos. Der Buchfreund sieht sich klar zu überlegenden Tatsachen
gegenüber. Daß dergleichen Überlegungen zuerst für die englisch-
amerikanische Bücherliebhaberei Geltung erhielten, ist doch wohl
kein Zufall gewesen.
Der Bibliothek von Holland House* in London, die auch die
Büchersammlung von Joseph Addison [1672—1719] seit seiner
Heirat [1716] mit der verwitweten Gräfin Warwick gewesen war,
und die 1767 mit Henry Fox, Lord Holland zur Familienbibliothek
leitender liberaler Staatsmänner des neunzehnten Jahrhunderts
wurde, gedachte einmal Macaulay mit diesen Worten: „Mit be-
sonderer Vorliebe wird man sich jenes ehrwürdigen Saales erinnern,
in dem alle Altehrwürdigkeit einer Universitätsbibliothek so merk-
würdig sich vereint mit weiblicher Grazie, die auch einen ernsten
Raum verschönern kann. Von hier aus wurde zwei Generationen
hindurch die Politik Europas durch Vernunft und Beredsamkeit
geleitet. Bronze und Leinwand wurden in Leben verwandelt und
der Nachwelt Werke hinterlassen, die nicht zu sterben vermögen.
In diesem eigentümlichen Kreise konnte jedes Talent seinen Platz
finden. Es kam vor, daß in einer Ecke die letzte politische Debatte
und in einer anderen Ecke das neue Lustspiel von Scribe besprochen
wurde, während Makintosh im Thomas von Aquino blätterte, um
eine von ihm angezogene Stelle zu vergleichen, und Talleyrand über
seine Unterhaltung mit Barras oder von seinem Ritt mit Lannes
über das Schlachtfeld von Austerlitz erzählte. . . . Man fühlte stets
die offene Höflichkeit, die sofort selbst den jüngsten Schriftsteller,
der sich zum erstenmal zwischen Botschaftern und Herzögen be-
fand, aller Verlegenheit enthob." Die Ansicht einer Bücherei, die
für eine Gesellschaft, in der sich geistige Beweglichkeit mit einem
gelassenen Wirklichkeitssinn durch Anlagen und Erziehung ver-
462 * Abb. 313
19. JAHRHUNDERT
band, den rechten Hintergrund abgab. Daß in diesen anmutenden
Räumen große Unternehmungen großartig ausgedacht und voll-
endet wurden, ist ohne Zweifel. Aber läßt es sich auch denken, daß
sie, wie das in der Humanistenepoche geschehen ist, zum Ausgangs-
punkt einer bibliographischen Expedition hätten werden sollen, die
in der Hoffnung, ein unbekanntes Werk zu entdecken, nach un-
gewissen Zielen geschickt wurde? In jenen frühen Tagen der auf-
erweckten Bücherliebe wechselte man gegen Geistesgüter sein Gold;
in der Roxburghe -Versteigerung zahlte man es für den Sammler-
ruhm. Nun gilt die anerkannte Buchware, die ihren hohen Preis
wert ist, der allseitiger Prüfung stand hält. Das ist kein bloßer
Kommerzialismus und Materialismus. Denn eben diese allseitige
Prüfung bedingte es, daß mit den äußeren Buchwerten diejenigen
inneren Buchwerte erfaßt wurden, die sie hervorriefen; daß die Aus-
lese der besten Druckwerke, der erhaltenswertesten, die durch die
Büchervermehrung notwendig wurde, sich zwar auf dem Altbücher-
markte vollzog, aber doch immerhin vollzog; zu einer Anpassung an die
wirtschaftliche Entwicklung Europas wurde, in der sich nur das er-
hält, was einen eigenen Wert im wirtschaftlichen Kreislaufe ge-
wonnen hat. So liegt in der Ausbildung hoher Liebhaberpreise für
die marktgänge Buchware auch dann noch ein ökonomisches Ele-
ment der Buchpflege, das nicht zu unterschätzen ist, wenn die Trieb-
kräfte, die ihre Wirkungen hervorrufen, allein der Bewunderung
des Buches und nicht noch seiner Verehrung entstammen. Poli-
ziano hat einmal in einer Prunkrede den Lorenzo de' Medici und den
Herzog Federico von Urbino gepriesen: ,, Diese beiden wagten in
einer düstern Zeit auf Licht zu hoffen und einen starken Damm
gegen den Strom der schlechten Gewohnheiten aufzuwerfen. Daher
versahen sie sich mit Büchersammlungen und hielten es ihrer nicht
für unwürdig, sich selbst den Studien zu widmen." Sie dachten
kulturpolitisch. Und dieser Gedanke verkörpert sich in einer jeden
Büchersammilung allein schon in ihrem Vorhandensein, sie sei
entstanden, wie sie wolle. Da wächst über den Sammler die Samm-
lung hinaus und es ist ebenso müßig zu fragen, ob sie von höchstem
Nutzen für den Sammler selbst geworden sei, wie es müßig zu fragen
463
ENGLAND
sein würde, ob die Hüter anderer Kulturgüter bereits genug
taten, indem sie einen Damm gegen den Strom der schlechten Ge-
wohnheiten errichteten.
Die bibliographische Kritik hatte auch in England im neun-
zehnten Jahrhundert die Originaledition zum Sammelgegenstand
werden lassen; eine Verfeinerung ebenso der gefühlsmäßigen wie der
schrifttumsgeschichtlichen Werte, die die Bibliophilie ausbildete.
Lord Macaulay [Boswells Life of Johnson] hat das einmal um-
schrieben: „We love, we own, to read the great productions of the
human mind as they were written. We have this feeling even about
scientific treatises; though we know that the sciences are always
in a State of progression, and that the alterations made by a modern
editor in an old book on any brauch of natural or political philosophy
are likely to be improvements. Some errors have been detected by
writers of this generation in the speculations of Adam Smith. A
short cut has been made to much knowledge at which Sir Isaac
Newton arrived through arduous and circuitous paths. Yet we still
look with pecuUar veneration on the ,Wealth of Nations* and on the
yPrincipia^ and should regret to see either of those great workes garbled
even by the ablest hands. But in works which owe much of their
interest to the character and Situation of the writers the case is in-
finitely strenger. What man of taste and feeling can endure ri-
facimenti, harmonies, abridgements, expurgated editions? Who ever
reads a stage-copy of a play when he can procure the original?
Who ever cut open Mrs. Siddon's Milton? Who ever got trough ten
pages of Mr. Gilpin's translation of John Bunyan's ,Pilgrim* in to
modern English? Who would lose, in the confusion of a Diatessaron,
the peculiar charm which belongs to the narrative of the disciple
whom Jesus loved? The feeling of a reader who has become intimate
with any great original work is that which Adam expressed towards
bis bride: , Should God create another Eve, and I another rib
afford, yet loss of thee would never from my heart.* No Substitute,
however exquisitely formed, will fill the void left by the original.
The second beauty may be equal or superior to the first; but still
it is not she.'*
464
19. JAHBHUNDEBT
Die Ausbreitung des Buchgewerbes hatte den Verfasser bei der
Drucklegung eines Werkes immer weiter von diesem entfernt;
fremde Hände und Köpfe nahmen mit wachsendem Einfluß an der
Buchverkörperung seines Werkes teil, traten zwischen ihn und den
Leser. Die bibliographisch aufzuklärenden Verhältnisse zwischen
Buchform und Werkinhalt wurden verwickelter. Wo früher ein
Band die rechte und schlechte Wiedergabe der Druckvorlage eines
Verfassers gewesen war, war er nach und nach zu einem auch durch
mancherlei dem Werke fremde Rücksichten beeinflußt und bestimmt
worden. Das alles kam zusammen, um die Bibliographie der Ori-
ginaleditionen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts auch
für den Bibliophilen zu einem komplizierten Studium zu machen,
in dem mancher Buchfreund und Büchersammler gleich Thomas
B. Wise* vorbildliches leistete. Dabei mochten Kuriosität und Rari-
tät wohl den Sammlerehrgeiz locken. Aber die eigentliche Absicht
blieb es doch, durch solche angewandte Bücherkunde zu dem Ori-
ginal eines hervorragenden Schriftwerkes, das in einem Auflagen-
und Ausgabengewirr verschwand, vorzudringen; zu der echten Form,
zu dem reinsten Text einer Schriftwerküberlieferung.
Eine Absicht, die sich mit derjenigen begegnete, die William
Morris [1834—1896]* als die Bewegung eines Revival of printing
hervorrief und die sich keineswegs auf die Buchkunst einschränkte,
mochte sie auch in der Erscheinung einer Erweckung der Kunst im
Buchdruck hervortreten. Die Betrachtung des Buches als Kunst-
werk, auf die die Buchverschlechterung führte, die das Maschinen-
zeitalter des neunzehnten Jahrhunderts herbeigeführt hatte, mußte
notwendigerweise die Muster einer besten Gebrauchsform des Buches,
die seine vollendete Zweckerfüllung wünschte, in der Vergangenheit
wählen. Wenn William Morris bis in die mittelalterlichen Werk-
stätten zurückging, wenn derart der gotischen Mode in der englischen
Bibliophilie um 1800 eine freilich andersartige gotische Mode um
1900 entsprach, so erklärte sich das aus dem Verlangen von Morris,
die Buchherstellungsverfahren zu veredeln; ästhetisch und tech-
nisch zu veredeln und auch ethisch; das Maschinenprodukt, das das
Buch geworden war, aus seiner Mechanisierung zu erlösen; es zu be-
BOOENQ 80 Abb. 31S— 320. 322, 324 465
AMERIKA (U. S. A.)
Seelen mit dem Geist einer Werkstattgemeinschaft, der es zum Er-
lebnis wurde. Dadurch sollte die äußere Buchform mit der inneren
Werkform von neuem organisch verschmolzen; die Ausdrucksfähig-'
keit des Druckwerkes auf das höchste gesteigert; das vollendete Buch
wieder eins mit der geistigen und künstlerischen Schöpfung werden,
die es über Raum und Zeit zu tragen hatte. Inwieweit das alles
Morris und seinen Nachfolgern, die er im zwanzigsten Jahrhundert
auch in den anderen Ländern fand, gelang, mag umstritten werden.
Dafi die Bibliophilie als die Liebe zum guten und schönen Buche
durch diese Buchkunstgedanken äußerlich und innerlich gewonnen
hat, ist unbestreitbar. Denn nun galt ihre Buchpflege nicht lediglich
dem Aufbewahren der Überreste der Vergangenheit. Nun verwies
sie sie wieder auch mit dem Buche ihrer Gegenwart auf die Zukunft;
nun war sie wieder ein Bücherhort, der die besten und schönsten
Bücher, den Gedankenschatz der Menschheit, gegen die Strömungen
des Tages schützte und ihn weiterbildend in den großen Strom leitete,
der durch die Jahrtausende flutend, sie mit seinem Segen befruchtet. —
Daß Amerika es besser habe als der alte Kontinent, ist auch für
die Bücherliebhaberei und die Büchersammlungen in den Ver-
einigten Statten insofern ein wahres Wort gewesen, als dort die kurze
nationale Tradition, ungeachtet ihrer Verbindung mit der englischen
Zivilisation, immerhin den Vorteil hatte, die Auswahl der Bücher-
massen früherer Jahrhunderte erheblich zu erleichtern. Den , Ballast'
beiseite zu lassen; das Beste der Sammelgebiete, ihre Spitzen, für
sich zu erwerben, ist für den amerikanischen Bibliophilen Samm-
lungsverfahren und Sammlungsziel geworden. Da aber die begehrten
Bücher vorerst allein in den Bücherländern Europas zu finden waren,
mußten sie in diesen erworben werden. Die Sprachgemeinschaft be-
dingte es, daß der englische Klassiker auch zum amerikanischen
wurde, für das ältere Schrifttum wenigstens, und daß man den be-
vorzugten englischen Sammlungsbereichen sich ebenfalls zuwendete;
freilich ohne Berücksichtigung der älteren europäischen Biblio-
thekentradition. Dazu kamen, erklärt durch die bevorzugten Europa-
reisen, die französischen alten und neuen Bibliophilenbücher sowie,
erklärt durch Sprachbeziehungen, das ältere spanische Schrift-
466
19. JAHRHUNDERT
tum. Schließlich gewann man eine eigene nationale Richtung, indem
man die Americana suchte, die frühen Nachrichten über die ameri-
kanische Entdeckungs- und Kolonisationsgeschichte sowie die Erst-
ausgaben der amerikanischen Autoren. Und schließlich vernach-
lässigte man auch nicht die literarischen Antiquitäten, die Wiegen-
drucke. Die Beziehungen der amerikanischen Bibliophilie mit dem
durch seine Technik ausgezeichneten öffentlichen Bibliothekswesen,
das ebenfalls eine von der europäischen sich unterscheidende Sonder-
entwicklung nahm, weil es erst im neunzehnten Jahrhundert neue
Sammlungen schuf, sind eng. Den Mangel an alten Büchern in ihrem
Lande zu heben, ist der Ehrgeiz vieler amerikanischer Buchfreunde,
die deshalb mit der Absicht ihren Büchereien schaffen, sie als ihres
Namens Ruhmesträger nach ihrem Tode ein Gemeingut werden zu
lassen. Die Bibliothekenstiftung und das Buchgeschenk sind in den
Vereinigten Staaten von Amerika im zwanzigsten Jahrhundert fast
ein ebenso starkes Bibliophilieelement wie im humanistischen Italien
des fünfzehnten. Amerikanische Bibliophilie, sich zum Mäzenaten-
tum der Bibliotheksstiftungen ausbildend, ist durch das Verlangen^
öffentliche Sammlungen als anfängliche private Unternehmungen zu
begründen und zu bereichern, häufig unpersönlicher, mehr von ,prak*
tischen Tendenzen' weitergeleitet als europäische. Denn sie ver-
bindet sich solcherart mit dem modernen öffentlichen Bibliotheks-
wesen. Ein Andrew Carnegie gab dem Betriebe seiner Biblio-
theksgründungen den Rahmen, den auszufüllen er dem Bibliothekar-
stabe überließ. Er hatte freilich auch mit ganz anderen Bände-
zahlen zu rechnen als die Bücherfürsten Italiens im fünfzehnten
Jahrhundert, die selbst die Bücher wählen wollten. So sehen wir
auch hier, gleichsam die entgangenen Jahrhunderte durch einen er-
höhten Aufwand der Kräfte und Mittel nachholend, die Bibliophilen
im Büchersammelwesen die Grundlagen der staatlichen Anstalten
schaffen, die die Büchertempel unserer Gegenwart sind und überall
den Auf- und Ausbau der öffentlichen Bibliotheken fördern. Aller-
dings auch deren Gedanke brauchte in den amerikanischen Staaten
Zeit, um zu reifen. Als der französische Schauspieler Alexandre
Vattemare, der seine Bühnenlaufbahn aufgegeben hatte, um einen
~* 467
AMERIK A (U. S. A.)
internationalen Büchertauschverkehr einzurichten, der der Errich-
tung öffentlicher Sammlungen dienen sollte, 1841 nach Boston kam,
um seine Ideen zu propagieren, fand er neben den Freunden seiner
Vorschläge, die die Notwendigkeit und den Nutzen öffentlicher
Bibliotheken für die Volkserziehung einsahen und sie als ein demo-
kratisches Ideal vertraten, eine starke Gegnerschaft. Erst 1852
konnte, durch ein 50000 Dollargeschenk von Joshua Bates die
Public Library of the City of Boston gesichert werden, die
erste große nordamerikanische städtische Bibliothek und als solche
ein Muster der glänzenden Entwicklung des öffentlichen Bibliotheks-
wesens in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Außer den bedeutendsten Büchersammlungen der Hauptstädte,
die sich etwa den deutschen Landesbibliotheken als lokale Mittel-
punkte des Sammelwesens vergleichen lassen, außer der großen in
der Bundeshauptstadt Washington 1830 entstandenen nationalen
und wissenschaftlichen Zentralbibliothek, der mit dem Copyright
Office und dem Smithonian Institution verbundenen Library of
Congress, sind die wissenschaftlichen Anstalten, insbesondere auch
die Universitäten, diejenigen Stellen, die die fördernde Unterstützung
der Bibliophilen in den Vereinigten Staaten finden. Allerdings, die
älteste Bibliothek dieser Art, die Harward University Library
in New Cambridge, Mass., die der Rev. John Harvard 1638 durch
das Vermächtnis von 300 Büchern und der Hälfte seiner Vermögens
zu ihrer Ausgestaltung und Verwaltung stiftete, ist mit diesem ihrem
Grundstocke, von dem sich ein einziges Buch erhalten hat, ver-
schwunden. Dafür wuchs sie sonst empor. 1723 zählte ihr erster ge-
druckter Katalog, der älteste Bibliotheks- Katalogdruck in den Ver-
einigten Staaten von Amerika, schon 3000 Bände. Und im neun-
zehnten und zwanzigsten Jahrhundert wuchsen ihr auch aus den
Bibliophilenbibliotheken Vermehrungen zu. 1910 erhielt sie die
vielleicht reichaltigste Sammlung von Früh- und Urausgaben der
Werke Popes, die Mr. Marshall C. Lefferts zusammengebracht
hatte. Ähnlicher Spenden durften sich auch die jüngeren Uni-
versitäten erfreuen. Der Cornell University schenkte und vermachte
Professor Willard Fiske, der über zwanzig Jahre an ihr die nord-
468
19. JAHRHUNDERT
europäischen Sprachen gelehrt hatte, seine Dante- und Petrarca-
reihen, dazu seine im Fache der skandinavischen Literaturen be-
sonders reiche Bibliothek. Und die Yale University, New Haven,
wurde durch die Gabe eines Gönners in den Stand gesetzt, über eine
Shakespearesammlung sondergleichen zu verfügen. Diese berühmte,
dem an ihr bestehenden Elizabethan Club gehörende, Bücherei
darf eines der bezeichnendsten Denkmale amerikanischer Bücher-
liebhaberei, die sich in Büchereistiftungen äußert, genannt werden.
Eingebettet in einem Geldschrankbau modernster Präzisionstechnik
liegt das kleine im Elizabethanischen Stil ausgestattete Bücher-
zimmer, das die kostbarsten Reihen der Folios und Quartos herbergt,
die man hier ohne zu feilschen und zu sparen, zusammentrug. Eine
begrenzte Sammlung, ein Bibliophilenkabinett, aber in seiner Art
großzügig weit angelegt und unterschieden von dem Bric-ä-brac
der Kostbarkeiten und Seltenheiten in den Vitrinen französischer
Amateure des neunzehnten Jahrhunderts. Denn es ist eine in fest-
gefügten Rahmen ganz geschlossene Sammlung, in einer Zeit ziel-
bewußt begründet und erweitert, in der ihre Sammlungsstücke noch
an einer Stelle zu vereinen nahezu aussichtslos schien. Und doch ist
sie in verhältnismäßig wenigen Jahren wenn nicht zum Abschluß
so doch nahezu zur Abrundung gekommen; ein Beispiel beherrschter
und von großen Mitteln unterstützter Buchpflege.
Als im Jahre 1847 das erste nach den Vereinigten Staaten von
Nordamerika gelangte Exemplar der zweiundvierzigzeiligen Bibel in
England für £ 500 gekauft war, gerieten die amerikanischen und
englischen Zeitungen über den unerhörten Buchpreis derart in Ver-
wunderung, daß der Erwerber, James Lenox, lange Zeit den Band
vom New Yorker Zollamt nicht abzuholen wagte. Seitdem hat sich
dieser Buchpreis verhundertfacht und die amerikanischen Bücher-
sammler sind es gewöhnt worden, die Antiquitäten der Typographie
aus ihren Ursprungsländern in die Vereinigten Staaten zu bringen;
einen Inkunabelnsport zu üben, der die Wiegendrucke den ameri-
kanischen Büchersammlungen zuführen soll. Doch fehlen neben den
Aufkäufern auch die Ausleser nicht, die Bibliophilen, die zu Forschern
aus ihrer Liebe zum alten Buche wurden. Zu ihnen gehörte J. B. Tha-
469
A M £ R I K A (U. S. A.)
eher [1847—1909], der neben seinen geschäftlichen Unternehmungen
und seiner politischen Tätigkeit auch als wissenschaftlicher Schrift-
steller sich auszeichnete. Er hatte als Bücher- und Handschriften-
sammler die amerikanische Entdeckungsgeschichte und die Co-
lumbusliteratur, die französische Revolution sowie die Wiegendruck-
zeit zu seinen Sondergebieten erwählt. Seine Inkunabelnkollektion,
in der ein halbes tausend Druckorte vertreten waren, überwies seine
Witwe 1910 der Library of Congress in Washington. Und weiterhin
der General Rush C. Hawkins, in Providence, Rhode Island,
der seit 1854 sammelnd sich in die Buchdruckgeschichte vertiefte,
der nicht ihre glänzendsten Schaustücke suchte, sondern Stück auf
Stück eine dokumentierende Privatbibliothek der Prototypo-
graphie zusammentrug. Dazu auch mancher andere Bücherkenner,
der, wie etwa Theodor de Vinne,von den alten Meistern für die
Kunst im Buchdruck der Gegenwart lernen wollte.
Die amerikanische Vorliebe für die hohe Zahl hat der ,Extra-
Illustration\ den Buchriesen, die mit tausenden von Bildern aus-
gestattet werden, in der amerikanischen Bücherliebhaberei eine
Sonderstellung gegeben. Hier wirkten ebenso die englischen Gran-
gerising-Methoden ein wie die Ausstattungsgewohnheiten der fran-
zösischen Bibliophiliemoden und es läßt sich nicht verkennen, daß
auch die ernsthaften Sammler ihr allzustark gehuldigt haben — um
die übertreibenden zu verschweigen, die, Buchkostspieligkeiten mit
hohen Liebhaberwerten verwechselnd, einzigartige Prachtwerke sich
ausdachten. Aber ebensowenig, wie die Rechnungen über die Edel-
steine der jewelled bindings es ausschließen, daß die amerikanische
Buchkunst sich eigenartig, auch sie die praktischen Tendenzen nicht
verleugnend, entwickelte, daß Buchpflege und Einbandliebhaberei
einander förderten; ebensowenig hat der Extra- Illustrationssport
sich lediglich in einem Bücherprunk ohne rechten Sinn erschöpft.
Er fand, nach französischen Mustern Autograpophilie und Biblio-
philie vereinend, eine eigene Richtung in der Einschätzung der lite-
rarischen Manuskripte; in dem Zusammenfügen von Briefwechseln
in Buchform; in der Zusammenstellung sonstiger Urkunden, die das
Sammlungsgebiet der ,modernen* Originaleditionen erweiterte. Auf
470
19. JAHRHUNDERT
diesem sind, weit mehr noch als in ihrem Mutterlande, besonders die
englischen Klassiker des neunzehnten Jahrhunderts geschätzt, deren
Urausgaben in aller Frische und Vollständigkeit der , Zustände' zu
gewinnen ebenso den amerikanischen Büchersammler lockt, wie er
sich müht, diese Reihen durch Autogramme zu vervollständigen.
Wobei dann die Spezialisten keine Kosten und Mühen scheuen, jedes
Blatt von der Hand ihres Autors, jede von ihm gebilligte gedruckte
Zeile sich anzueignen. Daß unter solchen Umständen auch diese
Liebhaberwerte ins Ungemessene sich vervielfachen, daß selbst John
Pierpont Morgan vor einem begeisterten Thackeraysammler, Major
W. H. Lambert, in den amerikanischen Bücherschlachten der
Jahre 1905 und 1906 die Waffen streckte, ist nicht weiter wunderbar.
Und wenn auch die Preise, die 1914 auf der Versteigerung dieser
Bücher- und Handschriftensammlung gezahlt wurden, nicht die
Höhe eines Morganschen Angebotes, das vergeblich einige Jahre
vorher für die ganze Sammlung gemacht wurde, erreichten, so waren
sie doch immerhin noch von solchen amerikanischen Dimensionen,
daß sie einen europäischen Wettbewerb auszuschließen scheinen.
Mit einem erheblichen Aufwände, doch ohne den Ehrgeiz des
Dollarsportes, hat Mr. James Carleton Young in Minneapolis
[Minnesota] Autograpophilie und Bibliophilie in nutzbringender
Sammelarbeit für das Buch seiner Zeit vereinen wollen. Er bemühte
sich, das Beste aller Nationalliteraturen unter seinem Dache zu-
sammenzubringen und zwar möglichst in den Originalausgaben sowie
mit Eintragungen der Verfasser in jedem Bande ihrer Werke ver-
sehen, durch die sie deren Grundidee oder Zweck erläuterten. Um
diese Autogramm-Selbstanzeigen zu erlangen, war eine ausgedehnte
Organisation, eine praktische Sammeltätigkeit erforderlich, deren
Unkosten den gegenwärtigen Liebhaberwert der meisten von Mr.
Young derart erlangten Bücher weit überstiegen haben werden.
Aber es ist dafür eine einzigartige Sammlung entstanden, die durch
die Jahrhunderte fortgeführt [sie soll als Stadt- oder Staatsbibliothek
erhalten bleiben] von unvergleichlichem Wert sein muß und die,
schon in früheren Jahrhunderten begonnen — Mr. Young hat auch
versucht, die Erstausgaben dichterischer und wissenschaftlicher
471
A M £ R I K A (U. S. A.)
Meisterwerke der Vergangenheit, soweit sie mit handschriftlichen
Eintragungen und Namensinschriften ihrer Verfasser ihm erreichbar
wurden, zu erwerben — heute schon ein Büchertempel sondergleichen
wäre. Beides, der originale Plan und seine praktische Verwirklichung,
lassen erkennen, daß die amerikanische Bibliophilie keineswegs sich
mit der Wiederholung europäischer Sammlergewohnheiten zufrieden
gibt und daß sie durch die Ausbildung der Sammeltechnik gerade den
Bibliophilenbibliotheken im Büchersammelwesen eine selbständige
Stellung schafft, die am deutlichsten in den größten und kostbarsten
amerikanischen Liebhaberbüchereien erkennbar wurde, den Hoe-,
Morgan-, Huntington-Privatbibliotheken.
Der Beruf Robert Hoes [Juniors],* des Besitzers einer Druck-
maschinenfabrik von Weltrang, brachte ihn in nahe Beziehungen
zum Buch als Druckwerk und ein halbes Jahrhundert hindurch
konnte er sich mit einem großen Aufwände seiner Büchersammlung
widmen; der bis dahin hervorragendsten amerikanischen Privat-
bibliothek. Aber diese äußeren günstigen Umstände waren es doch
nicht allein, denen er seinen Bibliophilenruhm verdankte. Der Be-
gründer des Grolier Clubs in Neuyork, der Vorkämpfer für die
amerikanische Einbandkunst und Einbandliebhaerei, ist von Jugend
auf ein Buchfreund gewesen und ist es, im Verkehr mit seinen Büchern
wachsend und sich weiterbildend, bis zu seinem Tode geblieben. Mit
den bibliographisch-literarhistorischen und den buchgewerblichen
Einzelheiten der Buchgeschichte vertraut, ein fleißiger Leser, ein
leidenschaftliches Sammlertemperament, hat der Schöpfer der Hoe
Library sich mit ihr eine zum eigenen Gebrauche bestimmte Lieb-
haberbücherei errichten wollen; ebenso entfernt von dem patrioti-
schen Ergeiz einer sozialen Tat, darauf berechnet, seinen Namen zu
verewigen wie von dem leeren Luxus eines Millionärsvergnügens. Die
Anfänge der Sammlung begann der Jüngling mit seinen Erspar-
nissen, als der Greis in seinem Testamente ihre Auflösung bestimmte,
durfte er sich von seinem Katalogprachtwerk sagen lassen, daß ihm
das Sammlerglück hold gewesen sei. Nicht allein die Kostbarkeiten
und Seltenheiten des Altbüchermarktes zeichneten die Hoe Library
aus. Die Buchpflege, die in ihr geübt wurde, wendete sich gleicher-
472 *Abb.325, 326
19. JAHRHUNDERT
weise den Bänden geringen Handelswertes zu. Einbände und Er-
haltung ihres gesamten Bestandes werden wohl in keiner ähnlich
umfangreichen Privatbibliothek auf einer derart gleichmäßigen
Durchschnittshöhe gestanden haben wie in der Hoeschen Sammlung.
Der Bibliothekskomfort, soweit er auf der Ausstattung des Buches
ruht, erreichte in ihr eine ungewöhnliche Vollendung.
Weshalb Robert Hoe die Sammlung, die ihm in einem Halb-
jahrhundert so ans Herz gewachsen war, sich auflösen ließ, hat er
selbst einmal Mr. Beverly Chew erläutert, der dem Versteigerungs-
verzeichnisse diese Erklärung vorangestellt hat. Weil Hoe bei seinen
Bibliotheksstudien erfahren mußte, daß die alten Bücher häufig der
liebevollen, sie erhaltenden Pflege in den großen Sammlungen ent-
behrten, kam er zu der Überzeugung, daß sie besser als ein Erbgut
von Bibliophilengenerationen aufgehoben waren, statt Nummern zu
sein, die von den Benutzern und sogar von den Bibliothekaren einer
öffentlichen Bibliothek vernachlässigt würden. Es ist Übertreibung
und ist Wahrheit in diesen Worten, die mehr sagen als Edmond de
Goncourts Wunsch, seine Bücher möchten den Nachbesitzern die
gleichen Freuden gewähren, die sie ihm geschenkt hätten. Wahrheit,
weil die Cimelien- Kollektionen ohnehin sich dem Allgemeingebrauche
auch in den öffentlichen Sammlungen verschließen müssen, wenn sie
nicht der Zerstörung anheimfallen sollen; Wahrheit, weil die Benutzer
der öffentlichen Bibliotheken das ihnen anvertraute Büchergut meist
mißachten und fast häufiger es, als sie es gebrauchen, verbrauchen.
Und deshalb klingt aus dem offenen Bekenntnis Hoes auch gegen
die amerikanische Tendenz der Verstaatlichung des Bücherbesitzes
eine leise Warnung hervor: diese, ihr eine solche Wendung zu
geben, daß der Bibliophile nicht den Aufwand an Mitteln, Mühen
und Zeit umsonst vertan sieht, wenn er seinen Büchernachlaß als
ein Ganzes erhalten, aber auch gehütet sehen will.
Als John Pierpont Morgan 1913 starb, hinterließ er die
kostbarste und reichhaltigste Privatsammlung der Welt. Schon
sein Vater hatte gesammelt. Doch erst ihm blieb es vorbehalten,
mit seinen Millionen die , amerikanische Gefahr' für alles, was in
Europa gut und schön war, zum geflügelten Wort zu machen. Es
473
A M £ R I K A (U. S. A.)
waren nicht allein die riesigen Summen, die er in dieses , Geschäft*
steckte — man erzählte sich, daß er 200 Millionen für Bibliothek und
Museum ausgegeben habe — die ihn zum unbestrittenen Herrscher
des Sammelmarktes werden ließen. Es war das für das Sammeln von
ihm befolgte System, das ihn unüberwindlich machte. Mochte er
überall auch ein Kenner und Liebhaber der Sammlungen gewesen
sein, die er erstehen ließ oder nicht. Er vertraute nicht auf die eigene
Kennerschaft, sondern umgab sich mit Sachverständigen, die für ihn
wählten, die ihm von überallher das erlesenste Sammlergut heran-
schaffen mußten, die die Pläne für den Ausbau dieser gewaltigen
Sammlung zu entwerfen und auszuführen hatten. Die Geldmacht
verband sich in Morgan mit dem wissenschaftlichen Betriebe einer
einheitlichen und vielseitigen Bibliotheks- und Museumsleitung und
mit kaufmännischer Klugheit und Zähigkeit. Morgan ist vielleicht
der entschlußfreudigste Käufer gewesen, den es je gegeben hat. Er
zahlte auch die höchsten Summen, die von ihm gefordert wurden,
ohne sich allzuviel zu bedenken, Phantasiepreise. Und doch hat er
sich fast niemals verrechnet. So stark ist in ihm die Fähigkeit ge-
wesen, das Geschäft zu beurteilen, das er machen wollte; soweit
reichte der Überblick über seine Sammlungen, um jederzeit zu wissen,
wo er ihnen eine wichtige Vermehrung zuwenden könne. Und eben
dadurch konnte er mehr als ein Aufkäufer, konnte er gleichzeitig
ein Ausleser werden. Denn die Angebote, die man einem Morgan
unterbreitete, mußten auch für ihn lohnend sein, das wußten alle,
die sich mit solchen an ihn wendeten. Einen kleinen Marmorpalast
hat Morgan seiner Privatbibliothek in Neuyork erbaut. Hier wurden
die Druckwerke und Handschriften aufgestellt, die er in seinen Besitz
gebracht hatte; eine Büchersammlung, die verhältnismäßig sehr viel
wertvoller als zahlreich war. In ihrem Heiligtum, dem Stahlzimmer,
reihten sich die erlesensten Stücke aneinander; Stücke, die man
vielleicht noch in europäischem Familien- oder Sammlerbesitz
wähnte, während sie längst in Morgans Privatbibliothek standen.
Allzuviel hat sich Morgan nicht aus dem Sammlerruhm gemacht,
ihm genügte es, selbst zu wissen, daß der Spinne in ihrem goldenen
Netz die Beute nicht entgangen sei. Er verhinderte sogar die Be-
474
19. JAHRHUNDERT
Schreibungen seiner Bibliothek, bis er in der Folge seiner Katalog-
prachtwerke auch deren Verzeichnisse veröffentlichen ließ, die mit
einem Male auch den Einblick in seine Bücherschatzkammer ver-
gönnten. Unnütz wäre es, Einzelheiten nach ihrem Preis und Wert zu
schätzen. Doch auch die Büchersammlung als ein Ganzes läßt sich
nicht kennzeichnen, wenigstens mit kurzen Schlagworten nicht. Denn
das Einzelstück hat in ihr eine viel weitere Geltung, als es bis dahin
in den meisten Büchersammlungen gewinnen konnte. Und dennoch
fügen sich diese Einzelstücke zu vollständig werdenden Reihen zu-
sammen; entsteht aus ihnen eine fest werdende Sammlung, von deren
Umgrenzung es sich kaum sagen läßt, ob sie da oder dort zu eng oder
zu weit wurde. Eine Auswahlsammlung ist Morgans Privatbiblio-
thek geblieben, eine Auswahlsammlung höchster Reichhaltigkeit und
höchsten Reichtums. Sie ist die Essenz der Bibliophilenbibliotheken
zweier Jahrtausende, auf den schönsten Wohlgeschmack amerika-
nisch-englischer Bücherliebhaberei gebracht. Morgan hat manche
Bibliophilenbibliothek gekauft, die von Bennet, Geo. B. de Forest,
Toowey; er hat indessen auch aus ihnen nur eine Auslese getroffen,
wie er vor und während der Auflösung vieler Liebhaberbüchereien
deren Schätze sich sicherte, die Amherst Caxtons, die Foulcschen
Ornamentwerke usw. Dieses Sammlungsverfahren war weder neu
noch amerikanisch. Neu war nur die großzügige Weise, in der es
gehandhabt wurde; die Art, in der es sich nicht in den Dubletten-
kalkulationen verlor, sondern kurzerhand ideelle Gewinnrechnungen
mit materiellen Verlustrechnungen ausglich, wobei dann letzten
Endes doch auch der Einkauf lohnend wurde. Die zehn Millionen
Dollars, die die Morgan-Privatbibliothek gekostet haben soll, sind
sicher in ihr angelegt worden: die Rechnung stimmte.
Der Hauptkäufer der Hoe-Auktion war Henry E. Hunting-
ton, der das amerikanische Sammelverfahren in seiner schärfsten
Ausprägung verkörpert. Nachdem er in reifen Jahren den Ent-
schluß gefaßt hatte, eine Bücherei zu gründen, in der die Haupt-
werke des Weltschrifttums in ihren besten Ausgaben und in deren
besten erreichbaren Exemplaren zusammenkommen sollten, gab er
ihr die Grundlage, indem er sich einen Apparat bibliographischer
475
AMERIK A (U. S. A.)
und bibliothekarischer Technik schuf — die geschäftlichen Er-
fahrungen fehlten dem mächtigen Kaufherren ebensowenig wie die
erforderlichen Mittel — der ihren wissenschaftlichen Ausbau ge-
währleistete und ihr gewissermaßen die Einrichtungen eines Buch-
f orschungs - Instituts gab, das gleicherweise den Ausgabenunter-
suchungen wie der Beschaffung der Bücher dienstbar gemacht
werden konnte. Welche Bücher zu gewinnen waren und wo sie zu
gewinnen waren in planmäßiger Arbeit, das war die Frage, deren
Lösung nun versucht wurde. Anders als das Sammeln und Sichten
früherer Tage mit ihrem Vertrauen auf Glück und Zufall erscheint
diese neue Art, in die Gelegenheiten Ordnung und Regelmäßigkeit
zu bringen. Das war freilich nur möglich durch ein systematisches
Aufkaufen und Auswählen. Einzelstücke und ganze Sammlungen
wurden dem Bestände der Huntington Library zugeführt, die in
ständiger Erneuerung sich verbessernd emporwuchs. Schlechteres
wurde durch Besseres ersetzt; die Doppelstücke, das nicht Geeignete,
häufig von hohem Wert, nutzbringend oder doch ohne allzu große
Verluste weitergeleitet. Derart verband sich auch eine nicht geringe
kaufmännische mit der Sammeltätigkeit, die rückwirkend sogar
einen Einfluß auf Altbüchermarkt und Preise übte. Denn wenn hier
der Sammler die größten Kostbarkeiten und Seltenheiten in mehreren
Exemplaren in seiner Hand vereinte, mußte er es ebenso vermeiden,
sie auf einmal wieder dem Büchermarkt zuzuführen, wie er ihn bis
zu einem gewissen Grade zu monopolisieren und zu regulieren, etwa
durch Tauschgeschäfte, in der Lage war. Mit anderen Worten: der
Büchersammler mußte auch zum Altbuchhändler werden, nicht in
der Art des amateur-marchand, der mehr oder minder durch seine
bibliographischen Spekulationen Geld gewinnen will; sondern in der
Art eines Sammlers, der nicht verschwenderisch, sondern wirtschaft-
lich sein Büchergut mehrt. Altbuchhandel, Bücherkunde und
Bücherliebhaberei zu einer neuen Form des Büchersammelwesens
verbunden ist für die bedeutendste amerikanische Bibliophilen-
bibliothek des zwanzigsten Jahrhunderts kennzeichnend. Ob damit
den Bibliophilenbibliotheken überhaupt neue wirtschaftliche und
wissenschaftliche Entwicklungsformen vorgezeichnet werden?
476
19. JAHRHUNDERT
Wie in den Tagen, da die Buchdruckerfindung von dem Buche
als dem Hüter einer Schrifttumsüberlieferung die Druckerzeugnisse
der Presse trennte, verweisen mancherlei Anzeichen des geistigen
Gefüges der Kultur unserer Gegenwart, mancherlei Entdeckungen,
die die Übermittlung von Bild und Wort erweiterten und die gleich-
zeitig eine Umgestaltung der Aufbewahrung des Gedankengutes
der Menschheit zu verkünden schienen, auf mögliche Veränderungen
im Buchwesen. Die Bibliotechnik in allen ihren Zweigen, die der Buch-
gestaltung und der Buchnutzung dient, ist, von der Bücherherstellung
und dem Büchervertriebe bis zur Bücherverwertung in den Büche-
reien in einem Halbjahrtausend auf einen Höhepunkt gelangt.* Ob
er den Abschluß einer alten, den Anfang einer neuen Entwicklung
bezeichnet, läßt sich noch nicht erkennen. Wir wissen noch nicht,
wie das Buch der Zukunft aussehen, welche Wege es die Bücher-
liebhaberei und das Büchersammelwesen führen wird. Aber wenn
wir uns mit den modernen Problemen beschäftigen, für die ein Be-
griff des Buches nicht mehr hinzureichen scheint, ahnen wir eine
Bücherdämmerung.
477
VIII. AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN
Allmählich hegannen, seit dem sechzehnten Jahrhundert, in den
Büchersammlungen sich die Druckschriften von den Hand-
schriften zu trennen. Diese Unterscheidung vollzog sich zunächst
äußerlich, bibliothekstechnisch, da die Dokumente und Manuskripte
ihrer Art und Bestimmung nach bibliographisch von den Druck-
werken abzusondern waren; bis sie dann überhaupt ihrem Wert und
ihrer Zahl nach in den Beständen der Privatbibliotheken zu Aus-
nahmen wurden. Andererseits bekamen die Archivalien, mochten
sie nun Familien- oder Gelehrtenpapiere sein, die Bedeutung eines
sich immer mehr der Büchersammlung entfremdenden Zubehörs;
bis sie dann ganz und gar als besondere Sammlungen betrachtet
wurden. Derart entwickelten sich die Autogrammsammlungen aus
den Briefsammlungen [Briefwechsel der Gelehrten, geschriebene
Zeitungen] und den Urkundensammlungen [Familien- und Ge-
schäftsschriften], indem an die Stelle der bisher vorwiegenden Fa-
milien- und Personalinteressen weiterreichende vorwiegend wissen-
schaftliche Zwecke auf die neuen Formen des Handschriftensammelns
führten. Das alles läßt sich an der Entstehung der Handschriften-
abteilungen der Bibliotheque Nationale und der British Museum
Library genauer verfolgen. Während jedoch die alten und die älteren
großen öffentlichen Bibliotheken mehr durch eine Neuordnung und
Neuwertung ihrer frühen Bestände auch zu Handschriftensamm-
lungen größten Umfanges wurden als durch spätere Erwerbungen
und Fortführungen, die sich gelegentlich und zufällig gestalteten,
konnte die Einschränkung des Marktes eine allgemein angelegte
Manuskriptbibliothek für den Büchersammler überhaupt kaum noch
möglich werden lassen. Denn einerseits verringerte sich das Angebot
der guten Stücke immer weiter, andererseits wurde deren Liebhaber-
preis immer höher; so daß der Aufbau einer Buchhandschriften-
sammlung heute lediglich zu einer Auswahl von buchgeschichtlichen
und buchkunstgeschichtlichen Probestücken werden kann. Das
bibliographisch-literarhistorische Moment tritt dabei für die früheren
Jahrhunderte weit zurück und gewinnt erst für die literarischen
478
AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN
Manuskripte der neueren Zeit [etwa seit dem siebzehnten Jahr-
hundert] in Verbindung mit den Autogrammkollektionen eine er-
heblichere Geltung. Andrerseits hat die Ausbreitung der Buchkunst
die kalligraphischen Meisterleistungen richtiger schätzen gelehrt,
und in der Form des Liebhaberstückes, der Buchhandschrift neue
Freunde gewonnen, die die nie ganz und gar vergessen gewesene
Tradition des Bibliophilen-Manuskriptes weiterführen.
Daß am Ende der Handschriftenzeit für den Sammler der
Seltenheiten der Vergangenheit noch einmal die Erscheinung einer
Bücherei möglich war, die die umfangreichste Manuskriptprivat-
bibliothek wurde, die es seit dem Altertum gegeben hat, erklärt sich
einmal daraus, daß in ihre hunderttausend Nummern auch die Auto-
gramme und Dokumente einbegriffen waren, daß die Manuskripte
nicht ausschließlich mitzählten. Sodann daraus, daß die Auflösung
den vielen alten Archive und Bibliotheken um 1800 damals den
Markt überreich versorgt hatte.
Thomas Carlyle hat den deutschen Professor Diogenes Teufel-
schröckh zum Mittelpunkt des „Sartor Resartus" gemacht, jenen
seltsamen, in seiner Bücherkammer verkommenen, weltentfremdeten
Mann; dieses als Gegenstück zum Begriff des englischen gentleman
um 1830 von einer geistreichen Feder aufgescheuchte Gespenst. Des
Absonderlichen Lebensart und Lebensgewohnheiten hätte Carlyle
auch in England finden können. Auch hier erlustigten sich mit ihren
Dingen allerlei Figuren, die zu den menschlichen Merkwürdigkeiten
gehörten. Nur daß bei ihnen der erstaunliche Wesenszug sich viel
weiter ausdehnte; ihre bewußte Einseitigkeit und unbewußte Grillen-
haftigkeit beinahe zu einer gigantischen Groteske wurde.
Damals, als Diogenes Teufelschröckh im Buche Carlyles zu
seinem langen Leben erwachte, lebte in England der Handschriften-
sammler Sir Thomas Phillips, Bart. [1792—1872], die, ihn
wenigstens, vollkommen beglückenden ersten Jahrzehnte seines
langen Lebens, das er ausschließlich dazu benutzt hat, alte Hand-
schriften aufzukaufen. Unter den Büchersammlern nicht nur
seines Landes hat er einen hohen Rang gewonnen und an Nach-
richten über seinen Besitz und ihn selbst fehlt es nichts Aber ein
479
AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN
Bild, das ein unbefangener, weil von keiner Sammelleidenschaft an-
gekränkelter, Mann von ihm in seinem Reisetagebuche entwarf, ist
trotz der lebenswahren Züge, die es trug, fast unerkannt vergessen
worden, obschon es in der Abschilderung des einzelnen auch die Gat-
tungsmerkmale geschickt hervorzuheben verstand.
Auch über die „Sammlungen und Sammler in England*' hat der
deutsche Reiseschriftsteller Johann Georg Kohl [1808—1878] be-
merkenswerte Beobachtungen gemacht und veröffentlicht. Der viel-
gewanderte Mann bekannte sich nicht nur als einen Bewunderer des
Reichtums von literarischen, Natur- und Kunstschätzen, die die Eng-
länder an allen Ecken und Winkeln ihrer schönen Insel aufgehäuft
haben, sondern erklärte auch die Ursache dieser Erscheinung kurz
und richtig. „Wer von irgendeiner Gattung oder Klasse, von in
irgendeiner Beziehung interessanten Gegenständen das Vollkom-
menste und Vollständigste sehen will, der muß nach England reisen.
Denn die Engländer sind jetzt, wie es einst die Römer waren, in der
vorteilhaftesten Lage, um die gesamte Natur und Menschheit auszu-
beuten. Ihre Konnexionen gehen über den ganzen Globus und Geld
haben sie in Fülle. Auch besitzen sie sonst alle Sammlern nötigen
Eigenschaften und Anlagen. Durch Ausdauer sind sie in so eminentem
Grade ausgezeichnet, daß meistens, wenn sie einmal ihren Sinn auf
etwas gesetzt haben, sich ihrer eine ganz fixe Idee dafür zu bemäch-
tigen pflegt. Dabei üben sie auch die gehörige Beschränkung, um
erfolgreich zu sein. Häufiger als bei irgendeinem anderen Volke wer-
fen sich ihre Liebhabereien auf etwas ganz Spezielles, auf diese oder
jene kleine Gattung oder Klasse der zahlreichen sammelbaren Dinge
des Globus.
Ein englischer Büchersammler widmet sich daher selten dem
ganzen weiten Felde der Literatur, vielmehr hat er gewöhnlich nur
eine gewisse Sorte von Büchern aufs Korn genommen, zum Beispiel
die Bibeln. Für alles, was Bibel ist, schwärmt er, für jede Bibel in
irgendeinem Formate, in irgendeiner Sprache, von irgendeinem
Datum zahlt er die größten Preise. Für alle andern Bücher, die nicht
Bibel sind, ist dann ein solcher kalt und unempfindlich. Und der
englische Sammler von Naturprodukten macht nicht den Versuch,
480
AUTOGBAMMKOLLEKTIONEN
das ganze weite Naturreich auf einmal zu erstürmen, er faßt die
Schöpfung vorerst bei einem kleinen Zipfel an, dessen er sich be-
mächtigt und den er mit alles andere [und alle anderen, ist hinzu-
zufügen] ausschließender Leidenschaft für den Raum des Sports-
manns ausbeutet. So kennt man in England den Mann, der die un-
vergleichlichsten Kolibris besitzt, ebenso wie den Eigentümer des
größten Palmenhauses, wie den in römischen oder sächsischen Mün-
zen von niemand übertroffenen. Ob Lord Elgin die Akropolis von
Athen nach Hause mitnimmt oder Lord Harrington aus der Fa-
milie der Stanhope sich eine ganz unvergleichliche Sammlung von
zweihundert in ebenso viel kostbaren Porzellangefäßen unter-
gebrachten Schnupf tabaksorten anlegt, bleibt im Grunde gleich;
das englische Raritätenkabinett, mag es nun ein Museum sein oder
in eine kleine Schublade hineingehen, ist eine allgemein anerkannte
Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens, selbst dann, wenn es
seinen Besitzer den anderen Äußerungen dieses Lebens entfremdet
und entzieht."
So hat Kohl eine damals in England berühmte Manuskripten-
sammlung mit einem gelehrten Freunde besichtigt, um an dieser
und an einer anderen Sammlung noch sich das Beispiel englischen
Sammelsports zu verdeutlichen. Die Schilderung der Expedition
zum Heiligtum jenes Herrn, den er Sir Charles nannte und der kein
anderer als Sir Thomas Phillipps gewesen sein kann, übertreibt
keineswegs allzusehr die Gewohnheiten dieses Aufraffers und Auf-
stöberers sondergleichen, der aber auch ein Handschriftenretter
sondergleichen gewesen ist.
„Sir Charles, der Manuskriptensammler, lebte in einem alten
Landhause in einer Grafschaft der westlichen Gegenden von Eng-
land [Thirlestaine House, Cheltenham] ... Zu ihm waren
die Zugänge sehr schwer, wie denn in England alle Wege und Stege,
die zu interessanten Dingen fähren, überall mit Schlagbäumen be-
setzt sind. Wie ihre schönen Parks und Schlösser und Gärten mit
allerlei Hecken und eisernen Gittern und Toren, so umgeben die
eifersüchtigen Sammler des Landes auch ihre Museen mit Hinder-
nissen mancherlei Art. Wie die Engländer überhaupt recht häufig,
BOGENO 81 481
AÜTOGRAMMKOLLEKTIONEN
SO sind denn auch namentlich die englischen Kuriositätensammler
von Haus aus in gewissem Grade Sonderlinge und Originale, und ge-
wöhnlich aus irgendeinem Grunde mit der Welt zerfallen und der
Gesellschaft und den zudringlichen Besuchern gram.
Sir Charles hatte sich, so sagt man, sogar mit seiner Familie
überworfen. Eine oder ich glaube gar zwei seiner Töchter hatten sich
gegen seinen Willen und ohne seine Zustimmung verheiratet. Sie
mußten sein Haus deshalb meiden, und da er keine andern Kinder
mehr besaß, so überließ er sich daher seiner Leidenschaft für alte
seltene Bücher in ganz unbegrenzter Weise, dachte nicht daran,
was er seinen Erben hinterlassen möchte, und steckte sein ganzes
Vermögen, man sagte über 150000 Pfund Sterling, in alte, seltene
Papiere.
Mit diesem seinem papiernen Schatze lebte er einsam und zurück-
gezogen wie ein Ritter mit seiner entführten Geliebten, auf einem ent-
legenen Schlosse, eifersüchtig auf seinen Besitz und ohne den Wunsch,
seinen Genuß mit anderen zu teilen. Nur Bücherhändler, An-
tiquare und Raritätenkrämer, mit denen er handeln und tauschen
konnte, fanden leichten Zutritt bei ihm. Müßigen Beschauern und
bloß wißbegierigen und neugierigen Gelehrten oder Literaturfreunden
öffnete er nicht gern sein Haus.
Ich glaube, er hatte dafür noch einen andern Grund. Obwohl
er wirklich viele der allerseltensten Sachen besaß, rare Drucke, Unika,
Inkunabeln, Urhandschriften, um die ihn selbst das Britische Mu-
seum beneiden konnte, so war er doch im Grunde mehr Laie und
Liebhaber als Kenner und Gelehrter. Er hatte daher eine gewisse,
allen Autodidakten eigene Scheu vor Männern vom Fache und ließ
sich nicht gern in die Karten gucken. Man mußte auf allerlei Quer-
und Kreuzwegen zu ihm gelangen. Mein besagter Freund, der die
Sammlung zu benutzen wünschte, mußte sich erst bei dem Lord H.
vorstellen lassen. Dieser Lord H., ein lintimus von Sir Charles,
mußte ihn und meinen Freund und auch mich erst zu einer Soiree
einladen. Da mußten wir uns alle treffen und da mußte unter der
Ägide hoher Protektion der Pakt geschlossen werden, der uns die
Erlaubnis zur Besichtigung der Sammlungen gab. -
482
AUTOGRAMM KOLLEKTIONEN
Wir durchflogen halb England per Eisenbahn, bis in die Graf-
schaft, in der unser einsiedlerischer Manuskriptenmann hauste. Dann
gab es eine leidliche Chaussee bis zu einem gewissen Städtchen dieser
Grafschaft. Von da an wurden die Wege immer schlechter und zuletzt
konnten wir nur noch mit einem einspännigen sogenannten ,Dog-Car'
[Jagdwagen] aus der Stelle kommen und zum Ziele gelangen.
Es war offenbar, daß Sir Charles den Zugang zu seinem Wohn-
sitze und zu seiner Sammlung nicht erleichtern wollte. Es gehörte
Beharrlichkeit dazu, zu ihm durchzudringen. Endlich verlor sich
der Weg ohne besonders markierten Übergang aus dem Felde und
aus der Wildnis in ein bißchen gartenhaftes Gebücsh, und da prä-
sentierte sich ohne alle weitere Vorrede — für die Ordnung und Aus-
schmückung seines Parks und Blumengartens hatte Sir Charles nie
einige Zeit und Neigung gefunden — das Haus, von oben bis unten
vollgepfropft mit Manuskripten und Büchern. Rouleaux und Gar-
dinen gab es nicht. Dagegen glotzten uns die im Innern auf-
getempelten Bücherkasten schon von weitem mit ihren Enden aus
jedem Fenster entgegen. Und diese sonderbare Erscheinung war
gleich eines der ersten Dinge, welche Sir Charles, nachdem wir ein-
getreten waren und er uns bewillkommnet hatte, erklärte. Er sagte
uns, er lebe in beständiger Furcht vor einer Feuersbrunst und er
habe daher diejenige Erfindung gemacht und die Vorrichtung ge-
troffen, die wir da vor den Fenstern sähen. Es waren lauter kleine
längliche Kasten, etwa so groß, als sie ein Mann leicht handhaben
und bewegen konnte. In jedem derselben waren einige derjenigen
Werke enthalten, welche Sir Charles für Hauptpretiosen hielt. Sie
waren alle verschlossen und zu jedem hatte der Besitzer einen
Schlüssel. Viele solcher Kasten standen in anderen Räumen des
Hauses herum, so daß sie im Falle eines ausbrechenden Feuers von
Sir Charles selbst oder von einem seiner Leute schnell aufgenommen
und zum Hause hinausgeschleppt werden konnten. Denjenigen,
welche vor den Fenstern selbst standen, brauchte man nur von hinten
einen Stoß zu geben, um sie sogleich aus dem brennenden Hause ins
Freie zu stürzen. Man kann sich denken, daß bei einem solchen,
bloß auf die Möglichkeit einer Feuersbrunst berechneten Aufstellungs-
»i* 483
AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN
Systeme die organische und rationelle Ordnung in der Sammlung
nicht groß sein konnte. Nur Sir Charles selbst, der ein ausgezeich-
netes Gedächtnis für seine Schätze und einen großen Lokalsinn für
sein Haus besaß, konnte sich darin zurechtfinden.
Übrigens war seine Furcht vor Feuer allerdings nur zu sehr be-
gründet; denn die ganze Wohnung, nicht nur alle Zimmer, sondern
auch der Hausraum, bis zur Küche hin, die Treppen, auch alle Schlaf-
stuben waren mit Büchern und Dokumenten und Papieren bepackt,
besteckt und vollgepfropft, so daß man in keinen Winkel mit einem
Licht hineinleuchten konnte, ohne auf solche leicht entzündliche und
dabei kostbare Stoffe zu stoßen.
Sir Charles hatte anfänglich, wie man es bei andern gewöhn-
lichen Literaturfreunden in England immer findet, bloß ein einziges
Bibliothekzimmer zur Aufbewahrung seiner Schätze benutzt. Als
seine Sammlung größer wurde und das Bibliothekzimmer endlich
ganz angefüllt war, mußte sich auch der Speisesaal für die Bücher
eröffnen.
Und da Sir Charles nicht nachließ, Manuskripte und Bücher
aufzutreiben und zusammenzukaufen, da seine Leidenschaft dafür
wie eine Krankheit wuchs, so griff auch in seinem Haushalte die
wuchernde Sammlung wie ein Krebsschaden mehr und mehr um
sich. Sie drang in alle Räume der Wohnung, in alle Gaststuben,
Vorratskammern und Schlaf gemacher ein; sie quartierte sich heben
dem Bettzeuge in den Leinenschränken, neben den Bechern und
Flaschen in den Glasschränken ein.
Auch in den Kellerräumen, in denen Sir Charles einmal [1822]
eine Druckerpresse [die Middle Hill Press] errichtete, weil er den
Gedanken gefaßt hatte, mit Hilfe seiner Leute einen Katalog seiner
Sammlung zu entwerfen und drucken zu lassen, lagen Berge von
Literatur aufgehäuft. Ein paar Bogen jenes Kataloges wurden
allerdings auch im Laufe eines Jahres fertig gebracht. Aber dies
Unternehmen war zu herkulisch. Sir Charles und seine Leute konnten
nicht damit durchkommen und die Druckerpresse stand nun ruhig,
arbeitslos, verstäubt im Keller neben den Kartoffeln und dem
Waschtroge.
484
AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN
Zur Zeit unseres Besuches bei Sir Charles hatte dieser wie
Goethes Zauberlehrling von einer durch ihn selbst herauf-
beschworenen Flut bedrängte Mann — nur noch in einer einzigen
Stube einen Winkel ganz frei von Büchern und Papieren. Es war
in einem der vorderen Gemächer, das nun sowohl als Empfangs- und
Gesellschaftssalon, wie auch als Speise- und Teezimmer für die
Hausgenossenschaft dienen mußte.
In diesem Zimmer, dessen Wände übrigens ebenfalls noch etwas
mit Büchern austapeziert waren, standen noch ein paar freie Stühle,
ein leeres Sofa und ein bücherloser Tisch, und an diesem Tische —
einer sehr kleinen bücherlosen Oase, einer bescheidenen trockenen
Stelle in der allgemeinen Papierüberschwemmung — saßen und ver-
kehrten wir den ganzen Tag. Es war unsere Frühstücks-, Tee- und
Mittagstafel, zugleich auch unser Schreib- und Arbeitstisch, und in
den Zwischenzeiten breitete Sir Charles auf ihm auch die Raritäten
aus, die er uns zeigen wollte und die er aus seinen Kisten und Kasten
und aus verschiedenen uns ganz unzugänglich, geheimnisvoll und
verborgen gebliebenen Winkeln seines Hauses zusammenholte.
Auch die Schlafstuben der Gäste, sagte ich, waren mit raren
Büchern angefüllt. Auf den Stufen der Treppen, die in die oberen
Räume des Hauses führten, lagen sie überall an den Seiten hoch
aufgetempelt und man hatte kaum soviel Spatium, um auf den Fuß-
spitzen und mit aufgehobenen Rockstößen hindurch zu stelzen und
zu klettern.
Bis weit über Mitternacht hinaus hatte ich dabei die schönste
Beschäftigung und interessanteste Unterhaltung. Als ich mich end-
lich ins Bett gelegt hatte und zufällig unter dasselbe hinuntergriff,
traf meine Hand auch hier auf ganze Haufen großer Kupferwerke
und Atlanten, die daselbst, weil sie Sir Charles nirgendwo anders
mehr hatte unterbringen können, deponiert waren.
Mit einem Worte also, das ganze Haus war für solche Literaten,
wie wir beiden, mein Freund und ich, es waren, ein Paradies, ein
wahrer Pfannkuchenberg. Auf Schritt und Tritt mußten wir uns
durch Bücher und Büchertitel durchfressen. Ich brauchte eine Stunde
zum Ankleiden; denn jeder Gang zum Spiegel oder zu einem Strumpfe
485
AUTOGEAMMKOLLEKTIONEN
oder einem Stiefel lenkte meine hungrigen Blicke auf ein seltenes,
zuvor nie gesehenes, vor 200 oder 300 Jahren in ,Firenza* oder in
,Roma' oder in ,Argentoratum* gedrucktes Werk. Fast ebenso lange
hatte ich nötig, um aus meinem hochgelegenen Dachstübchen zu
jenem oben beschriebenen Tische und Sofa, dem allgemeinen Stell-
dichein der Hausgesellschaft, herabzukommen. Denn auf jeder
Treppenstufe fesselte irgendein altes verblichenes und ehrwürdiges
Papier oder Pergament für einige Augenblicke meine Aufmerksamkeit.
Gelangte ich endlich ganz gedanken- oder doch büchertitelvoU
hinab — und hatte ich mich schmal genug gemacht, um meine Per-
son zwischen den interessanten Werken, mit denen Sir Charles und
seine übrigen Gäste den Frühstückstisch und das Sofa bereits belegt
hatten, hindurchzwängen zu können, so war dann für den Rest des
Tages kein Loskommen und kein Aufstehen mehr.
Unter den übrigen Gästen — es waren ihrer zwei — befand
sich auch ein Grieche, dessen Name mir damals zwar noch nicht
vorgekommen war, der sich aber in der literarischen Welt schon be-
kannt genug gemacht hatte. Es war ein großer Manuskripten- und
Raritätenhändler aus dem Oriente, der unterschiedliche Pergament-
rollen und schweinslederne Bände mitgebracht und dieselben wie ein
Tabulettkrämer seine Waren auf Teppich, Tisch und Stühlen ausge-
kramt hatte, um sie unserem Sir Charles zum Verkaufe anzutragen.
Darunter befand sich namentlich eine schmale, dünne, eng be-
schriebene, dicht aufgewickelte, lange Pergamentrolle, von welcher
der Grieche erklärte, daß sie das Kostbarste sei, was er jetzt eben zu
bieten habe. Es sei nämlich, sagte er, eine homerische Rhapsodie,
ein Gesang aus der Odyssee in einer Urschrift, welche der Zeit nach
über alle bisher bekannten Aufzeichnungen homerischer Gesänge
hinausginge. Er wollte uns beweisen, daß seine Piece noch aus der
Zeit der alten heidnischen Hellenen selber, vielleicht aus Pisistratus*
Zeiten stamme, obwohl, wie die Gelehrten glauben, bisher gar keine
griechischen Handschriften an den Tag gekommen sind, die über das
sechste Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung hinausgehen.
Kurz, er war überzeugt, daß er die allerälteste Handschrift
eines Stückes von Homer besäße, die es überhaupt in der Welt gäbe.
486
AUTOGBAMMKOLLEKTIONEN
Ich glaube, er hatte es auf dem Berge Athos entdeckt, und er ver-
langte einen großen Preis, wenn ich mich recht erinnere, 50 Pfund
Sterling für die kleine Rolle, die nicht mehr als allenfalls eine Westen-
taschenecke füllte.
Unsere Unterhaltung drehte sich fast den ganzen Tag um diesen
merkwürdigen Gegenstand, und auch am Abend, als der Grieche^
der sich ganz heiser gesprochen hatte, endlich zu Bette gegangen
war und ich mit Sir Charles noch etwas länger an dem bewußten
Tische sitzen blieb, griff dieser wieder zu der homerischen Perga-
mentrarität, entrollte sie, betrachtete sich die schadhaften Stellen
und die gebräunten Flecken, die darauf waren, und untersuchte die
Schriftzüge, die er selber besaß, und hielt sie sowohl vor als hinter
das Licht, nahm auch Brille und Lupe zu Hilfe, um sie aufs genaueste
zu inspizieren.
Die Sache regte ihn offenbar auf das äußerste auf, das Pergament
reizte und bezauberte ihn, wie ein Juwel eine Dame, und er fragte
dabei auch mich um meinen Rat und meine Meinung. Diese konnte
ich ihm anfänglich nicht geben, weil ich wenig oder nichts von solchen
alten griechischen Manuskripten verstand. Endlich fragte mich Sir
Charles, ob ich denn seinen griechischen Gastfreund gar nicht kenne,
und da ich gestehen mußte, daß ich nichts von ihm wisse, als was
ich heute gesehen, so erzählte mir Sir Charles nun manches von ihm.
Derselbe, sagte er, sei ein berühmter Mann, namens [Simonides],* nicht
bloß ein großer Kenner griechischer Manuskripte, sondern auch der
geschickteste Verfertiger von solchen, den es auf der Welt gäbe. Er
verstehe das Pergament, das Seiden-, das Baumwoll- und das Leinen-
papier, wie es jedem Zeitalter angehöre, unvergleichlich treu darzu-
stellen und auch mit solchen naturgetreuen Flecken und Beschädi-
gungen zu versehen, wie der Lauf der Zeiten sie hervorzubringen
pflegte; dabei kenne er den Stil der Schriftzüge jedes Jahrhunderts,
den anmutigen, gefälligen, gewandten der frühesten Zeiten und den
steiferen und unschöneren der späteren so gut und wisse ihn so tref-
fend nachzuahmen, daß kein Montfaucon imstande wäre, seine un-
echte Ware von echter zu unterscheiden. Es sei daher sehr riskant,
sich mit diesem Menschen auf einen Handel einzulassen. Er habe in
* Abb. 327 487
AUTOGRAMMKOLLEKTIOKEK
der Tat oft sehr viel Wertvolles zu bieten, aber mitunter komme ein
Manuskript vor, bei dem er nachgeholfen oder das er vielleicht gar
von Anfang bis zu Ende selbst fabriziert habe.
Um dies alles, was er mir von seinem Gaste sagte, noch näher
zu dokumentieren, ging Sir Charles zu einem Bureau, welches er
aufschloß und aus dem er die Nummer einer deutschen Zeitung her-
ausholte. In derselben, sagte er, sei von einer zuverlässigen Autorität
die ganze Lebensgeschichte und Yerfahrungsweise dieses talent-
vollen Griechen offen dargelegt. Er selbst, Sir Charles, verstehe kein
Deutsch. Aber ich möchte es lesen und könnte mich dann selbst
davon überzeugen, mit welchem gefährlichen Individuum wir zu
tun hätten.
Nachdem ich den betreffenden Artikel gelesen hatte, konnte ich
nun allerdings meinem Wirte den von ihm gewünschten Rat und
meine bestimmte Meinung abgeben. Sie gingen natürlich dahin,
,daß er lieber das homerische Manuskript durchaus ungekauft
lassen sollte'. Und hiermit zog ich mich in meine Manuskripten-
Schlafkammer zurück, während mein leidenschaftlicher Bücherfreund
und Wirt noch lange gedankenvoll das ominöse Pergament betrach-
tend und dasselbe auf- und zurollend auf seinem Platze, bei seiner
Studierlampe und mit seinen Brillen und Lupen sitzen blieb.
Weil wir damit weit über Mitternacht hinausgetrieben waren,
so kam ich am andern Morgen eine Stunde später als gewöhnlich
zum Frühstückstische herunter. Ich vermißte den Griechen und da
er nicht erschien, so sagte mir Sir Charles endlich, derselbe sei schon
seit einer Stunde wieder abgereist. — ,Gut! Sir Charles*, sagte ich,
,daß Sie ihn gehen ließen und daß Sie meinen Rat, sich auf keinen
Handel mit ihm einzulassen, befolgt haben.'
Wie groß war meine Verwunderung, als Sir Charles diese meine
Gratulation mit etwas spöttischem Lächeln aufnahm, stillschweigend
an ein verschlossenes Kästchen ging, es öffnete, daraus die besagte
homerische Rhapsodie hervorholte, indem er dann mit fester Stimme
und fast triumphierend ausrief: ,Ich habe sie. Ich habe dem Griechen
die 50 Pfund bezahlt und habe ihm auch noch dazu seine übrigen
Seltenheiten abgekauft.' — Ich konnte nicht umhin, Sir Charles
488
AUTOGKAMM KOLLEKTIONEN
bei dieser Gelegenheit meinen Beifall vorzuenthalten. Ich fragte ihn^
wie es möglich sei, daß er nach dem, was er mir selbst über den
Griechen mitgeteilt und schwarz auf weiß gedruckt gezeigt habe,
sein schönes Geld auf eine ^o unsichere Nummer habe setzen können.
,Mir ging die Sache gestern noch die ganze Nacht durch den
Kopf,* erwiderte Sir Charles, ,das älteste Manuskript von einer
homerischen Rhapsodie — sollte ich mir das entschlüpfen lassen?
Vielleicht zwar ist der Grieche auch diesmal ein Schelm und hat mir
bloß ein bewundernswürdiges Fabrikat gebracht. Aber es ist doch
auch möglich, daß das Dokument echt ist. Er drohte mir heute
morgen, wenn ich nicht zuschlüge, damit wegzugehen und es beim
Britischen Museum abzusetzen. Sollte ich das riskieren? Lieber
riskierte ich meine 50 Pfund. Denn, wie gesagt, ich habe mitunter
schon sehr gute und sehr echte Sachen von diesem Menschen ge-
kauft und — ich wiederhole es — möglich ist es doch immer noch,
daß die Schrift echt ist. Während der nächsten Monate werde ich
mich damit beschäftigen, die Sache zu untersuchen und mir Licht
darüber zu verschaffen trachten, ob ich in der Tat der Besitzer der
ältesten homerischen Handschrift bin.'
Ob Sir Charles diesen Punkt ausgemacht hat oder nicht, das
habe ich nie erfahren. Die Scheidestunde hatte endlich auch für mich
und meinen Freund geschlagen und wir entfernten uns aus unserem
Manuskripten-Pfannkuchenberge ebenso, wie wir gekommen waren,
erst auf unergründlichen Schmutzwegen mit einem einspännigen
Dog-Car, dann auf etwas besseren mit einer vierspännigen Diligence,
mit der wir endlich das Tageslicht einer Eisenbahn erreichten.**
über die Kauflust des Sir Thomas Phillipps gab es allerlei Ge-
schichten, die Kohl, hätte er sie gekannt, das Geschäft mit dem
Griechen nicht ungewöhnlich hätten erscheinen lassen. Der „Vellum-
süchtige**, der in den Pergament verarbeitenden Werkstätten regel-
mäßige Rundgänge machte und dabei mancherlei rettete, liebte es
nicht nur, ganze Sammlungen zu erwerben, wie den berühmten
griechischen Handschriftenschatz Meermanns, er gab auch als Ant-
wort auf ein ihm von Händlern übersandtes Handschriftenverzeich-
nis hin und wieder eine Bestellung auf alles, wa^ im Katalog stände
489
AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN
und erwarb dieserart von dem Antiquar Thorpe einmal über 1400
Handschriften. Aber der absonderliche Herr, der ärger noch als
Katholiken und Tabak den Mann seiner ältesten Tochter J. Orchard
Halliwell-Phillipps, den Shakespeareforscher, gehaßt hat, blieb
in seiner Leidenschaft für beschriebene Papiere und Pergamente
Liebhaber. Zu einem gelehrten Kenner konnte er sich nicht aus-
bilden, obschon er keineswegs, wie Kohl meinte, ein gelehrter
Autodidakt war, sondern Rugby und Oxford seine Gelehrtenbildung
verdankte. Als Handschriftenkundiger, dem kein Blatt, gleichviel
welchem Volke und welcher Zeit die Schriftzüge, die es trug, an-
gehörten, unleserlich geblieben wäre, hätte er eine Akademie in
seiner Person vereinigen müssen. Das Erbe, das er hinterließ, mußte
vor dem Verkauf der Bändestapel erst entwirrt, bestimmt und ge-
ordnet werden. Die Auflösung der Bibliotheca Phillippica durch
freihändigen Verkauf und seit 1886 auch durch Versteigerungen
beanspruchte nahezu ein Halb Jahrhundert. An 60000 Handschriften
hat sie dem Altbüchermarkt zugeführt [wahrscheinlich bleibt diese
Schätzung hinter einer höheren Zahl weit zurück] und damit erst
das nutzbar werden lassen, was Sir Thomas Phillipps, dessen ganzes
Leben Sammeln gewesen war, dieses Leben hindurch vor den anderen
versteckt hatte. Seines Bienenfleißes im Zusammentragen wegen
hätte er wohl die Biene in seinem Bücherwappen führen dürfen,
von deren Kunstfertigkeit im Auslesen und Verarbeiten er nichts
verstanden hat.
Buchhandschriftenreihen höchsten Wertes sind in fast allen
großen englischen Liebhaberbüchereien vorhanden gewesen und
auch andere umfangreiche, umfassende englische Manuskriptbiblio-
theken sind, wie die Asburnham-Collection, außer der Phillippsschen
im neunzehnten Jahrhundert in England berühmt gewesen. Aber
die Ausbreitung und die Eigenart dieses Sammelgebietes, die Er-
schöpfung der noch im freien Handel befindlichen Bestände,
führt doch mehr und mehr dazu, daß das Einzelstück erlesener Art
hier höchsten Rang gewinnt; daß deshalb die alten Handschriften
ihrer Buchmalereien, ihres Kunstwertes wegen, gesammelt werden,
soweit sie noch erreichbar sind. Die alte archivalische, die histo-
490
AüTOGRAMMKOLLEKTIONEN
rische, die literarische Buchhandschrift ist ein Zufallsfund geworden
und die Bemühungen um die neueren und neuesten Handschriften
solcher Art erstrecken sich mehr oder minder auf das Autogramm.
Dem Bewunderer des alten beschriebenen Papiers, als welcher Sir
Thomas Phillipps um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts noch
einmal den englischen Buchhandschriftenfreund einer vergangenen
Zeit karikierend repräsentierte, tritt am Ausgange dieses Jahr-
hunderts, an dem William Morris die Bild- und Schriftschönheit der
alten Buchhandschriften neu sehen lehrte, der Buchkunstfreund
entgegen, der, ohne deshalb auf den historischen, auf den textlichen
Wert verzichten zu wollen, über die Auslese des Besten, die er treffen
kann, vor allen den Geschmack entscheiden lassen möchte. In
diesem Sinne ist der nach Sir Thomas erfolgreichste Handschriften-
sammler, der Eigentümer und Herausgeber der Fall Mall-Gazette,
Henry Yates Thompson gewesen, der sich endgültig von seinem
erlesenen Handschriftenschatze 1914 trennte. Als gelegentlicher
Sammlungsgegenstand erscheinen Autogramm und Dokument neben
den Griffelkunstblättern, die als Kunstdruckproben geschichtlicher
Bedeutung ebenfalls Aufnahme fanden, häufig in den Sonderabteilun-
gen weitangelegter moderner Privatbibliotheken, doch bleiben sie
hier in der Regel eher eine Folge von Kostbarkeiten ohne eigent-
lichen Zusammenhang, als daß sie eine Sammlung in selbständigem
systematischen Aufbau bildeten. Andererseits sind bei der Ver-
schiedenartigkeit der Autogrammwertung die kleineren und mittle-
ren Sammlungen so vielgestaltig; dazu durch ihre ständige Auf-
lösung und Erneuerung in ihrem Bestände so rasch wechselnd, daß
ihre Geschichte sich in den Handschriftennachweisungen, in dem
Katalogrepertorium kondensiert. Denn weil das Autogramm ein
Unikum bleibt, bleibt auch die Erinnerung an seinen zeitweiligen
Aufenthalt in einer berühmten Sammlung eine andere als die an das
Provenienzexemplar. Der Druckwerksammler kann hoffen, ein
ähnliches, anderes Stück wiederzufinden; der Autogrammsammler
muß sich bescheiden, wenn er die ersehnte Schrift nicht erreichen
konnte.
Neben der Bibliotheca Phillippica, der umfangreichsten und um-
491
AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN
fassendsten Handschriftensammlung und der ausgewähltesten Buch-
malerei-ManuskriptkoUektion^ derjenigen von Henry Yates Thomp-
son, die im neunzehnten Jahrhundert von Privaten zusammen-
getragen wurden, entstand in England auch der bis dahin größte
und kostbarste Autogrammschatz, den ein einzelner erworben hat.
Indessen ist deren 1897 gestorbener Besitzer Alfred Morrisson
kaum noch Sammler in jenem höheren Sinne gewesen, den die eigene
Sammeltätigkeit voraussetzt. Er beschränkte sich darauf, die Rech-
nungen zu bezahlen, die ihm sein Vertrauensmann, der Händler
Thibaudeau, vorlegte. Ein in 200 Abzügen hergestelltes, in sechs
Foliobänden und sieben Quartbänden ausgegebenes Verzeichnis be-
schrieb die um 1910 wieder aufgelöste Autogrammserie, die für einige
Jahre die kostspielige Laune eines Mannes war, dessen eigentliches
Verhältnis zu dem Gegenstande seiner ihn berühmt machenden
Neigung ein Geschichtchen enthüllt, das ein Handschriftenhändler
erzählte. Als dieser noch einmal in das Arbeitszimmer Morrissons
zurückkehrte, dem er eben ein Blatt höchsten Wertes übergeben
hatte, sah er zu seinem Schrecken es mit anderen erledigten Papieren
vor dem Kamine liegen. Der ganz und gar durch ihn mehr inter-
essierende Dinge in Anspruch genommene Autogrammfreund hatte
es bereits vergessen gehabt und es in der Zerstreuung fortgeworfen.
Auch im Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts, wo zuerst vom
Altbuchhandel der Autogrammhandel als ein eigener Geschäfts-
zweig sich löste, ist die Handschriftenliebhaberei zur Mode und
zur ernsthafteren Sammeltätigkeit geworden. Große Autogramm-
kollektionen, so früher die von Benjamin Fillon und jetzt die
des Marquis de l'Aigle entstanden; der Westschweizer Alfred
Bovet begründete 1868 in Valentigney seine 1883 verkaufte be-
kannte Sammlung, in dem gleichen Jahre, in dem der ,Fall Chas-
les' mit seinen Autogrammfalsifikationen an einem grotesken Bei-
spiel die Gefahren einer Liebhaberei zeigte, die in ihren Sammlungs-
verfahren nicht die notwendige wissenschaftliche Strenge übte. Von
ihm ging zweifelsohne eine Stärkung der wissenschaftlichen Rich-
tung in der Autograpophilie aus, die auch in den anderen Ländern
bemerkbar wurde. —
492
AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN
Die deutschen Autogrammsammler des sechzehnten Jahr-
hunderts waren mit ihren Stammbüchern die Studenten und wan^*
dernden Gelehrten gewesen. Dann brachte man den Reformatoren-
Selbstschriften eine ebenso aus den Rücksichten der Forschung wie
aus denen der Verehrung gewonnene Teilnahme entgegen. In der
Preußischen Staatsbibliothek in Berlin wird ein Lutherbrief auf-
bewahrt, in dem der Reformator an einen Hirsfelder schrieb: ,,Manum
meam petiisti, ecce manum habes^'; in der Dresdener befindet sich
die Lutherbibel von 1545 mit den eigenhändigen, ihren Bildnissen
angefügten, Inschriften der Reformatoren. Das alles stand noch in
Verbindung mit dem Buche und die Autogrammkollektionen be-
wahrten selbst noch die Buchform, wie das Lucas Cranach-Stamm-
buch der Berliner Staatsbibliothek. Aber in den Reformationslite-
raturbibliotheken wuchsen doch auch aus den Brief- und Ur-
kundenreihen schon die einen Autogrammwert betonenden hervor.
[Sammlungen des Flaccius Illyricus in der alten Bibliothek zu
Helmstedt; des brandenburgischen Kammer- und Konsistorialrats
Seidel in Nürnberg; des Generalsuperintendenten Polycarp Leyser
in Zelle.] Und die antiquarisch orientierten Literatoren, die Schel-
horn in Memmingen und v. Murr in Nürnberg, waren um die Mitte
des achtzehnten Jahrhunderts bereits zu einer wissenschaftlichen
Betrachtungsweise des Autogramms gekommen, als sich, ungefähr
gleichzeitig, dessen gefühlsmäßige Schätzung gewandelt hatte.
Damals hatten in Deutschland Aufklärung und Schwärmerei
auch zu einer Erfahrungsseelenkunde geführt, dazu, die Lebens-
urkunden in der verschiedenartigsten Weise zu verwerten. Man be-
mühte sich nicht allein, die historischen Betrachtungsweisen der
Memoirenliteratur durch psychologische zu ergänzen oder gar zu er-
setzen. Man verfolgte die Persönlichkeitsspuren noch weiter, bis
dahin, wo sie zu anschaulichen, greifbaren Überresten der Ver-
gangenheit wurden. Vor allem war es die Handschrift der ent-
schwundenen Schatten, die ihr Leben wachzurufen schien, und ihrer
Betrachtung wendete man sich nun in der Ausübung einer Hand-
schriftendeutungskunde zu, deren Unterbau von überallher sich
befestigte. Die Bedeutung des gelehrten Briefwechsels als einer Nach-
493
AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN
richtenvermittelung hatte langsam aufgehört und auch diese Reste
der geschriebenen Zeitungen verschwanden allmählich mit der Neu-
ordnung des Zeitungswesens. Dafür war zwischen Befreundeten der
Briefverkehr zu einem Dialog geworden^ den die auf die Mitteilung
berechneten Monologe der Tagebuchaufzeichnungen ergänzten, die
alltäglichsten Ereignisse in die Gefühls-, in die Gemütssphäre er-
hebend. Eine Stimmung, der, sich selbst von ihr befreiend, Goethe
in seinem ,Werther* einen europäischen Ausdruck verlieh und die in
ihren Verkümmerungen noch in den biedermeierischen Stammbuch-
sentimentalitäten weiterlebte. Aber nicht allein die Handschrift als
ein seelisches Unterpfand, wie es etwa Cramers Klopstockenthusias-
mus liebte, oder wie es freundschaftlich geschäftsmäßig die Gleim
und Lavater spendeten, verehrte man. Man begann auch die Schrift-
züge auf ihren Wesensinhalt hin zu betrachten, sie als Charakter-
dokumente zu erforschen. Goethe, der einstige Mitarbeiter einer
in ihrer Art epochemachenden Physiognomie, wendete als Sammler
sich späterhin auch dem Autogramm und mit ihm der Graphologie
zu. Darin beispielgebend, daß er Plan und Ordnung für seinen Hand-
schriftenbesitz wünschte; die Persönlichkeits werte, die in diesem
Besitz aufgespeichert waren, wissenschaftlich sich zu begründen
mühte. Benützte er doch nicht allein seinen Briefaustausch zur
methodischen und systematischen Ergänzung seiner Bestände, son-
dern ließ auch die erste gedruckte Autogrammdesiderataliste aus-
gehen. So war allmählich zu dem alten archivalischen Interesse an
der Handschrift, das zwischen Apograph und Autogramm erhebliche
Unterschiede nicht zu machen verstand, weil es ihm hauptsächlich
auf den Inhalt, den Stoffgehalt eines Schriftstückes ankam, und zu
dem sich eben entwickelnden Interesse der auf das neuere Schrift-
tum sich ausdehnendend kritischen Philologie, die im Autogramm
das literarhistorische Dokument sah, das psychologische Interesse
wachgerufen worden, aus dem sich die Handschriftendeutungs-
kunde zu einer Wissenschaft zuerst in Deutschland herausbilden
sollte; zu einer Wissenschaft, die sich von der Diplomatik und Paläo-
graphie trennte, zugleich dem Autogrammsammeln eine Erweiterung
und Vertiefung seiner Zwecke gebend.
494
AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN
Einstweilen freilich trat das anekdotische, das Kuriositätsele-
ment stärker hervor. Der ängstlich gehütete Schatz, der die Inedita
und die — Indiskretionen harg, wurde den Autograpophilen zur mehr
oder minder stillvergnügten Handschriftenlust. Allerdings, die
Empfindsamkeit der Liebhaber des achtzehnten Jahrhunderts hatten
die des neunzehnten Jahrhunderts kaum noch; sie lernten mit Lieb-
haberwerten rechnen und sie registrieren. Der Abschluß der klassi-
schen deutschen Literaturepoche ließ mit dem Beispiel der großen
Briefsammlungen — das Goethe mit seinem Schillerwerk auf die lite-
raturpsychologische Ausbeutung von in einem inneren Zusammen-
hang stehenden Autogrammreihen gelenkt hatte — ein Arbeitsgebiet
der Forschung erschließen, das bisher in diesem neuen Sinne kaum
beachtet gewesen war. Denn die antiken Briefsammlungen und nach
ihrem Muster die der Renaissance waren als Literaturwerke angelegt
und ausgeführt gewesen; die Gelehrtenbriefwechsel des sechzehnten
und siebzehnten Jahrhunderts waren Materialsammlungen; die schön-
geistigen, die im achtzehnten Jahrhundert im Druck Verbreitung
suchten, vorwiegend Memoiren gewesen. Nun kam zu alledem das
Autogramm als document humain hinzu, dessen sich die Sammler,
je nachdem sie es auffaßten, zu bemächtigen suchten. Die Samm-
lungsverfahren verfeinerten sich, der Überblick über die Hand-
schriftenmasse und ihren Wert für den jeweiligen Sammlungszweck
wurde deutlicher. Aber keineswegs beschränkte man sich auf das
literarhistorische; auf den Reliquienkult, den man den Schrift-
urkunden der Vergangenheit zuwendete. Die Autogrammsammler
verachteten auch die Gegenwart, die berühmten Zeitgenossen, nicht;
und dabei entstanden dann neben den literarhistorischen politische
Privatarchive, die, ähnlich wie schon einige Sammlungen des sieb-
zehnten Jahrhunderts, Akten aus Sammelmappen bildeten, und die
bisweilen den Geheimfächern alter Diplomatenschreibtische ver-
gleichbar wurden.
Der geschäftige K. A. Varnhagen von Ense [1785—1858]
darf gerade deshalb unter den älteren deutschen Autogramsammmlern
des neunzehnten Jahrhunderts nicht vergessen werden, weil er klug
derartig verschiedene Sammelrichtungen vielseitig auf die eigene
495
AUTOGBAMMKOLLEKTIONEN
Persönlichkeit zu beziehen wußte; hierbei ebenso darauf bedacht, den
Ausbau der Sammlung durch eine geschickte Sammeltechnik zu
fördern wie seine Sammlung für die mannigfachsten Zwecke aus-
zubeuten.
Julius Rodenbergy der Herausgeber der ,, Deutschen Rundschau^*,
hat als junger Student bei Varnhagen verkehrt. Den berühmten
Bewohner jenes Hauses in der Mauerstraße 35 — es wurde 1913
niedergerissen, um einem Neubau der , Deutschen Bank^ Platz zu
machen — das die französische Straße hinuntersah, zeichnete er
später in seinen y^Bildern aus dem Berliner Leben'^ die auch die
nächste Umwelt eines von der Vergangenheit zehrenden, fast schon
Verstorbenen, schilderten: 9,Wie gut kenne ich noch das Eckfenster
im ersten Stock und welch eine glänzende Reihe von Berühmt-
heiten ging dort an den Blicken des jungen Studenten vorüber. Be-
rühmtheiten der Literatur, Berühmtheiten der Gesellschaft; denn
alle, von den Tagen der Romantik bis zu denen des „Atta Troir\
waren einmal durch diesen Salon gewandelt und hatten ihm einen
Parfüm der Vergangenheit zurückgelassen. Etwas, das nach Staub
und welken Blumen roch, wie ein altes Buch, das man aufschlägt.
Aber wie berauschend war dieser Duft für uns, die heraufkommende
Generation, und wie schwer wird es uns jetzt noch, in einer unterdeß
so realistisch gewordenen Welt, anders als mit Pietät an diese Letzten
einer Periode zu denken, in welcher die Romantik noch nicht tot war,
was man auch sagen mochte, sondern dem Throne selber, der Politik,
den Angreifern wie den Angegriffenen, der liberalen Opposition
und sogar den radikalen Freiheitsbestrebungen ihren schillernden
Mantel umwarf. Klug und praktisch sind wir erst viel später ge-
worden, unser äußeres Leben reicher, unser inneres ärmer; jene Zeit
aber war durchaus künstlerisch, durchaus literarisch oder belle-
tristisch gestimmt; und ein Abschiedsglanz derselben fiel auf diesen
altmodischen, an den Anfang des Jahrhunderts erinnernden Salon,
in welchem ich noch einige von den Alten sah — ihn vor allen
anderen, den schönen Greis mit dem Silberhaar, dem eisernen Kreuz
auf der Brust und „demselben feinen Lächeln'^ welches Heine schon
bezaubert hatte, hinter welchem sich aber etwas Scharfes und Ironi-
496
AUTOGRAMMKOLLEKTIONEN
sches verbarg. Tages über hielt er sich in seinem, an den Salon
stoßenden, hohen und geräumigen Kabinett, zu welchem nur Wenige
Zutritt hatten. Hier, an seinem Arbeitstisch, in der Mitte des Zim-
mers, saß er, jahrelang, horchend auf das Geräusch der Welt, die
vertraulichen Worte seiner Freunde aufzeichnend, ihre kleinsten
Billetts registrierend und über Personen und Zustände harte Dinge
niederschreibend in einer zierlichen Handschrift und dem Geheim-
ratsstil Goethes. Die Wände waren ganz mit Büchern bedeckt, dar-
unter zahlreiche Schachteln und Schächtelchen, sorgfältig etikettiert
und nach dem Alphabet geordnet. Aus ihnen sind, nach seinem
Tode, jene „Impietäten^* ans Licht gekommen, welche vorüber-
gehend einen Schatten auf die große Gestalt Alexanders von Hum-
boldt warfen und den Ruhm Yarnhagens so sehr getrübt haben, daß
man immer noch seinen Namen nur mit einer gewissen Reserve
nennt. Aber wenn wir gerecht sein wollen und die damaligen Ver-
hältnisse bedenken, die politischen allgemeinen und seine besonderen,
persönlichen, so werden wir sagen: dieser Mann hat, zur Zeit von
Preußens tiefster Erniedrigung, zu der Zahl derer gehört, welche den
Umschwung und Aufschwung vorbereiten halfen; er hat als Soldat
in den Befreiungskriegen und als Diplomat in den Staatsgeschäften
seine Dienste geleistet — und wie hat man ihm gedankt? Mag Gereizt-
heit ihm die Feder geführt und Bitterkeit sie getränkt haben —
er hat niemals ein Wort geschrieben, in welchem seine Liebe zu
Vaterland und Freiheit, oder seine Hoffnung auf die Zukunft sich
verleugnet; und in meinem Herzen wird die Erinnerung daran leben,
wie freundlich, teilnahmsvoll und hilfreich er gegen die Jugend war.
— In den Salon kam er nur zu den berühmten Cafes seiner Nichte,
Ludmilla Assing, welche dem Onkel das Haus führte, und bei großen
Empfängen."
Goethe und Yarnhagen, die deutsche Handschriftenliebhaberei
der Klassik und Romantik vertretend, waren auf diesem ihrem
Sammelgebiete noch im Bereiche der persönlichen Beziehungen ge-
blieben oder doch von ihnen ausgegangen. Diese mußten zurück-
treten, je weiter über Raum und Zeit sich die Autogrammkollektionen
erstreckten, deren Einrichtung nach biographisch-chronologischen
BOOEKO 82 497
AUTOGRAMM KOLLEKTIONEN
Prinzipien zu einer Einfügung des lebensgeschichtlichen in das weit*
politische wurde; zu einer historischen Systematik. Und damit
wiederum, obschon jetzt die kultur- und literarhistorischen und nicht
die politischen Gesichtspunkte vorwiegend wurden, die die archivali-
schen Formen des Sammeins zurückbrachten; die es äußerlich von
den bibliothekarischen trennten. Was trotzdem Autograpophilie und
Bibliophilie einte, war die Gemeinsamkeit ihres Strebens, erhaltens-
wertes zu erhalten; ihr Empfinden für die Werte der Pietät und Tra-
dition. Das Goethe in einem Verschen verteidigte, mit dem er die
Rückgabe eines von ihm ausgebesserten Handschreibens Friedrichs
des Großen begleitete:
Das Blatt, wo seine Hand geruht,
Die einst der Welt geboten,
Ist herzustellen fromm und gut.
Preis ihm, dem großen Toten!
498
\
IX. BIBLIOMANEN
Bibliomanie ist die Kehrseite der Bibliophilie. In den allmäh-
lichen Abstufungen einer Bibliofolie wird der Bibliomane aus
dem Bibliophilen. Wer will entscheiden, wo der gute Buchfreund auf-
hört, sich in den schlechten verwandelnd. Das ist eine Frage der
Moral. Und wer will die genauen Grenzlinien ziehen zwischen dem
dummen und dem klugen Sammler; zwischen Wahnwitz und Weis-
heit; zwischen der Büchertollheit ungestümer Sammler und der
Bücherwut krankhafter Veranlagung; zwischen Leidenschaft und
Liebe. Mit einiger Bestimmtheit läßt sich nicht einmal das Bücher-
raubkapitel umgrenzen, wenn die Kriegsbeutezüge und Wiedergut-
machungen ebenfalls in ihm erörtert werden sollen.
Die „Büchlinge'' hat man sich gewöhnt als Bibliophilen, die ihre
Bücher nur nach deren inneren Wert schätzen, und als Bibliomanen,
die mehr die glänzende äußere Hülle wie den inneren Gehalt der
Bücher lieben, zu unterscheiden. Das mag, vielleicht, ein Werturteil
sein; die Grenzlinie zwischen Manie und Passion läßt es nicht auf-
finden. Man muß schon der heiteren Selbstironie Charles Nodiers
zustimmen: Der Bibliophile wählt seine Bycher aus, der Biblio-
mane häuft sie an.* Der Bibliophile fügt sorgsam bedächtig einen
Band zu dem anderen, nachdem er ihn mit allen Sinnen und ganzem
Verstände durchforscht hat ; der Bibliomane packt Bände auf Bände,
ohne ihnen auch nur einen Blick zu gönnen. Der Bibliophile wertet
das Buch, der Bibliomane wägt und mißt es. — Der Bibliophile
rechnet nach Millimetern und der Bibliomane nach Metern . . . vom
Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt. — Mancher nach
der Art seiner Bücherliebhabereien und Sammlerseltsamkeiten als
Büchernarr auszudeutender Mann ist ein erfolgreicher Forscher und
geistreicher Gelehrter gewesen; mancher anscheinend bedachte
Buchfreund ein Büchernarr, der sich spielerisch vergnügte. Da wird
es schwer, den Bibliomanen- und den Bibliophilencharakter auszu-
deuten; den Buchgenießer vom Buchnutzer zu trennen; den Biblio-
philen, als den Leser von dem Biblioskopen, der seine Bücher nur
durchsieht; den Bibliothekar und seine Buchpflege von dem bock-
st* ^ Abb. 328 499
BIBLIOMANEN
hunter, der Sammelsport treibt. Das alles sind fein auf den Gegen-
satz hin ausgedachte Unterscheidungen. Mehr nicht. Denn Biblio-
manen und Bibliophilen mußten sehr naive Wesen sein, um sich
auf so einfache Formeln bringen zu lassen und sie sind das in Wirk-
lichkeit ganz und gar nicht.
Das Begehren des Besitzes eines bestimmten Buches kann Bucher-
liebe sein, Begehren eines geschätzten Stückes. Aber es kann auch
der ruhigsten Überlegung entspringen, ganz unpersönlich wissen-
schaftlich bleiben, wofern es lediglich zur Lösung eines Sammlungs-
zweckes wird. Es läßt sich nicht einmal sagen, daß da, wo das
Bflchersammeln ein Selbstzweck wurde, die Büchernarrheit augen-
scheinlich wird. Es sei denn, daß man überall, wo die Sammlung
nur als Vorstufe, Ziel einer anderen, höheren Aufgabe dient, diese
ihre Selbstverständlichkeit verkennen will. Das Bücherverlangen
ist aber gewiß dann eine Ausartung in die Bücherwut, wenn es zu
einem Aufhäufen ohne Ordnung und Plan, zu einem Aufraffen ohne
Sinn und Ziel wird. Aus einer derartigen Sammelsucht, aus einer
solchen Entartung des Sammeltriebes können Bibliomanen aus
Bibliophilen werden, wofern diese Bibliomanen überhaupt jemals
Bibliophilen waren. Für sie ist das meistgenannte Beispiel jener
Antoine Marie Henri Boulard [1754—1825], ein Pariser, der
1782 seinem Vater im Notariatsamte gefolgt war, der später Maire
und 1803 in den Corps ligislatif berufen wurde, ein auch sonst durch
Ehrenämter ausgezeichneter und seines Gemeinsinnes wegen ge-
schätzter Mann, dazu ein ausgezeichneter Gelehrter, ein hervor-
ragender Sprachkenner. Aber als er 1808 sein Amt seinem Sohn über-
ließ, verwandelte er sich in einen Bibliomanen, dessen ausschließ-
Uche Beschäftigung das Bücherkaufen wurde. Der Einfachheit wegen
kaufte der P6re Boulard, wie ihn die dankbaren Büchertrödler nann-
ten, die Bändereihen nach dem Maßstabe; überall, wohin er kam, er-
warb er Bücher, deren unausgepackte Ballen schließlich fünf Häuser
in Paris füllten. Die 600000 bis 800000 Bände, die er hinterließ,
sind teilweise als altes Papier, teilweise durch die Boulardauktionen
der Jahre 1828 bis 1833 wieder zerstreut worden, die eine empfind-
liche Störung des Pariser Altbüchermarktes hervorriefen und deshalb
500
^
BIBLIOMANEN
in der Geschichte der Bücherliebhaberei unvergessen blieben. Aber
Boulard war harmlos, ehrlich erwarb er seine Bücher. Wenn wir
von der Bibliomanie reden, verstehen wir lieber darunter jene miß-
geleiteten Äufierungen aus dem Bereiche der Bibliophilie, die ihren
ethischen Vorzug, die der Allgemeinheit nützende Buchpflege, in
sein Gegenteil kehrt. Der Biblioklast, der Bücher, um irgendeinem
Sammlervergüngen zu fröhnen, zerstört; der Bibliotaph, der seinen
Bücherschatz, der ihm selbst nichts nützt, verheiinlicht, sind Buch-
feinde aus der Gesinnung des Buchfreundes. Fast immer jedoch
fehlt diese Gesinnung den zumeist angeführten Bibliomanen, den
Bücherdieben.
Angefangen mit den Buchentleihern, die die Bücher unter-
schlagen, weil sie das Zurückgeben vergessen [„Es ist eigentümlich,
dafi die Menschen lieber die geliehenen Bücher behalten als ihren
Inhalt,'^ vermerkte K. J. Weber] und den Buchentleihern, die ihre
Sammlung solcherart systematisch bereichern [„Bücherstehlen ist
kein Diebstahl, sofern man sie nur nachher nicht weiter verkauft,^ ^
verkündete Tallemant des Reaux], bis zu den Bücherdieben aus
Bücherleidenschaft und den Bücherdieben aus Gewinnsucht, die
das erbeutete so rasch und gut als möglich verkaufen, ließen sich
lange Unehrenlisten aufstellen, die weit in das Altertum und die
Buchhandschriftenzeit zurückreichen. Früher war es die mangel-
hafte Aufsicht und schlechte Verwaltung der allgemeinerem Ge-
brauche geöffneten Sammlungen, die das Stehlen erleichterten; aber
auch heute noch sind die Gelegenheiten mitunter günstig und die
hohen Liebhaberwerte reizen, sie auszunutzen. Indessen mit der Bi-
bliomanie haben heute und hatten in vergangenen Zeiten alle diese
mehr oder minder bekannt gewordenen Raubzüge nichts zu tun. Sie
unterscheiden sich nicht wesentlich von ähnlichen Delikten, nur daß
Bücher ihre Gegenstände sind. Wie ja auch die Betrüger und Fäl-
scher, die ihre Buchware an den Dummen zu bringen wissen, nicht
als Bibliomanen angesehen zu werden pflegen. In der Art der
Bücherdiebstähle hat sich manches in den Jahrhunderten geändert.
Die flacianischen Messer, so genannt nach dem 1575 in Frankfurt a. M.
gestorbenen lutherischen Polemiker Matthias Flacius, versuchen
501
BIBLIOMANEN
nicht mehr, aus den Initialen kostbarer Kodizes den Gewinn des
Goldes zu ziehen. Immerhin auch früher ist oft die Ehr- und nicht
die Habsucht die Veranlassung der Übeltaten gewesen, die in den
gelehrten Streitschriften mit Recht oder Unrecht zu einem Vorwurf
erhoben wurden. Der eine fälschte oder unterschlug oder verschaffte
sich sonst auf unredliche Weise Urkunden, um damit geldwerte Vor-
teile zu gewinnen; der andere, um literarischen Ehrgeiz sich zu er-
füllen; der dritte, selbstlos für sich, um einem politischen oder sonsti-
gen Ideal Anerkennung zu verschaffen, Bild und Schrift als Dienerin
des Vertrauens und der Wahrheit mißbrauchend.
Etwas anderes ist es schon, wenn die Bibliophilenmaske der-
gleichen Untaten verhüllt, wenn Buchgelehrsamkeit und Bücher-
liebhaberei dem Pseudobibliophilen zum Schutz und Vorwand dienen
sollen, wenn die Büchersammlung ihm zur Raubritterburg wird.
Da tauchen dann in der Geschichte des Büchersammelwesens die
abenteuernden Buchfreunde auf; die seltsamen Bibliophiliespeku-
lanten in ihren sonderbarsten Verkleidungen.
Für die Unternehmungen des Gaunertums in der Gelehrsamkeit
gaben von jeher Büchereien den selbstverständlichen Rahmen. Sei
es, daß man bei der Ergänzung seines literarischen Apparates mit
Hilfe eines ausgedehnten Briefwechsels sich wertvolles Material
zu verschaffen wußte, um dann den Empfang abzuleugnen und es
unter seinem Namen zu veröffentlichen, sei es, daß man in den zum
Verkauf gestellten Büchereien sorgfältig den literarischen Nachlaß
des Vorbesitzers zu gleichem Zwecke durchsah und an sich brachte.
Das alles fällt mit den in früheren Jahrhunderten unsicheren ur-
heberrechtlichen Verhältnissen zusammen. Daneben gab es dann
die Gruppe der literarischen Fälscher, die bald eigene Werke unter
fremden Namen herausgaben, bald sich damit begnügten, Bücher-
zitate anzubringen, die sich auf nicht vorhandene Werke bezogen.
In allen solchen Schlichen wohlbewandert waren die reisenden
gelehrten Gauner, die bisweilen weltberüchtigt wurden. Sie be-
trieben als Nebengewerbe den Diebstahl wertvoller Bücher, mit denen
sie einen weitreichenden Handel hatten, den mancher Bücher-
sammler gern duldete, und die sogar, von ihrer Gelehrsamkeit unter-
502
BIBIi 10 MANEN
stützt, ausgedehnte planvolle Raubzüge in den ihnen geöffneten
Büchereien unternahmen, um ihnen zuteil gewordene literarische
Kommissionen zu erledigen. Gegen diese Art von Bibliophilie war
die Bibliotaphie das wirksamste Schutzmittel, das sich entschuldigen
ließ als die einzige Waffe, die gegen die Buchfeinde wirkte.
Daß in der großen Zeit des Abenteurertums, das mit der Gesell-
schaft des achtzehnten Jahrhunderts unterging, um im modernen
Glücksritter- und Hochstaplertum eine weniger glanzvolle Fort-
setzung zu finden, gelegentlich auch bibliophile Requisiten in den
kraft genialischen Tragikomödien Verwendung fanden, dafür gibt es
mannigfache Beispiele, z. B. in Casanovas Lebenserinnerungen, von
denen eins hier seinen Platz finden mag. Der 1810 gestorbene Che-
valier d'Eon — durch den Willen des Königs chevalifere — war
1791 in London, ohne Amt und Mittel, zu dem heroischen Entschluß
gelangt, seiner Bücherei, die er sich zur Erholung von den viel-
fachen Aufregungen, die ihm seine Wechselrolle als Mann und Weib
verursachte, gesammelt hatte, zu entsagen. Er beauftragte deshalb
seinen Freund Christie mit ihrem Verkauf, der mit ihm dies Ver-
zeichnis der zur Versteigerung kommenden Schätze herausgab:
Katalog der seltenen Bücher und kostbaren Handschriften der
Chevalifere d'Eon, ehemals bevollmächtigter französischer Gesandter
in England . . ., der England verläßt, um nach Frankreich zurück-
zukehren, enthaltend eine große Anzahl alter sowie neuer Hand-
schriften, eine wertvolle Sammlung von Wörterbüchern und von
französischen, griechischen, lateinischen, englischen Druckwerken,
auch von orientalischen Schriften, die sie selbst auf ihren Reisen ge-
sammelt hat. öffentlicher Verkauf ... zu gleicher Zeit ihrer Bücherei-
möbel in Acajouholz, ihrer Griffelkunstblätter, ihrer Degen, ihres
Mobiliars, ihrer Kunstobjekte, Edelsteine, wie überhaupt ihrer
ganzen Garderobe als Dragonerkapitän und französische Modedame.
NB. Herr Christie macht bekannt, daß der Name der Chevaliere
d'Eon mit eigener Hand auf der ersten Seite eines jeden ihrer Bücher
eingetragen ist, und daß die Vorrede des Kataloges eine interessante
Schilderung der sehr eigenartigen Position der MUe. d'Eon enthält...
Dieses verlockende, für einen Schilling verkaufte Verzeichnis hatte
503
BIBLIOMANEN
den gewünschten Erfolg: die Bücherei wurde nicht verkauft, aber
eine bei dem Bankier Hammersley eingeleitete öffentliche Samm^
lung brachte dem Chevalier 465 Pfund Sterling ein, der sich beeilte,
den größten Teil der Summe der Bibliophilie dankend zu opfern:
1792 kaufte er die von Mead und Douglas zusammengebrachte
Kollektion von 500 Ausgaben des Horaz, deren Verzeichnis er redi-
giert hatte, bei Christie für 100 Pfund. Indessen zwang den Chevalier
seine mißliche Lage, einen Teil seiner Bücherei am 24. Mai 1793
wirklich durch Christie versteigern zu lassen, während der Rest mit
den 500 Ausgaben des Horaz erst am 19. Februar 1813 unter den
Hammer kam und 313 Pfund löste. Die Bücherliebhaberei des
Chevalier war echt; er gehörte mehr zu jenen Buchfreunden, deren
Büchersammlungen in ihren merkwürdigen Lebensschicksalen derent-
wegen auch merkwürdig wurden, als daß sie schon an und für sich
dazu angelegt gewesen sind, als Hebel einer abenteuerlichen Lebens-
gestaltung zu wirken.
Der abenteuernde Büchersammler hat ein Mittel für seine
Zwecke in der Büchersammlung selbst gefunden, die er für die Aus-
führung seiner Plane sich einrichtete. Achtung, Angst, Bewunderung
nötigte schon vordem die große Büchersammlung Ungebildeten und
Ungelehrten ab. Im achtzehnten Jahrhundert hatte sie ihren Platz
in dem Zauberapparat, den die Cagliostro und Saint-Germain und
alle die andern brauchten, um als Geheimordenmeister und Magier
sich zu zeigen. Da wurde der Eintritt in den geheiligten Raum für
den Eingeweihten eine Gunst. Immerhin, diese Bibliothekdekoration
blieb auch weiterhin ein Mitel zum Zweck, sie konnte im Zimmer
eines Arztes oder eines Notars stehen, um einen Beweis der Gelehr-
samkeit ihres Besitzers zu geben. Deshalb war denn doch ein griechi-
scher Schwindler, Herr DemeterRhodocanakis [1840— 1902] in der
Benutzung der Bibliophilen-Maske sehr viel geschickter. Sie deckte
seinen Fürstentitel. In dem Viertelhunder seiner Pracht- und Privat-
drucke, die er zur Grundlegung seiner FamiUengeschichte heraus-
gab und in denen er nirgends vorhandene Werke zitierte, gab er
sich das Ansehen eines emsigen Bücherforschers, der in alten Drucken
und Handschriften seiner historischen Studien wegen herumstöberte.
504
BIBLIOMANEN
Auf den Prachtbänden seiner Bibliothek, über die er zu verbreiten
verstand, daß sie Zehntausende Bände berge, obschon ihre Londoner
Versteigerung nur 1877 Lose aufzählte, erglänzte das kaiserliche
Wappen. Und er wußte die Bücher, die er sich zusammenholte, klug
auszuwählen; nach dem geschichtlichen Wert, den sie für ihn hatten,
alte echte Provenienzexemplare an eine solche Stelle zu rücken, an
der sie seines Namens Ruhm zu preisen schienen. Ein Bibliophilen-
zug ist in dem Bildnisse des nicht gerade verehrungswürdigen Mannes
trotzdem unverkennbar und einen Bibliophilenzug weist auch das
Porträt des berühmtesten aller Bücherdiebe auf, von dem man nicht
sagen kann, ob ihn die Bücherliebhaberei zu seinen Untaten ver-
führte oder ob er ihren Deckmantel lediglich umlegte, um unter
ihm seine ,Geschäfte' zu verhüllen; ob er die Gelegenheit gesucht
hat, in einer ersten Bibliothekarstelle Bücher zu stehlen oder ob
ihn diese Gelegenheit erst verführte. Jedenfalls, er war, soweit
die Begeisterung für das Buch, die Geschicklichkeiten und Kennt-
nisse des Sammlers etwas gelten, ein Büchersammler hohen Ranges
und wenn er die Büchersammlung, die er sich schuf, nicht zu Geld
gemacht hätte, müßte er als Bücherdieb aus Bücherleidenschaft
gelten. Guglielmo Bruto Icilio Timoleone, conte Libri
Carrucci della Sommaia, der, einem alten Adelsgeschlechte ent-
stammend, 1803 zu Florenz geboren war, wurde schon mit siebzehn
Jahren Lizentiat der Rechte und Doktor der Naturwissenschaften,
mit zwanzig Jahren Professor der Mathematik in Pisa, nachdem eine
Anzahl frühreifer wissenschatflicher Abhandlungen ihm rasch einen
angesehenen Namen unter den Gelehrten seiner Heimat gesichert
hatten. Aus politischen Gründen diese verlassend und nach Paris
übersiedelnd, war er hier seit 1832 Professor der Mathematik am
College de France, wurde Mitglied des Instituts, Ritter der Ehren-
legion, Herausgeber des Journal des Savants, Inspektor des öffent-
lichen Unterrichtswesens. Bei den Altbuch- und Handschriften-
händlern, auf den Versteigerungen war er einer der angesehensten,
bestzahlendsten Käufer. Gelegentlich der Studien zu seinem wissen-
schaftlichen Hauptwerke, der Geschichte der mathematischen Wissen-
schaften in Italien, ein ausgezeichneter Bibliotheken-, Bücher- und
505
BIBLIOMANEN
Handschriftenkenner geworden, verdankte er seine 1841 erfolgte
Berufung zum Schriftführer der amtlichen Kommission für die In-
ventarisierung der in den öffentlichen Bibliotheken Frankreichs vor-
handenen Handschriften seinen unverkennbaren bibliographischen
Verdiensten. Diese amtliche Stellung machte es nun Libri möglich^
alle von ihm gewünschten Handschriften und Druckwerke in seinen
Besitz zu bringen, ohne daß hinsichtlich der Rückgabe eine be-
sondere Kontrolle ausgeübt werden konnte. Dazu kamen die da-
maligen verwirrten politischen Verhältnisse, denen es Libri ver-
dankte, daß die sich mehr und mehr gegen ihn anhäufenden An-
schuldigungen der Bibliotheksbeamten und anderer keinen Erfolg
hatten. So läßt sich heute schwer feststellen, wann Libri seine
systematischen Bücherdiebstähle in den Pariser und vor allem in den
französischen Provinzbibliotheken anfing und wieviel kostbare
Handschriften und Druckwerke er einzeln oder in kleinen Sammlun-
gen unter der Hand verkauft hat. Die Sicherheit, mit der Libri bis
dahin die Rolle eines besonders erfolgreichen Sammlers gespielt
hatte, verführte ihn dazu, ein größeres Geschäft zu wagen; der an-
geblich Sammelmüde verhandelte 1847 über den Verkauf seiner
großen Handschriftensammlung mit dem British Museum in London
und der Bibliothek in Turin, bis sie schließlich Lord Asburnham er-
warb. Im gleichen Jahre ließ Libri auch in Paris Teile seiner Bücher-
sammlung versteigern. Da in vielen der verkauften Bände aber die
Stempel der französischen öffentlichen Bibliotheken nur nachlässig
entfernt waren, konnten auch die französischen Behörden nicht mehr
an den Ergebnissen der amtlichen Tätigkeit Libris zweifeln. Am
4. Februar 1848 wurde gegen den nach England Geflüchteten die
Anklage erhoben. Von London aus, wohin Libri einen großen Teil
seines Bücherschatzes mitgenommen hatte, begann er nun jene
Polemik, die die Affäre Libri verwirrte und viele seiner alten Freunde
weiter an ihn glauben ließ. Er konnte ja beweisen, daß er viele
Bücher gekauft habe und unter diesen auch solche, die aus öffent-
lichen Bibliotheken während der Revolutions jähre in den Handel
gekommen waren. Aber er hatte bei seiner eiligen Flucht große Teile
der ihm zur Prüfung abgeforderten Bestände in Paris zurücklassen
506
\
BIBLIOMANEN
müssen und einen Teil dieser Handschriften und Drucke bereits in
seiner Werkstatt, in der ein italienischer Buchbinder die alten fran-
zösischen Bände zu alten italienischen umarbeiten und ein Hand-
schriftenfälscher, Folk, mißleitende Ursprungsvermerke anbringen
mußte, verarbeitet und für den Verkauf fertig gemacht. Freilich
ließ sich, da ein Teil der Bibliotheken des Katalogsmangels wegen
gar nicht nachweisen konnte, was zu ihrem Besitze gehörte, schwer
feststellen, wie umfangreich Libris Diebstähle gewesen waren. Das
Seinegericht verurteilte ihn 1850 in contumaciam zu zehn Jahren
Zwangsarbeit. Selbstverständlich verlor Libri mit diesem Urteile
auch alle seine amtlichen Stellungen und Würden. Indessen nahm
der inzwischen in England naturalisierte Libri das Urteil nicht ruhig
hin; erst 1861 lehnte das Gericht das von Libri beantragte Wieder-
aufnahmeverfahren endgültig ab und erledigte damit einen Fall,
der über ein Jahrzehnt heiß umstritten gewesen war. Libri ging in
seine Heimat zurück, er starb 1869 in Fiesole. Während seines
Aufenthaltes in London [1850—68] ließ er noch 16 oder 17 anonyme
Auktionen [durch Puttick & Simpson] und einige größere be-
nannte [duroh Sotheby] veranstalten; Wagenladungen von Büchern,
,, Libri Carrucci", auf den Markt bringend, deren Provenienz ein ge-
heimnisvolles Dunkel umgab. Viele Werke aus diesen berühmten
Libriauktionen haben später ihre Besitzer zu hohen Preisen ge-
wechselt, obwohl Libri im Interesse des Geschäftes vielfach die Ver-
fälschung von Büchern zu einer Spezialität ausgebildet, zahlreiche
^,unbekannte Ausgaben" aus mehreren Ausgaben eines Werkes zu-
sammengestellt und sogar manche neue Provenienz geschaffen hatte.
Neben der Gestalt Libris, die zur Inkarnation des Diebes und Fäl-
schers wurde, den die Bücherliebhaberei führte oder verführte, er-
scheinen die beiden Mörder und Räuber aus Bücherwut, die seine
Zeitgenossen waren, armselig; obschon man den deutschen Pfarrer
Tinius und den spanischen Mönch Don Vincente als die Biblio-
manenungeheuer anzusehen sich gewöhnt hat.
Johann Georg Tinius, 1764 im Flecken Stanko in der Nieder-
lausitz auf einer preußischen Domäne als der Sohn eines armen
Schäfers geboren, aber dank seiner ungewöhnlichen Begabung von
507
BIBLIOMANEN
vielen gefördert, besuchte wie es seine Autobiographie schildert, die Uni-
versität Wittenberg und wurde 1798 Pfarrer zu Heinrichs in Thüringen,
1809 in Poserna bei Weißenfels. Über den menschenscheuen Mann, der
zweimal verheiratet war, vier Kinder hatte und ein musterhaftes
Familienleben führte, waren bis zum 4. März 1813 nur günstige Ur-
teile zu hören gewesen: als er an diesem Tage mit Genehmigung des
Konsistoriums verhaftet wurde, war er durch einen Magister St.
in B. schon am 17. Februar 1813 von den gegen ihn erhobenen An-
schuldigungen und den Maßnahmen der Gerichtsbehörden in Kennt-
nis gesetzt worden, ohne daß er die Beweisstücke, die ihn später
eines Raubmordes und Raubmordversuches überführten, beseitigt
hätte. Am 28. Januar 1812 um 10 Uhr vormittags war ein wohl-
habender Leipziger Kaufmann Schmidt, der in der Grimmaischen
Gasse wohnte, von einem Fremden, der den alten Herrn zu einer ge-
schätflichen Unterredung aufgesucht hatte, durch eine ihm an-
gebotene Prise betäubt und dann so schwer am Kopfe verletzt
worden, daß er am 6. April starb. Der Mörder hatte 3000 Taler in
Obligationen erbeutet, die er noch am selben Vormittage in einem
Bankgeschäfte umwechselte, wobei er ruhig über eine halbe Stunde
im Kontor blieb; ja sogar noch einmal zurückkehrte, um sich über
den Verkauf eine Quittung ausstellen zu lassen. Die Nachforschungen
nach dem Verbrecher blieben damals vergeblich. Am 8. Februar
1813 wurde Leipzig wieder durch die Kunde eines gleichen Ver-
brechens erschreckt: die Witwe Kunhardt war bei Überreichung
eines Bittbriefes überfallen worden, sie erlag schon am 10. Februar
ihren schweren Verletzungen, die denen Schmidts glichen. Die Ab-
sicht der Raubes hatte diesmal Tinius nicht verwirklichen können:
er war während der Tat gestört worden und hatte flüchtend auf der
Treppe die Magd seines Opfers, die er von früher kannte, ange-
sprochen. Die Untersuchung führte im März 1814 zur Eröffnung des
Kriminalprozesses, aber erst 1823 kam es zur entscheidenden Verur-
teilung, da viele formale Schwierigkeiten — Poserna war damals
gerade preußisch geworden, und Verdunkelungs versuche durch
Tinius, der Zeugen brieflich zum Meineide verleiten wollte, und
immer neue gegen ihn erhobene Beschuldigungen — wie diese, daß
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I
BIBLIOMANEN
er verschiedene Male in Postkutschen ähnliche Überfälle durch
Anbieten seines betäubenden Schnupftabaks eingeleitet habe —
die Untersuchung erschwerten. Auf die Beziehung des Pfarrers
von Poserna zum Morde des Kaufmanns Schmidt war das Gericht
erst durch Briefe des Mörders aufmerksam geworden; daneben hatte
sich ergeben, daß er auch Kirchengelder unterschlagen hatte. Das
endgültige Urteil lautete auf zwölf Jahre Zuchthaus, eine milde
Erkenntnis, die wohl lediglich durch das stete Leugnen des Tinius
und manche Lucken im Indizienbeweis veranlaßt war« Schon am
31. März 1814 war Tinius öffentlich in der Nikolaikirche zu Leipzig
durch den Superintendenten Rosenmüller feierlich seines Amtes
entkleidet worden. Die Rede bei der Amtsentsetzung erwähnte
ausdrücklich, daß Tinius durch seine Büchersucht zu Ausgaben
veranlaßt worden wäre, die seine Einnahmen bei weitem über-
stiegen hätten. [Die Bücherei des Verbrechers, rund 17000 Bände,
kam am 5. November 1821 in Leipzig zur gerichtlichen Verstei-
gerung.] Tinius selbst hat seine Verbrechen niemals eingestanden,
ruhig und ohne Reue hat er seine Strafe verbüßt, in seinen Muße-
stunden eine Untersuchung über die Offenbarung Johannis schrei-
bend. [Seine stupende Gelehrsamkeit, die vielfach bezeugt wird,
gab Anlaß zu der Legende, daß er im Gefängnis aus dem Ge-
dächtnis ein hebräisches Lexikon verfaßt hätte.] Als er 1835,
als angehender Siebziger, die Freiheit wieder erlangte, sah er sich
von allen gemieden. Seine Familie hatte sich von ihm losgesagt,
seine frühere Gemeinde setzte zu seinem Lebensunterhalt nur 25
Taler jährlich aus. So fristete er bis zu seinem Tode ein ruhe-
loses Wanderleben, 1846 starb er in dem Kirchdorfe Graebensdorf
bei Königswusterhausen, wo er seit 1840 lebte. Oft und viel be-
dauerte er den Verlust seiner Bücherei, wie er auch unbefangen von
seinem Prozesse redete. Jedenfalls sind manche Widersprüche dieses
Prozesses noch nicht gelöst, die vielleicht mehr Klarheit über den
Charakter des Mannes geben könnten, der nicht als BibUophile son-
dern als Märtyrer sich verteidigte; wie er denn in einem Briefe aus
Zeitz vom 2. Januar 1841 schrieb: „Welche Wege der Prüfung
ich gemacht habe, wird die in diesem Jahre noch erscheinende Ge-
509
BIBLIOMANEN
schichte meines Krimialprozesses offenbaren. Seit sechs Jahren lebe
ich hier in Zeitz kümmerlich von der Schriftstellerei, wobei die
Buchhändler die Körner und ich die Spreu bekomme; denn die mir
im hiesigen Landarmenhause angewiesene Versorgung kann ich,
ohne bald jenseits versorgt zu werden, nicht annehmen/' Eine Brief-
stelle, die insofern interessiert, als sie auch auf die noch nicht hin-
reichend bekannte spätere schriftstellerische Tätigkeit des Tinius
verweist, den einen Bibliomanen zu nennen in jedem Falle seiner
Schuld oder Unschuld kein Anlaß vorliegt. Denn er beging seine
Verbrechen nicht der Bücher, sondern des Geldes wegen, um sich
aus seinen Zahlungsschwierigkeiten zu befreien.
Der Bibliomane, der der Bücher wegen mordete, war ein Wahn-
sinniger, ihn mag man als das Schreckbild der Bücherwut zeichnen:
Don Vincente, Padre im Kloster Pöblet bei Tarragona. Als die
reiche Klosterbücherei, das Geschenk eines der letzten Könige von
Aragonien, während der Regentschaft der Königin Christine von
Bourbon geplündert wurde, hatte Don Vincente die Gelegenheit be-
nutzt, für sich zahlreiche Bücher zu gewinnen, indem er den Plün-
dernden andere Schätze verriet, die mehr nach ihrem Sinne waren.
Mit seinem Raube wurde er Buchhändler in Barcelona, freilich ein
Antiquar eigener Art. Niemals Bücher lesend, fand sein bibUo-
manischer Geist den Inhalt seines Lebens darin, auf der Außen-
seite der Bände umherzuirren. Während er geringe Ausgaben ver-
kaufte, um kümmerlich sein Leben zu fristen, trennte er sich niemals
von seinen Bücherkostbarkeiten. Ein paarmal zwang ihn die Not
dazu. Um wieder in den Besitz des notgedrungen verkauften Exem-
plars zu gelangen, schreckte er vor keinem Gewaltmittel zurück;
auch einige Morde aus diesem Motive gestand er in der Gerichts-
verhandlung ein, die ihn wegen seiner letzten Schreckenstat unschäd-
lich machte. Man hatte um die Mitte des Jahres 1836 die hinter-
lassene Büchersammlung eines Advokaten versteigert, die auch den
als Unikum angesehenen Druck des Lamberto Palmart : Fürs e ordina-
cions fetes par los glorioses reys de Aragon als regnicols del regne de
Valencia. Valencia : 1482, enthielt. Und dieses Buch hatte, Don Vin-
cente, dessen Mittel nicht ausreichten, überbietend, ein alter Buch-
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BIBLIOM ANEN
händler und Straßengenosse des Bibliomanen, Augustino Patxot,
ersteigert. Nach dem für ihn katastrophalen Ereignisse zeigte Don
Vincente bereits im Auktionslokale Symptome des Wahnsinns, die
aber damals wohl kaum beachtet wurden. Erst nach einer Woche,
in der neun angesehene Männer ermordet, aber nicht beraubt
worden waren, die, wie man später feststellte, in dieser Woche den
Laden Patxots aufgesucht hatten, und nachdem Patxot selbst schon
vorher bei einem nächtlichen Brande seines Hauses umgekommen
war, erinnerte man sich wieder an Don Vincente. Eine Haussuchung
bei ihm, in der er mit großem Stolz dem Corregidor die Ordnung
seiner Bibliothek erläuterte, ließ den Untersuchungsrichter durch
einen Zufall das listig versteckte, unglückselige Buch entdecken, das
die Ursache des Todes von* zehn Menschen geworden war. Don
Vincente wurde verhaftet und gestand, nachdem eine genauere Unter-
suchung seiner Bibliothek Beweise für seine früheren Mordtaten
'geliefert hatte; aber erst, nachdem er die formelle Versicherung
erhalten hatte, daß seine Bibliothek nicht zerstreut werden würde.
Er erklärte, daß er in der guten Absicht gehandelt habe, unersetz-
liche Schätze der Wissenschaft zu erhalten und wiederholte mehr-
mals, daß man mit ihm machen möge, was man wolle; nur dürfe
man nicht die Wut über seine Missetaten an den unschuldigen
Büchern auslassen. Auch hob er hervor, daß er seinen Opfern, soweit
es noch möglich war, die Absolution erteilt hätte, bevor er ihnen die
Beute, das von ihm verkaufte wertvolle Buch, entriß. Die Menschen
müssen alle früher oder später sterben, meinte er, das sei gleich, aber
die guten Bücher müsse man erhalten, denn sie seien der Ruhm
Gottes. Der Verteidiger Don Vincentes suchte ihn mit dem Ein-
wände zu retten, daß man einen augenscheinlich Wahnsinnigen
nicht zum Tode verurteilen dürfe, da die Indizien nicht ausreichend
seien; es gäbe von allen vorgefundenen Büchern mehrere Exemplare,
auch von dem angeblichen Unicum befände sich ein zweites Exem-
plar in einer großen Pariser Bibliothek, wie einer der Zeugen nach-
weisen könnte. Als diese bibliographische Feststellung unzweifel-
haft geworden war, packte Don Vincente die Verzweiflung, der bis
dahin Ruhige beklagte bis zu seiner Hinrichtung, er wurde noch
511
BIBLIOMANEN
1836 garottiert, laut sein Unglück, indem er wieder und wieder die
Worte wiederholte: Mein Exemplar ist kein Unicum, mein Exem-
plar ist kein Unicum.
Mit dem Bekenntnis der Bibliophilie, die guten Bficher müßten
erhalten werden, hat sich der unglückselige Bibliomane loben, nicht
verteidigen wollen. Da tritt dann die Grenzlinie zwischen der Biblio-
philie und der Bibliomanie am deutlichsten hervor, die sich auf das
einfachste erkennen läfit, wenn die Meinung recht hat, der Biblio-
phile sei der Herr, der Bibliomane der Knecht seiner Bücher. Sie
läßt die Buchfreunde und Büchersammler nach Verdienst und
Würden messen.
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i
INHALT
I. Abendländische Buchhandschriftenzeit 1
II. Italien 39
III. Frankreich 87
IV. Spanien, Belgien, Holland 199
V. Deutschland 221
VI. Slavien und Skandinavien 364
VII. England 379
VIII. Autogrammkollektionen 478
IX. Bibliomanen 499
A
J
•V7
v^
AMf
MAY 1 - 1941